Frau Brinkmann, könnten Sie etwas über Ihre Herkunft und Ihre Familie erzählen?
Ich wurde in Valdivia in Südchile als Kind deutscher Eltern geboren. Mein Vater war als Kind aus Deutschland nach Chile gekommen, meine Mutter kommt aus einer deutschstämmigen Familie, die schon seit mehreren Generationen in Chile lebt. Die Gegend um Valdivia ist eine Region, die um 1859 von Deutschen kolonisiert wurde und wo das Deutschtum – in Anführungszeichen – bis heute ziemlich stark zu spüren ist. Obwohl die Vorfahren, die damals Mitte des 19. Jahrhunderts ausgewandert sind, eher liberal eingestellt bzw. fortschrittliche Menschen waren, sind die Nachkommen, also die heutigen Deutsch-Chilenen, in ihrer übergroßen Mehrzahl sehr konservativ.
Wie lange haben Sie in Valdivia gelebt?
Bis 1962. Nach dem Abitur bin ich zum Studium nach Santiago gezogen. Ich habe dort an der staatlichen Universität Deutsch und Spanisch für das Lehramt studiert. Nach dem Abschluß ging ich zunächst zurück nach Valdivia und arbeitete dort ein Jahr als Lehrerin. Danach bekam ich vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ein Stipendium für ein Germanistikstudium in Deutschland. So kam ich 1968 nach Marburg, habe dort zunächst den Magister gemacht und danach promoviert.
Hatten Sie damals das Gefühl, in Ihr Mutterland zu gehen, oder fühlten Sie sich eher als Chilenin, die nach Deutschland kam?
Ich habe mich eigentlich immer als Chilenin gefühlt, zu dem Land gehörend, in dem ich aufgewachsen bin. Ich wollte nach Deutschland, um an der Universität weiterzustudieren. Ich hatte den Eindruck – den sicher viele in Chile hatten und möglicherweise noch haben –, daß man bei uns der europäischen Wissenschaft um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte, hinterherhinkte. Ich stellte dann allerdings in der Bundesrepublik fest, daß das nicht so war. Wir in Chile waren durchaus auf demselben Stand wie die Deutschen. In der Linguistik hatten wir dieselben Autoren behandelt, die auch in Marburg auf dem Plan standen. Das war für mich eine wichtige Erfahrung. Ich wollte nach meiner Rückkehr in Chile an der Universität arbeiten, um dort eben diese Erfahrung zu vermitteln: Wir müssen in Lateinamerika von diesem Gefühl der geistigen Unterentwicklung wegkommen und uns dessen bewußt sein, daß wir genauso fähig sind wie die Europäer.
Waren Sie bereits politisiert, als Sie 1968 aus Chile weggingen, oder fand Ihre Politisierung im Zuge der 68er-Bewegung hier statt?
Ich war in Chile nicht parteipolitisch aktiv, allerdings im gewissen Sinne schon politisiert. Während meines Studiums am Instituto Pedagógico in Santiago, d. h. der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile, war diese Fakultät als sehr fortschrittlich bekannt. 1964 gab es einen Wechsel in der Studentenvertretung. Nachdem sie lange Jahre von den Christdemokraten gestellt wurde, gewannen erstmals die Linken. Das brachte einen riesigen Aufschwung und viel Engagement und Begeisterung mit sich. Es waren sehr schöne Jahre, wo man versuchte, alles neu zu machen. Besonders im kulturellen Bereich wurde viel getan, Dichter wurden in die Universität eingeladen, Kunstausstellungen organisiert und vieles mehr. Über diese Bewegung, in der ich mich – mitgezogen von der Begeisterung – auch engagierte, fand eine gewisse Politisierung statt.
Wie haben Sie dann in Europa die 68er Bewegung bzw. deren Ausläufer wahrgenommen? Haben Sie sich darin irgendwie integriert?
