Bei der Frage nach der Verbindung von bildender Kunst und Politik werden manchen LeserInnen sicher zuerst die mexikanischen Muralistas einfallen, also Maler wie Diego Rivera (1886-1957), David Alfaro Siqueiros (1896-1974) und José Clemente Orozco (1883-1949), um nur die bekanntesten zu nennen. Deren wichtigste Medien waren nicht Leinwand und Papier (obwohl sie damit auch gearbeitet haben), sondern Mauern und Wände, auf denen sie ihre gigantischen Fresken schufen. Fast alle diese Wandbilder thematisieren historische und politische Konflikte, für ihre Autoren war die künstlerische Arbeit Teil ihres gesellschaftlichen Engagements. David Alfaro Siqueiros gründete 1922 die SOPTE Sindicato de los Obreros Técnicos, Pintores y Escultores (Gewerkschaft der Technischen Arbeiter, Maler und Bildhauer). Damit wollten er und seine Kollegen deutlich machen, dass sie sich als Teil der revolutionären Arbeiterbewegung verstanden. Ab 1924 gaben Siqueiros und Rivera, beides Mitglieder der verbotenen Mexikanischen Kommunistischen Partei (PCM) die Zeitung El Machete heraus, die zum inoffiziellen Organ der Partei wurde.
Das klare politische Bekenntnis vieler mexikanischer MalerInnen entsprang natürlich nicht einfach den Neigungen einiger kreativer Individuen, sondern wurzelte in den politischen Auseinandersetzungen jener Zeit.
1910 hatte die mexikanische Revolution begonnen. Deren ProtagonistInnen waren sich in der Ablehnung der Diktatur von Porfirio Díaz einig, hatten aber sehr unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Organisation der mexikanischen Gesellschaft. Die Folge war ein mindestens 15 Jahre währender Bürgerkrieg zwischen sozialrevolutionären und liberalen Kräften, in dem letztere die Oberhand behielten. Allerdings wurde der linke Flügel der Revolution, der für weitgehende sozialpolitische Veränderungen, allen voran eine Landreform, kämpfte, nicht völlig besiegt und verfügte im ländlichen und städtischen Proletariat, aber auch unter Teilen der Intellektuellen über eine breite Basis. Dazu gehörten nicht zuletzt viele wichtige MalerInnen, die mit ihren Werken das Bewusstsein für die sozialen Ungerechtigkeiten und die fortdauernde Diskriminierung der indigenen Bevölkerung schärften. Ihr Eintreten für eine mexikanische Gesellschaft, an der alle sozialen und ethnischen Gruppen partizipieren und die Vorherrschaft der USA abstreifen sollten, trug mit zur Entwicklung eines durchaus progressiven Nationalbewusstseins bei, dessen zentrale Inhalte Selbstbestimmung, Laizismus und soziale Inklusion waren.
1934 wurde der linksnationalistische Politiker Lázaro Cárdenas mit eben diesen Forderungen zum Präsidenten gewählt. Während seiner Amtszeit (1934-1940) überführte er die bis dahin von internationalen Konzernen kontrollierte Ölindustrie in das Eigentum des mexikanischen Staates, ebenso wie die Elektrizitätswerke und die Eisenbahn. Er betrieb eine aktive Sozialpolitik, setzte eine gemäßigte Agrarreform um und investierte viel in Bildung. Außenpolitisch verfolgte er einen dezidiert antifaschistischen Kurs. Seine Regierung unterstützte die spanische Republik gegen Franco und gewährte zahlreichen Flüchtlingen aus Nazideutschland Asyl.
