„Musik- und Videoclips sind heutzutage unsere Seismographen. Sie zeigen uns, was denkbar und machbar ist. Sie sind direkte, dringliche, leidenschaftliche, ungeschliffene und manchmal fragile Visionen einer Neuen Welt.“ Mit dieser Idee starteten die MacherInnen des schweizbasierten Norient-Netzwerkes einen call for videoclips. MusikerInnen, DJs, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen, die mit dem Netzwerk für globale und lokale Sounds zusammenarbeiten, sollten ihre fünf aktuellen Lieblingsvideos aus ihren Ländern schicken. Aus den 2000 eingesandten Clips kristallisierten sich sechs Oberbegriffe heraus, die akute Themen widerspiegeln: Geld, Einsamkeit, Krieg, Exotika, Begehren und Zugehörigkeit. Eine geniale Idee.
Diese Oberthemen bilden auch die Struktur des neuen Norient-Werkes, das gerade erschienen ist. Auf 504 (!) Seiten kommentieren nun JournalistInnen, BloggerInnen, KünstlerInnen und Fachleute aus 50 verschiedenen Ländern die 24 Musik-Clips, die für den Band ausgewählt wurden. Hinzu kommen thematisch passende Interviews, persönliche Statements, Fotoreihen, Songtexte, Coverart, hauptsächlich auf Englisch, aber einige Beiträge auch auf Deutsch, einer auf Französisch. Der methodische und theoretische Ansatz der Norient-MacherInnen, mit vielen Leuten zusammenzuarbeiten, ist anspruchsvoll, zugleich pragmatisch. Schließlich werden wir heute überflutet von neuen Tracks, Clips, Sounds, Trends, Subgenres. Wie soll das alles gehört, verdaut und einsortiert werden? Gut dass das Netzwerk auf der ganzen Welt seine Seismographen hat und uns somit einen privilegierten Zugang zu musikalischen und ästhetischen Welten eröffnet, die wir ansonsten im algorithmisch-gleichmacherischen Irrgarten des Internet wohl nie aufgespürt hätten. Wie schon im 2013 erschienenen ersten Norient-Buch (siehe Artikel „Da gibt es kein Zurück“ in der ila 363) sind die allermeisten Beiträge äußerst erfrischend, erhellend und inspirierend.
Aus Lateinamerika werden vier Videos vorgestellt und kommentiert. Im Oberkapitel „Krieg“ begegnen uns die ersten Latinos aus – natürlich! – Mexiko. Die legendären Tigres del Norte, die seit Jahrzehnten die für Nordmexiko typische Corridomusik spielen und zwischenzeitlich auch als arge Narco-Apologeten unterwegs waren, haben im Jahr 2014 das gewaltkritische Video La Bala veröffentlicht. Das Video erzählt in klassisch mexikanischer Melodramamanier eine Familiengeschichte und dient als Statement der weise gewordenen Tigres gegen die ausufernde, alle sozialen Beziehungen zerfressende Gewalt in Mexiko. „Zahnlos und zahm“, so das Urteil des mexikanischen Musikers Jorge Verdin in seinem Kommentar zum Video.
In der Sektion „Exotika“ treffen wir auf die großartige französisch-chilenische Rapperin Ana Tijoux, die zusammen mit der britisch-palästinensischen Sängerin Shadia Mansour ein musikalisches Statement gegen die Vorherrschaft des Nordens setzt und eine gemeinsame Identität des Südens beschwört.
Ein Clip aus Brasilien, der aufgrund eines knapp bemessenen Budgets von 45 verschiedenen RegisseurInnen gedreht wurde, wird uns im Reich des „Begehrens¡ präsentiert. Für den Dreh von Picolé der Band Bonde de Rolê steuerten die beteiligten RegisseurInnen je ein bis fünf Sekunden lange Szenen bei. Die einzige Vorgabe: Eis am Stiel sollte drin vorkommen. Das Ergebnis fällt erstaunlich homogen aus: feucht-klebrige, phallozentrische Phantasien überwiegen in dieser Collage. Jungskram.
Das Video Nunca tendremos mar der bolivianischen Rockband Gato diablo in der Sektion „Zugehörigkeit“ ist für das nationale Trauma Boliviens eine ungemeine Provokation: „Wir werden niemals Meer haben!“ Dabei trauert doch ganz Bolivien seit über 150 Jahren dem im Pazifikkrieg an Chile verlorenen Zugang zum Meer nach! Seit 2013 gibt es in Bolivien einen Premio Plurinacional Eduardo Abaroa (benannt nach einem Helden aus dem Pazifikkrieg), den letztes Jahr eine bolivianische Allstarformation mit ihrem Titel Las Playas del Futuro („Die Strände der Zukunft“) gewann. Bei so viel Affirmation kann man ja nur eine Gegenposition einnehmen. Höchst effektvoll und amüsant sind in dem ketzerischen Clip von Gato Diablo auch die B-Movie-Monster-Sequenzen, die gegen Szenen aus dem bolivianischen Kinoklassiker Ukamau geschnitten werden.
Die Beiträge zu Lateinamerika sind in dem neuen Norient-Buch wie gesagt überschaubar; wer sich aber auch für andere musikalische Regionen und Trends interessiert, kommt hier voll auf seine Kosten: Frische west- und südafrikanische Sounds, künstlerische Positionen aus dem umkämpften Nahen Osten, serbischer Hiphop aus dem Romaghetto, feministische Analysen von Twerking und Bouncing (den Tanzbewegungen, deren Dreh- und Angelpunkt der Hintern ist), oder etwa die Hintergründe zum Video-Dreh des Riesenhits Formidable von Belgiens Superstar Stromae – das sind nur wenige Highlights aus der Fülle von anregenden Beiträgen. Wir freuen uns auf und über die kommenden Erschütterungen, die Hits und Undergroundtrends der Zukunft, präsentiert von Norient.