In seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „HHhH. Hitlers Hirn heißt Heydrich“ (2011) erzählt Laurent Binet die Geschichte des Prager Attentats vom 27. Mai 1942 auf Reinhard Heydrich, SS-Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Der französische Romancier setzt den tschechoslowakischen Widerständler*innen ein literarisches Denkmal und hält sich grosso modo an die historischen Fakten. Er spricht aber auch über den Film „Vaterland“, der in den 1960er Jahren in Deutschland spielt, wo Hitler immer noch herrscht. Der Krieg mit Russland dauert an, der Rest Europas befindet sich unter Nazi-Herrschaft und in den Beziehungen mit den USA herrscht gerade Tauwetter. Der Film basiere auf dem Prinzip „Was wäre, wenn…?“ und konstruiere eine historische Alternative. So etwas nenne man eine „Uchronie“, meint der Autor.

Ähnlich verhält es sich mit Binets zweitem ins Deutsche übersetzten Roman „Die siebte Sprachfunktion“ (2017). Der Philosoph und Sprachwissenschaftler Roland Barthes wird im Frühjahr 1980 auf dem Heimweg von einem Essen mit dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Soweit die Fakten. In Laurent Binets Roman ist alles ganz anders. Barthes wurde Opfer eines Anschlags, weil er mutmaßlich im Besitz eines Manuskriptes des russischen Semiotikers Roman Jakobson über eine siebte Sprachfunktion gewesen sei, die bloße Behauptungen in reine Wahrheit verwandle. Hinter diesem Manuskript waren Intellektuelle, Politiker und vor allem Geheimdienste seit langem her. Damit beginnt ein spannendes und amüsantes Verwirrspiel im Milieu der (realen) französischen und internationalen Linguisten und Poststruktualisten von Michel Foucault über Umberto Eco bis zu Noam Chomsky.

Zur vollendeten uchronischen Meisterschaft bringt es Binet aber in seinem neuen Roman „Eroberung“. Darin geht er solchen Fragen nach: Was wäre, wenn die Wikinger vor 1000 Jahren bis ins südliche Amerika weitergesegelt, Kolumbus und Konsorten nie nach Europa zurückgekehrt wären und die Inka stattdessen den „neuen Kontinent Europa“ erobert hätten? Der Roman besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil, „Die Saga von Freydis Eriksdottir“, gelangen die Protagonistin, Tochter von Erik dem Roten und Halbschwester von Leif Eriksson, und ihre Mitreisenden von Island und Grönland nicht nur nach Neufundland, sondern bis nach Kuba und Yucatán. In Chichén Itzá werden sie von den Mayas versklavt. Sie erlangen die Freiheit, weil Freydis ihnen zeigt, wie ein Pferd mit eiserner Pflugschar den Ackerbau erleichtern und den Ertrag steigern kann. Die Grönländer*innen lernen Sternkunde und Grundkenntnisse der Mayaschrift. Der Kulturaustausch findet ein Ende, als die ersten Maya sterben. Freydis drängt zur Flucht, weil sie befürchtet, die Maya könnten dahinterkommen, dass die Grönländer*innen ihnen die Seuche gebracht haben. Sie gelangen nach Panama, wo sie Sümpfe durchqueren, „Wälder dicht wie Wollfilz“, kommen an die Pazifikküste, wo sie Flöße bauen und südwärts segeln. In Lambayeque und Cajamarca vermischen sie sich mit den Einheimischen, die die Ankömmlinge für Abgesandte der Götter halten. Wegen ihrer Kenntnisse im Schmieden von Eisen erwerben sich die Wikinger*innen herausgehobene gesellschaftliche Stellungen. Weil sie von der auch hier auftretenden Seuche verschont bleiben, festigt sich bei den Einheimischen die Vorstellung, sie seien göttlichen Ursprungs. Nach Unwettern verlassen sie das Land und ziehen bis an den Titicacasee, „doch diese Sage hat keine weitere Bedeutung, denn niemand weiß mit Gewissheit, was danach geschah“.

Der zweite Teil, „Fragmente aus dem Tagebuch des Christoph Kolumbus“, ist nicht weniger episch angelegt. Hier erleben wir die spanischen Eroberer aus den Geschichtsbüchern: Auf Hispaniola entführen sie Indigene, gieren nach Silber und Gold, legen Städte an, vergewaltigen, versklaven und verbrennen „Ungläubige“ auf Scheiterhaufen. Doch die Opfer begehren auf, widersetzen sich den Eroberern und kapern deren Schiffe. Ein einfältig anmutender Kolumbus spricht von der Arglist der Indigenen: „Wer hätte derlei Heimtücke von Menschen erwartet, die nackt herumliefen?“ Deren Protagonist*innen sind die historischen Gestalten Behechio und Caonabo, dessen Ehefrau Anacaona und die Tochter Higuenamota. Als die Spanier ein Massaker anrichten, werden sie von den Einheimischen getötet. Allein der Tagebuch schreibende, sich in Indien wähnende Kolumbus bleibt bei Anacaona und Higuenamota, denen er von Spanien, dem christlichen Glauben erzählt. Außer diesen Geschichten bleiben den Einheimischen die Karavellen der Spanier.