Integriert nicht direkt, ich trat in keine Gruppe ein. Aber ich bekam mit, daß sehr tiefgehend diskutiert, manches in Frage gestellt wurde, z. B. das Verhältnis Student-Professor und der ganze Umgang miteinander. Sehr vieles war damals auch hier im Umbruch. Ich konnte eigentlich erst richtig ermessen, wie schön das alles war, wie reich diese Zeit war, als es Jahre später wieder einschlief und es wieder überwiegend angepaßte Studenten gab.
Sie haben in Marburg promoviert. Worüber haben Sie gearbeitet?
Es war kein sehr bewegendes Thema: Es ging um deutsche Übersetzungen spanischer Volksdichtung. Ich habe die verschiedenen Übersetzungen aus verschiedenen Zeiten dahingehend untersucht, inwieweit sie jeweils dem Original entsprachen und inwieweit die Einstellung der Übersetzer die Übersetzung prägte. Für mich als zweisprachig Aufgewachsene war es interessant festzustellen, daß dieser Ausdruck der Italiener, traduttore – traditore (Übersetzer – Verräter) tatsächlich oft, wenn nicht immer, stimmt. Daß es also sehr schwer ist, bei einer Übersetzung dem Original wirklich vollkommen gerecht zu werden.
1970 kam in Chile die Unidad Popular an die Regierung. In dieser Zeit ist in jeder Hinsicht viel passiert, auch im kulturellen und literarischen Bereich gab es einen großen Aufbruch. Bekamen Sie nicht Lust, dahin zu gehen und mitzumachen?
Sicherlich. Ich hatte gerade angefangen zu promovieren und wollte das möglichst schnell beenden, um nach Chile zurückzukehren und mitzumachen. Es war schon eine mitreißende Zeit. Ich hatte viel Kontakt nach Chile, z. B. zu ehemaligen KommilitonInnen, die an der Universität geblieben waren und dort arbeiteten. Was sie berichteten, begeisterte mich natürlich.
Im September 1973 putschte dann das Militär. Wie hat das Ihre Zukunftsplanung verändert?
Grundlegend, denn so wie es nach dem Putsch an den Universitäten aussah, hatte ich natürlich nicht mehr den Wunsch zurückzukehren. Unter Militärstiefeln zu arbeiten, reizte mich absolut nicht, und deshalb verging eine lange Zeit, bis ich mich doch zur Rückkehr entschloß. Nach dem Putsch arbeitete ich sehr aktiv in der Solidaritätsbewegung. Marburg war eine Stadt, wo die Solidarität sehr stark war. Aufgrund meiner Zweisprachigkeit übersetzte ich häufig bei Konzerten und Veranstaltungen und bekam dann auch sehr bald Kontakt mit ChilenInnen, die ins Exil kommen mußten. Ich begleitete die ankommenden Flüchtlinge bei Behördengängen und den ersten notwendigen Schritten. Dabei bekam ich sehr unmittelbar an Menschen die schlimmen Folgen des Putsches mit.
Die Diktatur dauerte sehr lange. Haben Sie irgendwann begonnen, sich emotional hier einzurichten, oder wollten Sie auf jeden Fall wieder nach Chile?
In meinem Hinterkopf oder sogar im Vorderkopf war immer die Absicht, nach Chile zu gehen. Mir war klar, daß ich irgendwann zurückkehren würde. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre begann ich doch, mich um Stellen an chilenischen Universitäten zu bewerben. Aber ich bekam nicht einmal eine Antwort. Wahrscheinlich war dort inzwischen bekannt, daß ich hier mit ExilchilenInnen zusammenarbeitete. Die Sicherheitsdienste funktionierten sehr gut. 1985 ergab sich die Möglichkeit, als Lehrerin zu arbeiten, und zwar in Valdivia – meiner Heimatstadt. Diese Gelegenheit nahm ich wahr und kehrte nach Chile zurück.
Sie sagten gerade, Sie hätten mit ExilchilenInnen gearbeitet. Sahen Sie die chilenischen Flüchtlinge als eine Gruppe, zu der Sie nicht gehörten, oder fühlten Sie sich dem Exil zugehörig, auch wenn Sie selbst nicht fliehen mußten?
