Die Konstruktion einer Unkrise

Wie weit tatsächliche Gewalt und subjektive Wahrnehmung von Unsicherheit auseinanderklaffen können, zeigt das Beispiel Nicaragua. Obwohl die Mordrate in Nicaragua mit durchschnittlich 15,1 Tötungen pro 100 000 EinwohnerInnen durchaus sehr hoch ist, herrscht im Land meist die Annahme, dass Gewalt kein großes Problem sei. Diese Einschätzungen ergeben sich meist aus den medial vermittelten Bildern aus den Nachbarstaaten Honduras, Guatemala und El Salvador, deren Mordraten tatsächlich zwei bis dreimal höher sind. Doch auch in Staaten mit vergleichbaren Homizid- und Gewaltraten dominieren andere Diskurse über Unsicherheit.

Oettler versucht in ihrer 2009 erschienenen Studie nicht das Ausmaß der Gewalt rein über die (oft unzureichende) Datenlage nachzuzeichnen. Stattdessen hinterfragt sie mit einer kritischen Diskursanalyse Konstruktionen sozialer Wirklichkeit und (Un-)Sicherheitslagen. Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, „welche Bilder der sozialen Wirklichkeit in nicaraguanischen Öffentlichkeiten über die Auseinandersetzungen mit Gewalt, Kriminalität und Unsicherheit produziert werden“ (S. 18). Aus vielen Staaten kennen wir den Mechanismus als Mittel von Militarisierung und Herrschaft ein Gefühl der Unsicherheit zu schüren sowie Angst hervorzurufen. Im Gegensatz dazu wird in Nicaragua von den Eliten eine „Unkrise der Gewalt“ konstruiert. Wie dieser hegemoniale talk of crime zustande kommt und von wem er getragen wird, zeigt Oettler in ihrem Buch.

Die Komitees zur Sandinistischen Verteidigung sorgten nach der Revolution 1979 für selbstorganisierte Sicherheit. Euphorische Beschreibungen von Sicherheit ohne Raub und Kriminalität schufen in dieser Zeit einen Mythos, der in Teilen der (sandinistischen) Elite bis heute fortlebt. Auch die auflagenstärkste Tageszeitung La Prensa trägt in ambivalenter Weise zum Mythos eines sicheren Nicaragua bei. Einerseits wird kritisiert, dass die Justiz kriminelle Netzwerke nicht kontrolliere, andererseits jedoch das Bild der funktionierenden Justiz bei „gewöhnlichen“ Gewaltverbrechen vermittelt. Eine materielle Einordnung der Interessen der jeweiligen Akteure wird nur am Rande getroffen.

Methodisch zeichnet sich die Studie Oettlers durch eine qualitative Auswertung von 78 Aufsätzen von Schulkindern und etlichen Interviews aus, anhand derer die unterschiedlichen Wahrnehmungen sozialstrukturell eingeordnet werden können. Dieses empirische Material, welches im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Öffentlichkeiten und Gewalt in Zentralamerika“ gewonnen wurde, bildet den Kern der Studie. Insgesamt spielt der Themenkomplex Gewalt, Kriminalität und Sicherheit eine untergeordnete Rolle, wenn danach gefragt wird, wo politischer Handlungsbedarf besteht. Privilegierte SchülerInnen nennen diese Themen aber noch wesentlich seltener als politische Prioritäten als SchülerInnen aus der Unterschicht. Sie haben weniger konkrete Gewalterfahrungen gemacht und fühlen sich sicherer. Diese Unterschiede werden von Oettler glaubhaft durch unterschiedliche lebensweltliche Erfahrungen, aber auch unterschiedliche diskursive Umfelder erklärt. Häufig sind Armut und fehlende Bildung die Ursachen von Drogenkonsum und Bandenwesen. Hier spiegelt sich ein gängiger Diskurs wider, demzufolge die größte Gefahr von Banden (den pandillas oder maras) ausgeht.

Diese diskursiven Versatzstücke finden sich auch bei den InterviewpartnerInnen wieder. Differieren die tatsächlichen öffentlichen Gewalterfahrungen nach sozialer Herkunft, so werden von der Verkäuferin bis zum Millionär einhellig männliche Jugendliche ohne ökonomische Perspektive als gefährlich sowie als potentielle Täter eingeschätzt. Das Bild, das von diesen Banden herrscht, ist bei den meisten Interviewten jedoch diffus. Die Ursachen von Gewaltverhältnissen werden nur sehr selten erwähnt. Außerdem wird die Lage im jeweiligen sozialen Nahbereich sicherer eingestuft als in anderen Vierteln oder Ländern.

Fast gänzlich abwesend ist hingegen die Auseinandersetzung mit Gewalt im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, der Oettler ein Kapitel widmet. Vor allem häusliche Gewalt wird als Problem aufgezeigt. In den Interviews wird jedoch deutlich, dass keine tiefere Beschäftigung mit sexueller oder sexualisierter Gewalt stattfindet. Der Umgang mit diesem Problem wird hauptsächlich Frauen zugeschoben. Gewalt gegen Frauen wird von den Oberschichten zudem als Problem der Unterschichten und der ländlichen Bevölkerung angesehen.

Oettler macht die Relevanz des Nicht-Thematisierens von Gewalt im öffentlichen Diskurs als konstitutiv für die soziale Ordnung Nicaraguas überzeugend und spannend kenntlich. Der Mythos von Sicherheit kann – ebenso wie die Verteufelung und häufige Darstellung von Gewalt als Phänomen – verhindern, soziale Fragen zu stellen, und Gewaltverhältnisse verschleiern. Die ausführlichen Zitate aus den Interviews machen die Argumentation Oettlers gut nachvollziehbar und bieten eine umfangreiche Skizze des Diskurses um Gewalt.

Anika Oettler: Gewalt und soziale Ordnung in Nicaragua (erschienen 2009 in der Reihe „Studien zu Lateinamerika“ des Nomos-Verlags)