Im dritten Teil, „Die Atahualpa-Chroniken“, wechselt die Perspektive. Binet erzählt aus Sicht der Inka. Zu Beginn steht der kriegerische Konflikt zwischen Atahualpa, der in Quito residiert und den Norden des Reiches Tahuantinsuyo beherrscht, und seinem Bruder Huascar, der in Cuzco regiert. Atahualpa muss nach Norden ausweichen, gelangt mit seinem Heer über den Isthmus ins Reich der Anacaona. Die Quiteños treten nicht als Eroberer, sondern als Geflüchtete auf und erbitten „unterwürfigst Asyl bei den Taínos“, die übrigens auch Thor huldigen, „dieser Nebengottheit, deren Herkunft im Dunkeln“ liegt.

Die Inka lassen es sich gut gehen in der Karibik. Sie vermischen sich mit den Einheimischen, manche laufen nackt herum, während die Taínos Spaß daran haben, die Gewänder der Quiteños anzulegen. Doch Huascar landet auf Jamaika und sorgt für ein Ende des Idylls. Abermals begibt sich Atahualpa auf die Flucht, dieses Mal Richtung Osten. Higuenamota, die als Kind die Sprache der Eindringlinge aus dem Osten gelernt hatte, bringt sie auf die Idee: Was die am Strand verrottenden Karavellen in die eine Richtung geleistet hatten, würden sie auch in die andere Richtung schaffen, man müsse sie nur ausbessern oder nachbauen, schließlich führe der Inka die besten Zimmerleute aus Quito mit sich.

Higuenamota begleitet Atahualpa auf die Reise. Sie hatte ihr ganzes Leben nicht aufgehört, „an das wundersame Land zu denken, aus dem die blasshäutigen Männer damals gekommen waren“. Mit ihr hat der Inka eine Dolmetscherin an der Hand. Nach Wochen gelangen sie in eine „Neue Welt“, erreichen das gerade von einem Erdbeben zerstörte Lissabon. Dort treffen sie auf eigenartige „Typen“: „in Braun und Weiß gekleidete Männer, oben auf dem Kopf rasiert, kniend, die Hände aneinandergelegt und die Augen geschlossen, damit beschäftigt, kaum hörbare Laute zu murmeln“. Als die Mönche des Hieronymus-Klosters die Ankömmlinge erblicken, „stoben sie […] in alle Richtungen davon wie aufgescheuchte kleine Cuys (Meerschweinchen, in Peru eine Delikatesse – die Red.) und stießen gellende Schreie aus“.

Hier fällt den Inka erstmals die „Skulptur eines ausgemergelten Mannes“ am Kreuz auf. Sie erkennen, dass es sich um „eine lokale Gottheit“, den „Angenagelten Gott“ der Einheimischen, handelt. In dessen Namen passieren später in Toledo die unglaublichsten Dinge. Die Quiteños verfolgen ein Autodafé und andere Riten eines religiösen Wahns. Sie entgehen knapp dem Scheiterhaufen. Eine konvertierte Jüdin verrät ihnen, dass die Heilige Inquisition plane, sie als Mauren oder Ketzer zu verbrennen. Atahualpa befiehlt einen blutigen Gegenschlag, denn „sie waren Huascar nicht entkommen, sie hatten nicht den Stürmen getrotzt, um am Ende wie Cuys am Spieß gebraten oder wie behaarte Wilde erdrosselt zu werden“. Dann erlässt er ein Dekret, wonach „Conversos, Juden, Morisken, Lutheraner, Erasmianer, Sodomisten (sic!) und Hexen ab sofort unter seinem Schutz“ stehen.

In diesem zentralen dritten Teil kommen viele historische Persönlichkeiten Europas aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor: der bald entmachtete Karl V., sein Sohn Philipp, der als Kind ermordet wird, Heinrich VIII., der die Religion der Inka annimmt und Klöster durch Bordelle ersetzt, Anton Fugger, der Atahualpa mit Krediten finanziert, Luther, der das Opfer aufständischer Bauern wird, oder François Ier, der als Blutopfer auf einer Pyramide im Hof des Louvre endet. Schließlich landen die Mexikaner bald in der Normandie. Sie verbünden sich mit den Inka gegen Frankreich. Atahualpa findet schließlich den Tod im Palazzo della Signoria in Florenz und endet als einbalsamierter Leichnam in der Kathedrale von Sevilla.

Der letzte Teil, „Cervantes‘ Abenteuer“, berichtet aus der Perspektive der Europäer*innen. Hier erleben wir den jungen Miguel, der auf einer Pilgerreise auf El Greco trifft, mit dem er nach einigen Abenteuern über Florenz nach Venedig gelangt. Im Golf von Lepanto nehmen sie an einer gigantischen Seeschlacht teil, in der eine türkisch-österreichische Flotte eine inka-spanische, mexikanisch-französische Armada besiegt. El Greco und Cervantes werden als Sklaven nach Algier gebracht und nach Spanien verkauft, von wo aus sie schließlich nach Kuba gelangen. Hier endet die unterhaltsame Alternativgeschichte.

Laurent Binets kontrafaktische Geschichten sind höchst amüsant und humorvoll, ein wahrer Lesegenuss. Der Autor hinterfragt und dekonstruiert unsere hegemoniale Weltsicht. Sein kurzweiliger Roman kann als eine Kampfansage an den eurozentrischen Blick auf die Weltgeschichte gelesen werden. Geschichte und Begriffe werden auf den Kopf gestellt. Europa ist der Orient und zugleich die Neue Welt, die Alte Welt ist die der Inka und Azteken, die über die Verschrobenheit der von ihnen Entdeckten und Eroberten immer wieder den Kopf schütteln.