Ich fühlte mich ihnen zugehörig. Ich arbeitete auch in Verbänden mit, die von den Exilchilenen gegründet worden waren. Aber objektiv war meine Situation natürlich eine andere. Als mein Stipendium auslief und ich Arbeit suchte, beantragte ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Weil mein Vater Deutscher war, wurde dem Antrag auch stattgegeben. Dadurch hatte ich – im Gegensatz zu den ExilchilenInnen – keine Probleme, in der Bundesrepublik zu leben und zu arbeiten.
Fiel es Ihnen nach Ihrer Übersiedlung nach Chile schwer, sich in dem Land, das Sie 17 Jahre zuvor verlassen hatten und das sich zwischenzeitlich grundsätzlich verändert hatte, wieder zurechtzufinden?
Ich hatte absolut keine Schwierigkeiten, mich wieder einzuleben. Mag sein, daß dabei die Tatsache mitspielte, daß ich gleich eine Arbeit hatte. Und wie überall findet man dann Kollegen, mit denen man sich besser versteht, die ähnlich denken wie man selbst. Es gab auch an der Deutschen Schule in Valdivia eine – eher kleine – Gruppe von fortschrittlich denkenden Lehrern. Das Kollegium war ganz klar geteilt, wie wahrscheinlich fast jeder Betrieb oder jede Schule in Chile in der Zeit der Diktatur: Man war dagegen, oder man war dafür. Obwohl man zivilisiert miteinander umging, war ganz klar, wer wo stand.
Ich fand Ansprechpartner, Freunde, suchte Kontakt zu Menschenrechtsgruppen der katholischen Kirche und auch zu der oppositionellen Lehrergewerkschaft. Es gab damals die Gewerkschaften, deren Leiter vom Staat eingesetzt wurden – damit total untergeordnete, gleichgeschaltete Gewerkschaften –, und es gab die AGECH (Asociación Gremial de Educadores de Chile), einen oppositionellen Gewerkschaftsverband, der im Widerstand zur Diktatur stand, aber öffentlich arbeitete. Die AGECH hatte auch in Valdivia eine Gruppe, der ich mich anschloß. Ich war außerdem in Deutschland der Kommunistischen Partei Chiles beigetreten und hatte auch in Valdivia Kontakt zur illegalen Partei.
1985/1986 wurde Chile in den hiesigen Medien wegen des stärkeren Widerstandes wieder etwas mehr zur Kenntnis genommen. Dabei wurde allerdings fast ausschließlich über die Protesttage in Santiago berichtet. Sie lebten in einer Provinzstadt. Wie stellten sich Widerstand und Opposition dort dar?
An den nationalen Protesttagen gab es auch in Valdivia Aktionen und Demonstrationen. Ich kann mich entsinnen: Am zweiten und dritten Juli 1986 gab es solche Protesttage, vorher hatte es landesweite Streiks der Lehrer gegeben. Ich war Anfang des Jahres in der Deutschen Schule zur Sprecherin unseres Lehrerkollegiums in der AGECH gewählt worden. Wir hatten beschlossen zu versuchen, daß auch die Schulen in Valdivia nicht arbeiteten. Jeder sollte den Streikaufruf in seiner Schule einbringen und versuchen, die Kollegen zu überzeugen. Und es gelang. Nicht nur die Lehrer der staatlichen Schulen machten mit, auch die der Privatschulen – wo so etwas immer schwieriger ist – schlossen sich nach langen Diskussionen dem Streik an. Auch die Deutsche Schule arbeitete an diesem Tag nicht.
Es gab auch relativ große Demonstrationen. Für eine kleinere Stadt wie Valdivia war das wirklich ein Erfolg. Die Menschen haben meistens noch mehr Angst als in der Großstadt. Weil jeder jeden kennt, ist es schwieriger, sich zu exponieren. Aber in dieser Phase gab es sehr viel Bewegung, sehr viel Hoffnung im Land. Man hielt allgemein 1986 für das entscheidende Jahr. Viele wollten einen Beitrag dazu leisten, daß die Diktatur in diesem Jahr wirklich fallen würde. Diese Hoffnung wurde dann leider zerschlagen. Die Diktatur schlug mit aller Macht zurück, zuerst als sie Waffenlager der militanten Opposition aushob und dann nach dem gescheiterten Attentat gegen Pinochet am 7. September. Das waren harte Rückschläge.