Mit dieser Politik konnte sich ein Großteil der KünstlerInnen identifizieren. Viele der Muralistas nahmen Aufträge der Regierung an und beteiligten sich an deren bildungspolitischen Projekten. In neu errichteten Schulen, Universitäten und anderen öffentlichen Gebäuden schufen sie beeindruckende Wandbilder zur Geschichte Mexikos und Lateinamerikas, die bis heute BesucherInnen aus aller Welt anziehen. Stilistisch entwickelten die KünstlerInnen, die lange von der europäischen Moderne beeinflusst waren, eine ganz eigene Bildsprache. Bewusst griffen sie dabei auf Formen der Heiligen- und Freskenmalerei der katholischen Tradition zurück, die den MexikanerInnen, spezial auch jenen, die noch nicht lesen und schreiben konnten, vertraut waren. Gleichzeitig wollten sie so den Einfluss der katholischen Kirche zurückdrängen, indem sie den Menschen alternative Welterklärungsmodelle und Erlösungshoffnungen anboten, die in indigenen Traditionen und sozialistischen Utopien wurzelten.
Der Muralismus war nicht nur auf Mexiko beschränkt, es gab auch in anderen Ländern KünstlerInnen (überwiegend waren es Männer), die sich dafür interessierten und politisch-historische Wandgemälde schufen. Allerdings zeigten andernorts die Regierungen weniger Neigung, eine solche politische Kunst zu fördern und MalerInnen mit der Ausgestaltung öffentlicher Gebäude zu beauftragen. Dies sollte erst mit mit der zweiten erfolgreichen antioligarchischen Revolution, nämlich der bolivianischen im Jahr 1952, noch einmal in größerem Umfang möglich sein.
Wie die mexikanische wurde auch die bolivianische Revolution von Repräsentanten der städtischen Mittelschichten angeführt, die die Macht der Großgrundbesitzer und großen Minenunternehmen zurückdrängen wollten. Außerdem wollten sie die indigene Bevölkerungsmehrheit, die bis dahin von der Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte ausgeschlossen war, in den bolivianischen Nationalstaat integrieren, also ebenfalls ein auf Inklusion zielendes nationalistisches Programm, welches wie in Mexiko unvollendet blieb.
Allerdings folgte in Bolivien auf den revolutionären Umsturz kein langer blutiger Bürgerkrieg, sondern zwischen 1952 und 1960 zwei Regierungsperioden, in denen die Nationalistisch-Revolutionäre Bewegung MNR, die Partei der Revolution, eine Reihe progressiver Reformen durchsetzte, ehe sie sich zunehmend nach rechts entwickelte und mehrfach spaltete, bis schließlich 1964 das Militär putschte und mit kurzen Unterbrechungen fast 30 Jahren in verschiedenen Konstellationen an der Macht blieb.
Auch diese Revolution hatte einen linken Flügel, der anders als die bäuerlichen Armeen Zapatas und Pancho Villas in Mexiko nicht militärisch zerschlagen wurde, sondern in der Gewerkschaftsföderation Central Obrera Boliviana (COB) eine starke und schlagkräftige Organisation behielt, die vor allem in den Minenbezirken über großen Einfluss verfügte. Auch unter den städtischen Intellektuellen gab es viele, die mit sozialistischen Ideen sympathisierten und die Kommunistische Partei (PCB) oder die zeitweilig starke trotzkistische Revolutionäre Arbeiterpartei (POR) unterstützten.
Bereits in der vorrevolutionären Phase ab Anfang der 40er-Jahre hatte sich eine politische Wandmalbewegung entwickelt, deren wichtigste Repräsentanten Miguel Alandia Pantoja (1914-1975) und Walter Solón Romero (1923-1999) waren. Beide waren stark durch die mexikanischen Muralisten beeinflusst, Miguel Alandia von Diego Rivera und vor allem José Clemente Orozco, Walter Solón in erster Linie von David Alfaro Siqueiros.