Sie wurden am 19. September 1986 in Valdivia verhaftet. Wie waren die Umstände Ihrer Verhaftung?
Als Antwort auf das Pinochet-Attentat gab es eine Repressionswelle im ganzen Land. Das Attentat hatten Mitglieder der „Frente Patriótico Manuel Rodríguez“ durchgeführt, die sich auch dazu bekannte. Deshalb richtete sich die Repression hauptsächlich gegen Mitglieder der Frente Patriótico und, da die Frente der Kommunistischen Partei nahestand, auch gegen deren Mitglieder und die des Kommunistischen Jugendverbandes. Auch in Valdivia waren alle, die hauptsächlich in der Nacht vom 18. auf den 19. September festgenommen wurden, Mitglieder dieser drei Gruppen. Die Festnahme erfolgte durch Mitglieder der Geheimpolizei CNI und durch Militärangehörige – ich wurde z. B. in einem Jeep des Militärs abtransportiert. Alles lief ab wie üblicherweise bei diesen Verhaftungen. Man wurde mit verbundenen Augen abgeführt und an einen unbekannten Ort gebracht. Man konnte sich aber ausrechnen, daß es das Gebäude der CNI in Valdivia war. Es war bekannt, auch wenn es längere Zeit keine Verhaftungen mehr gegeben hatte.
Ich wurde gleich zur CNI gebracht, während mehrere der anderen erst einmal zum Fluß gefahren und einige dort auch ins Wasser getaucht wurden, bis sie fast erstickten. Unter ihnen war auch Maria Cristina, die später mit mir zusammen in Haft war. Sie sagte, sie habe in dem Moment gedacht, das sei das Ende. Denn zwei Jahre vorher waren Mitglieder der MIR (Movimiento de la Izquierda Revolucionaria – Bewegung der Revolutionären Linken; G. E.) nachts aus den Häusern geholt worden, und einen Tag später wurden ihre Leichen am Estancilla-Fluß gefunden.
Als unsere Leute trotz der verbundenen Augen merkten, daß es zum Fluß ging, weil die asphaltierte Straße in einen Schotterweg überging, mußten die Gefangenen denken, man wollte sie umbringen. Das war auch eine Form psychischer Folter.
Wir waren sechs Tage in der Gewalt der CNI. Dort lief alles ab wie bekannt. Allerdings merkten wir sehr bald, daß ein gewisser Schutz dadurch entstand, daß in Deutschland sofort eine Solidaritätsbewegung eingesetzt hatte. Ich hatte Freunden in Valdivia schon vorher einige Telefonnummern in Deutschland gegeben und sie gebeten, dort anzurufen, falls mir etwas passierte. Das machten sie dann auch gleich, und sofort mobilisierten sich in der Bundesrepublik die Gruppen. Sie wandten sich an amnesty international, und ai leitete eine urgent action ein (Eilaktion, bei der amnesty seine Mitglieder bzw. UnterstützerInnen über drohende Folterung oder Ermordung von Verschleppten informiert und auffordert, umgehend mit Faxen und Briefen an die verantwortlichen Stellen zu reagieren – G. E.).
In Deutschland waren bald die Namen aller Verhafteten bekannt, weil deren Angehörige die Verhaftungen bei der Pastoral Social der Kirche meldeten und diese die Nachrichten international verbreitete. Das Polizeikommissariat und andere Stellen in Valdivia erhielten daraufhin offenbar ständig Anrufe. Auf jeden Fall sagten sie uns in der dritten oder vierten Nacht, wir seien ja schon weltbekannt, sogar Radio Schweden spräche bereits von uns. Das ist wirklich der beste Schutz in einer solchen Situation. Wenn sie wissen, daß die Fälle im Ausland bekannt sind, werden sie ein bißchen vorsichtiger. Wir konnten jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß wir nicht „verschwunden“ waren. Das konnte uns nicht vor allem bewahren, aber bestimmt vor Schlimmerem.
Wurden Sie nach den sechs Tagen bei der CNI in ein reguläres Gefängnis gebracht?
Ja. Dort kamen wir erst mal alle in Einzelzellen, in die Strafzellen des Gefängnisses. Obwohl die Bedingungen dort sehr schlecht waren, spürte ich in dem Moment ein Gefühl der Erleichterung. Die anderen sagten später dasselbe. Es war zwar sehr kalt und hart, aber wir konnten mindestens davon ausgehen, daß die Folter zuende war. Die Zeit der Isolationshaft war unterschiedlich lang, bei mir waren es zehn Tage, bei anderen bis zu 18 Tagen. Dann kamen Maria Cristina und ich in den Frauentrakt zu den strafgefangenen Frauen und die Genossen ins Männergebäude.
Haben sich nach Ihrer Verhaftung deutsche Stellen – Botschaft, Konsulat usw. – eingeschaltet, Sie sind ja deutsche Staatsbürgerin?
Ja. Wahrscheinlich aufgrund des Drängens in Deutschland kamen ein Vertreter des Generalkonsulats aus Concepción und der Generalkonsul aus Valdivia schon nach wenigen Tagen zur CNI und wurden dort auch vorgelassen. Dort fand ein recht merkwürdiges Gespräch statt, denn mir war vorher gedroht worden, und man hatte mir gesagt, wie ich mich zu verhalten hätte. Bei dem Gespräch war auch der Chef der CNI von Valdivia dabei, aber man hat mich so vor ihn gesetzt, daß ich ihn nicht sehen konnte. Man hatte mir die Augenbinde abgenommen – für mich war es der einzige Moment ohne Augenbinde bei der CNI –, aber ich durfte den Kopf nicht bewegen, also nicht in seine Richtung schauen. Die Vertreter des Konsulats saßen vor mir und konnten uns beide sehen. Das Gespräch wurde hauptsächlich zwischen ihnen und dem CNI-Mann geführt, mir wurden nur einige Fragen gestellt. Die Vertreter des Konsulats fragten ihn u. a., wann mit meiner Verlegung von der CNI zu rechnen sei. Der CNI-Chef sagte, in zwei bis drei Tagen. Mir war also klar, daß ich noch dableiben müßte, und rechnete mir aus, daß es wenig Sinn hatte anzugeben, was tatsächlich passierte. Auf die Frage, wie es mir ginge, habe ich nur mit „gut“ geantwortet und weiter nichts berichtet. Ich dachte, wenn ich jetzt erkläre, wie gefoltert wird, was hier passiert, und ich hierbleibe, kann man leicht später erzählen, ich hätte einen „Herzinfarkt“ oder was weiß ich bekommen. Es war mir einfach zu riskant, in dem Moment mehr zu erklären.
Außerdem wußte ich nicht, wie engagiert diese Konsulatsvertreter wirklich waren. An der Art, wie der eine – der aus Concepción – mich ansah, wie er mit dem von der CNI sprach, merkte ich, daß er sich eher mit ihm verstand als mit mir. Aus der Art, wie mich der Honorarkonsul aus Valdivia anblickte, sprach eher, daß ich ihm leid tat, aber er zeigte auch keine besondere Bereitschaft, etwas zu tun. Die beiden Diplomaten erklärten hinterher öffentlich, es ginge mir gut. Sie stellten also nichts von dem in Frage, was die CNI berichtete.