Nach der Revolution beauftragte die Regierung die beiden Maler mit Wandbildern für öffentliche Gebäude, verstaatlichte Unternehmen, Universitäten oder das neu errichtete Arbeiterkrankenhaus in La Paz. Die Bergarbeitergewerkschaft FSTMB lud Miguel Alandia Pantoja ein, in ihrem neuen Gewerkschaftshaus ein Mural zu gestalten. Die Wandbilder der Muralistas zeigen Episoden aus der bolivianischen Geschichte, den Widerstand gegen den spanischen Kolonialismus, indigene Traditionen oder den Kampf um die Kontrolle über die nationalen Bodenschätze.
Hatten die MNR-Regierungen die Künstler mit solchen Fresken beauftragt, waren sie den späteren Militärdiktaturen ein Dorn im Auge. Schon 1965 ließ die Militärdiktatur von René Barrientos das erst 1961 entstandene 72 Quadratmeter große Wandgemälde Historia del Parlamento Boliviano von Miguel Alandia im Abgeordnetenhaus entfernen. Spätere Militärdiktaturen zerstörten drei weitere Murales. Während der Banzer-Diktatur (1971-1978) mussten beide Maler ins Exil gehen (vgl. die Beiträge von Pablo und Walter Solón in dieser ila).
Die bolivianischen Muralistas standen mit ihrer Arbeit ebenso wie mit ihrer späteren Verfolgungserfahrung in zwei Perioden der lateinamerikanischen Geschichte und seiner politischen Kunst, nämlich der desarrollistischen Phase der 50er- und 60er-Jahre, als in mehreren Ländern reformorientierte Regierungen unter staatlicher Führung den Aufbau einer nationalen Industrie förderten und dafür auch größere Investitionen im Bildungssektor und teilweise auch im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich tätigten, und der darauf folgenden Periode der repressiven Militärdiktaturen, in der die Ökonomien vollständig für das internationale Kapital geöffnet, die Arbeiterbewegung und linken Organisationen brutal verfolgt, die jungen sozialstaatlichen Ansätze weitgehend zerstört und die Bildungseinrichtungen finanziell ausgetrocknet wurden. Die Förderung einer eigenständigen Nationalkultur stand nicht mehr auf der Prioritätenliste.
Dieses politische Rollback war teilweise eine Reaktion auf den Aufbruch der 60er-Jahre, der in Lateinamerika durch die cubanische Revolution ab 1959 auf der einen und die internationale Rebellion der Jugendlichen, die gemeinhin mit der Jahreszahl 1968 assoziiert wird, auf der anderen Seite, stimuliert worden war.
Anders als die Umbrüche in Mexiko und Bolivien, deren soziale Forderungen bestenfalls teilweise erfüllt wurden, machten die cubanischen RevolutionärInnen ernst mit einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft, führten eine radikale Agrarreform durch, beseitigten in kurzer Zeit den Analphabetismus, demokratisierten die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln und Immobilien, sagten der Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung den Kampf an und proklamierten die Gleichberechtigung der Frauen (dass damit Rassismus und Sexismus längst noch nicht überwunden waren, steht auf einem anderen Blatt).
Die Kunst sollte eine wichtige Rolle im politischen Veränderungsprozess spielen. Engagierte MalerInnen und GrafikerInnen schufen Wandbilder und politische Plakate, organisierten Werkstätten, um Kinder und Jugendliche an die Kunst heranzuführen.
Weitaus stärker als ihre KollegInnen in Mexiko und Bolivien, wo die Muralistas durchweg links von den sie beauftragenden Regierungsinstitutionen standen, waren die cubanischen revolutionären KünstlerInnen angehalten, die Errungenschaften der Revolution heraus- und in leuchtenden Farben darzustellen, wodurch manche Werke – vor allem in den 70er-Jahren – ins Propagandistische abrutschten. Dass freilich das meiste, was in Cuba von Bildenden KünstlerInnen produziert wurde, keine Propaganda war, wurde der erstaunten Kunstwelt klar, als der inzwischen verstorbene Aachener Industrielle und Sammler Peter Ludwig in den frühen 90er-Jahren die cubanische Kunst für sich und den Kunstmarkt „entdeckte“ und damit einen internationalen Run auf cubanische Kunst auslöste.
In Lateinamerika beflügelte die cubanische Revolution vor allem in der Jugend die Hoffnung, überall auf dem Subkontinent die oligarchischen Herrschaftsverhältnisse überwinden, soziale Gerechtigkeit herstellen, die Vorherrschaft der USA und Europas abschütteln und die eigene Kultur stärken zu können. Besonders die Universitäten, zu denen durch die bildungspolitischen Reformen nun auch Jugendliche aus der unteren Mittelschicht und teilweise auch aus proletarischen und bäuerlichen Familien Zugang bekamen, wurden zu Zentren der politischen Aktion.
Künstlerische Ausdrucksformen spielten dabei eine wichtige Rolle. Studentische Theatergruppen brachten neue Stoffe auf die Bühne und experimentierten mit kollektiven Arbeitsformen bei der Konzeption und Inszenierung ihrer Stücke. Vielerorts entstanden in den Unis Wandbilder, die an historische Ereignisse oder ermordete KommilitonInnen erinnerten. Die Poesie, die in Lateinamerika traditionell einen größeren Stellenwert hat als im deutschsprachigen Raum, wurde politisch. Engagierte KunststudentInnen gestalteten Plakate und Transparente für Demonstrationen und Aktionen, die oft nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch revolutionär waren. Ein Höhepunkt der angstrebten Verbindung von revolitionärer Politik und Ästhetik war die Ausstellung Tucumán Arde (Tucumán brennt) im November 1968 in Rorario, wo KünstlerInnen die Verschlechterung der Lebensbedingungen in der argentinischen Provinz Tucumán thematisierten und die zahlreichen BesucherInnen zu (revolutionären) Aktionen aufriefen. Die anschließende Präsentation der Ausstellung in Buenos Aires wurde von der Polizei vereitelt.
Auch etablierte KünstlerInnen griffen die Themen der Protestbewegung auf und wurden umgekehrt von dieser begierig rezipiert. Als zwei in diesem Zusammenhang besonders wichtige Maler seien hier der Argentinier Antonio Berni (1905-1981) und der Ecuadorianer Osvaldo Guyasamín (1919-1989) genannt.
Berni stellte in seinen Arbeiten die sozial Benachteiligten der argentinischen Gesellschaft dar. Berühmt wurden vor allem seine Collagebilder, in denen er neben Farben Materialien verwendete, die die BewohnerInnen der Armenviertel für den Bau ihrer Behausungen benutzten, etwa alte Holzkisten, Lumpen, Altmetall, Blech, Flaschen, also das, was die Wohlhabenden auf den Müll warfen. Während Berni so die soziale Frage und die Abhängigkeit Lateinamerikas thematisierte, griff Guyasamín in vielen seiner Gemälde direkt politische Themen auf, im Mittelpunkt seiner Bilder standen stets die Opfer der Unterdrückung, geschundene, aber nicht gebrochene Menschen.
Die Motive Bernis und vor allem Guyasamíns fanden (und finden) sich auf zahlreichen Plakaten, Wandzeitungen, Flugblättern oder Wandbildern wieder.