Später kamen dann Vertreter der Botschaft ins Gefängnis. Auch das waren manchmal recht merkwürdige Gespräche, denn sie, oder zumindest der erste, drängten vor allem darauf zu erfahren, was ich gemacht hatte. Ich wußte zu dem Zeitpunkt gar nicht, was mir alles vorgeworfen wurde. Es hatte in Südchile einige Attentate z. B. gegen Hochspannungsmasten gegeben, in Valdivia gegen eine Bank. Das waren Aktionen einiger Mitglieder der Frente Patriótico Manuel Rodríguez. Die Behauptung war nun, die Frente Patriótico und die Kommunistische Partei seien eins, im Grunde sei die Partei genauso dafür verantwortlich. In meinem Fall konkret wurde ganz zu Anfang gesagt, ich sei praktisch die geistige Urheberin all dieser Attentate. Der Botschaftsvertreter bestand darauf, ich solle über alles berichten. Ohne genaue Kenntnis könne er mich nicht verteidigen und mir nicht helfen. Er war offensichtlich davon überzeugt, daß ich an Attentaten beteiligt war, und er wollte mein Geständnis. Und dann kam – nicht direkt das Angebot –, aber die Frage, ob ich evtl. bereit wäre, nach Deutschland auszureisen. Ich sagte ihnen ganz klar „nein“, weil das eine Art Flucht gewesen wäre und den Eindruck erweckt hätte, die gegen mich erhobenen Anschuldigungen entsprächen den Tatsachen. Meine Position war, daß zuerst der Prozeß in Chile stattfinden sollte. Ich erhoffte mir davon eine Klärung, daß die Anschuldigungen falsch waren. Der einzige Vorwurf, der den Tatsachen entsprach, war meine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Alles andere stimmte nicht.
Später, auch noch in der ersten Zeit der Haft, besuchte mich Freimut Duve (SPD-MdB – G. E.). Ich hatte ihn vorher nicht persönlich gekannt, wußte aber durch seine Publikationen, daß er ein Gegner der Diktatur war. Das war dann eine ganz andere Gesprächsatmosphäre. Sein Besuch war für mich eine wichtige moralische Unterstützung, während die Besuche der Botschaftsvertreter eher den gegenteiligen Effekt hatten.
Sie haben eben von der schnell einsetzenden Solidaritätsbewegung in der Bundesrepublik gesprochen. Haben Sie davon im Gefängnis etwas mitbekommen?
Sehr viel. Ich erhielt zahlreiche Briefe, die mir mehrheitlich auch ausgehändigt wurden. Nicht alles kam an, wie ich später merkte, aber doch wohl das meiste. Das war für mich sehr bewegend. Zu den ersten Sachen, die aus Marburg kamen, gehörten auch Bilder von Kindern. Bilder, die die Kinder für mich gemalt hatten, wo sie z. B. einen Solidaritätsstand gemalt hatten, an dem Leute standen und Unterschriften sammelten: „Freiheit für Beatriz Brinkmann“. Ich hatte vorher nie im Gefängnis geweint, aber als ich diese Bilder bekam, konnte ich nicht mehr. Plötzlich diese Wärme zu spüren, diese Sorge um uns, nicht nur um mich, sondern um uns alle, das war wirklich überwältigend. Ich glaube, jemand, der Solidarität übt, kann sich kaum vorstellen, wie wichtig das ist, wieviel Kraft das dem gibt, der diese Solidarität empfängt.
Sie sind schließlich doch aus Chile ausgereist. Warum haben Sie sich später doch dafür entschieden?
Ziemlich genau nach einem Jahr kam wieder das Angebot, Chile zu verlassen. Vorausgegangen waren Gespräche des damaligen Außenministers Genscher mit dem chilenischen Außenminister. Das heißt, es gab Druck auch von höchster Stelle, was wiederum auf den Druck der Solidaritätsbewegung zurückging. Allerdings konnte nicht erreicht werden, daß ich dort freigelassen wurde und in Chile bleiben konnte. Meine Freilassung war nur möglich unter der Bedingung, das Land zu verlassen und nach Deutschland auszureisen. Zu dem Zeitpunkt war in unserem Prozeß die Ermittlungsphase abgeschlossen – viel schneller, als es bei politischen Gefangenen normalerweise der Fall ist. Ich besprach mit der Gruppe, den Mitgefangenen, ob ich das Angebot akzeptieren sollte oder nicht. Die Alternative war – das wurde mir ganz klar gesagt – Verhärtung. Wahrscheinlich wäre die Argumentation des Auswärtigen Amtes dann gewesen, sie hat die Freilassung ausgeschlagen, mehr können wir nicht machen. Viele, die sich für meine Freilassung einsetzten, hätten meine Ablehnung sicher nicht verstanden, da sie die Hintergründe nicht kannten. Meine Weigerung hätte vermutlich eine Lähmung der Solidaritätsbewegung im Hinblick auf die politischen Gefangenen bedeutet. Umgekehrt wären meine Freilassung und Ausreise ein praktischer Beweis dafür, daß Solidarität sich lohnt, ein Ansporn also, sich weiter für andere Gefangene einzusetzen. Aus diesen Überlegungen heraus akzeptierte ich schließlich das Angebot und reiste in die Bundesrepublik aus.