Wie wir alle wissen, wurde der politische Aufbruch der 60er- und frühen 70er-Jahre blutig beendet. Die Militärdiktaturen, die sich in den 70er-Jahren fast überall an die Macht geputscht hatten, zerschlugen nicht nur die bewaffneten Guerillagruppen, die sich in vielen Ländern gebildet hatten, sondern verfolgten auch alle zivilen politischen und gewerkschaftlichen AktivistInnen. Zehntausende gingen ins Exil, viele derjenigen, denen die Flucht nicht gelang, fanden sich bald in den Kerkern, Folterzentren und Massengräbern der Diktaturen wieder. Auch dieses Leid wurde von KünstlerInnen thematisiert und angeprangert, am beeindruckendsten vielleicht im Werk von Osvaldo Guayasamín. In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten arbeitete der ecuadorianische Künstler an einem Projekt, das wie kaum ein anderes die Verbindung von Kunst und Politik symbolisiert, der Capilla del hombre, der „Kapelle des Menschen“ in Quito. Wie schon die mexikanischen Muralistas griff der erklärte Atheist Guyasamín auf eine christlich-katholische Form, nämlich eine Kapelle, zurück. Sie sollte aber nicht einem Gott geweiht sein, sondern den Menschen, die gegen Kapitalismus, Faschismus und Unterdrückung gekämpft haben. So ist die Capilla del hombre ein einzigartiges Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Europa, des antikolonialen Befreiungskampfes in Algerien, des Krieges in Vietnam und natürlich der sozialen Kämpfe und US-amerikanischen Militärinterventionen in Lateinamerika.
In Lateinamerika existiert eine strikte Trennung zwischen arte (Kunst) und artesanía (Kunsthandwerk). Artistas haben eine akademische Ausbildung absolviert (das gilt auch für die im Artikel genannten KünstlerInnen), während artesanos – so zumindest die Vorstellung – ihre Techniken und Fertigkeiten von ihren Eltern oder älteren KunsthandwerkerInnen abschauen. Artistas schaffen individuelle Kunstwerke, die in der Regel über Galerien verkauft werden (wenn es sich nicht um Auftragswerke handelt), artesanos stellen Serien von kunsthandwerklichen Produkten her und verkaufen sie auf Märkten an die lokale Mittelschicht und ausländische TouristInnen. JedeR, die/der schon einmal in Lateinamerika war, kennt die Artesanía-Märkte und hat dort wahrscheinlich auch kleine Keramikartikel, Bilder, Figuren oder Textilien erworben.
Natürlich ist tatsächlich vieles dieser Artesanía Massenware, die in Dörfern oder städtischen Hinterhofwerkstätten quasi manufakturell hergestellt werden. Aber es gab und gibt unter den Artesanos und Artesanas auch viele große KünstlerInnen, die eine eigene Bild- und Formsprache entwickeln und sich in ihren Arbeiten mit der sozialen Wirklichkeit auseinandersetzen. So haben in den Zeiten großer Repression in den letzten Jahrzehnten zunächst ambitionierte und politisierte Artesanos/as die Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung aufgegriffen und in ihren Werken verarbeitet.
Dazu einige Beispiele. In der peruanischen Provinz Ayacucho gibt es eine lange Tradition der Herstellung von retablos. Das sind kleine Altäre oder Schränkchen, die man aufklappt. In ihrem Innern sind mit kleinen Figuren (oft auf mehreren Ebenen) Szenen aus dem bäuerlichen Alltagsleben, Feste oder Weihnachtskrippen dargestellt.
In den 80er- und 90er-Jahren war Ayacucho das Zentrum des Konfliktes zwischen der maoistischen Guerillagruppe Sendero Luminoso und der peruanischen Armee. In diesem schmutzigen Krieg wurden sowohl von Sendero als auch von der Armee unvorstellbare Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung begangen, der unterstellt wurde, die jeweils andere Seite zu unterstützen. Während besonders die ländlichen Regionen Ayacuchos für BesucherInnen und JournalistInnen aus den peruanischen Städten und dem Ausland No Go Areas waren, lebten die bäuerlichen Artesanos/as weiter in der Region und wurden Zeugen der Massaker, Vergewaltigungen, Folterungen. Manche hatten den großen Mut, diese Gräueltaten in ihren retablos darzustellen. So verarbeiteten sie die kollektiven Gewalterfahrungen der indigenen Dörfer und schufen ebenso beeindruckende wie verstörende Kunstwerke. Einige von ihnen, wie etwa Edilberto Jiménez (vgl. ila 356), der bis heute in der Menschenrechts- und Erinnerungsarbeit aktiv ist, wurden international bekannt, ihre Arbeiten auf Ausstellungen präsentiert.
In Ecuador gibt es im Andenstädtchen Tigua, in dem fast alle EinwohnerInnen Artesanos/as sind, eine Tradition kleinformatiger, naiv anmutender Bilder, die auf dünnes Schafleder gemalt werden. In leuchtend bunten Farben werden darauf Szenen aus der andinen Landwirtschaft dargestellt, teilweise mit surrealistischen Elementen. Als sich in den 90er-Jahren die andinen Kleinbauern und -bäuerinnen in der Indígenakoordination CONAI zusammenschlossen und sich gegen verschiedene neoliberale Maßnahmen der Regierung in Quito wehrten, setzte letztere wiederholt Militär gegen die Landbevölkerung ein. Auch hier waren es Artesanos/as, wie die MalerInnen aus Tigua, die das Vorgehen und die Übergriffe der Militärs in den Dörfern, aber auch den entschlossenen Widerstand der Bauern und Bäuerinnen in ihren Bildern aufgriffen und darstellten.
Eine ganz eigene Form einer politischen Artesanía entstand nach dem Militärputsch in Chile, die Arpilleras. Als die Militärs Tausende politischer AktivistInnen festnahmen, trafen sich viele ihrer Angehörigen in der von der Erzdiözese Santiago eingerichteten Vicaría de la Solidaridad. Dort erhielten sie juristischen Beistand, psychologische Hilfe und konnten sich mit anderen austauschen, denen es ähnlich erging. Die Angehörigen waren nicht nur in großer Sorge um ihre inhaftierten oder „verschwundenen“ EhepartnerInnen oder Kinder, sondern oft auch in einer schwierigen ökonomischen Situation. Bei vielen hatten die Männer vor ihrer Verhaftung den größten Anteil zum Familieneinkommen beigetragen. Geld fehlte nun an allen Ecken und Enden. Aus Stoffresten begannen die Frauen, Bilder zusammenzunähen, um diese zu verkaufen und damit etwas Geld einzunehmen, aber auch um über die Taten der Diktatur zu informieren. Denn auf vielen dieser Arpilleras stellten sie ihre Repressionserfahrungen dar, wie Hausdurchsuchungen, Übergriffe der Militärs, die Verhaftung von Angehörigen oder Bekannten oder das, was sie bei ihren Besuchen im Gefängnis sahen. Zwar gab es in Chile und Peru eine gewisse Tradition derartige Stoffbilder, aber erst mit den Arbeiten dieser Frauen wurden sie zu einem politisch-künstlerischen Medium und international bekannt,
Denn die Bilder wurden auch von Solidaritätsgruppen in Europa und Nordamerika verkauft und dort vor allem als künstlerische Anklagen gegen den Staatsterrorismus in Chile wahrgenommen. Bald gab es in Galerien und Kulturhäusern die ersten Ausstellungen, die immer unter dem Motto „Solidarität mit Chile“ standen. Einige Solidaritätsbewegte und -gruppen begannen Arpilleras zu sammeln, um sie bei Veranstaltungen und Solidaritätsaktionen zeigen zu können.
Heute ist eine eindrucksvolle Ausstellung von Arpilleras im Museo de la Memoria in Santiago zu sehen. Bei einem Besuch dort hat es mich sehr berührt, auf einigen Begleittafeln den Herkunftshinweis „Colección Kinderhilfe Chile-Bonn“ zu lesen. Die Kinderhilfe war eine vor allem von Frauen getragene, sehr aktive Gruppe der Bonner Chile-Solidarität. Als sie sich vor Jahren auflöste, weil viele Mitglieder schon recht alt oder gesundheitlich eingeschränkt waren, stellte sie ihre Arpillera-Sammlung der chilenischen Menschenrechtsbewegung zur Verfügung. So kehrte sie nach Chile zurück und wird heute von vielen, vor allem jungen ChilenInnen, im Museo de la Memoria betrachtet.