Wie erlebten Sie Ihre zweite Ankunft in der Bundesrepublik?
Es war ein ganz anderes Wiederkommen, eine ganz andere Ankunft. Erstmal gab es gleich einen großen Empfang. Ich wurde am Flughafen erwartet, von Freimut Duve, von Frau Blüm – Herr und Frau Blüm hatten mich im Gefängnis besucht, als sie in Chile waren, und sich für mich eingesetzt. Vertreter des Auswärtigen Amtes waren da und natürlich Leute von der Initiative „Freiheit für Beatriz Brinkmann“, es war schon überwältigend. Die Zeit darauf war sehr anstrengend. Ich war etwa drei Wochen lang nur auf Reisen von einer Stadt in die andere. Natürlich wollte ich das Interesse und die Bereitschaft nutzen, sich auch für die anderen Gefangenen weiter zu engagieren. Es ging nicht nur um meine Mitgefangenen in Valdivia, zu diesem Zeitpunkt brauchten über 400 politische Gefangene in Chile die Solidarität. Sie war auch wichtig im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion in Bonn um die Aufnahme oder Nicht-Aufnahme derjenigen, die von der Todesstrafe bedroht waren. (Mit Blick auf rechte Wählerschichten blockierte der damalige CSU-Innenminister Zimmermann die Aufnahme von 14 ChilenInnen wegen angeblicher Sicherheitsbedenken – G. E.)
Der Gefängnisaufenthalt und die Ereignisse bei der CNI sind sicher nicht leicht zu verarbeiten. Irgendwann, wenn der erste Trubel nachläßt, kommt bestimmt viel davon wieder an die Oberfläche. Haben Sie das auch so erlebt?
Ja, schon. Ich konnte dann aber vieles in Gesprächen mit Freunden verarbeiten. Bei den Veranstaltungen war es mir wichtig, bestimmte Sachen auch zu erzählen. Es ist etwas anderes, von Folter in einem Land zu wissen, als jemandem zuzuhören, der sie erlebt hat. Aber das ist natürlich nicht einfach und ganz anders, als im Freundeskreis darüber zu sprechen. Aber um das Ganze so richtig aufzuarbeiten, dafür habe ich mir die Zeit und Ruhe eigentlich nicht genommen. Vielleicht bin ich auch bewußt dieser Erfahrung aus dem Weg gegangen, ich habe es eigentlich nie gründlich gemacht.
Was haben Sie in ihrem – nunmehr wirklichen – Exil in der Bundesrepublik gemacht?
Die Phase der Reisen und Vorträge war relativ lang. Sehr intensiv war sie in den ersten Wochen, aber sie beanspruchte mich auch danach noch fast ein Jahr lang. Danach arbeitete ich in Frankfurt mit einer ABM-Stelle beim chilenischen Rückkehrkomitee. Das war für mich eine tolle Sache, die Aufgabe war sehr sinnvoll, und ich war finanziell abgesichert. Das ging dann bis zu meiner Abreise im Jahr 1989.
Wie entwickelte sich die Situation der Leute, die mit Ihnen zusammen verhaftet worden waren? Wie lange waren sie noch im Gefängnis?
Die beiden anderen Frauen aus unserer Gruppe, Maria Cristina und Ani, wurden zwei Monate nach meiner Ausreise entlassen. Die Rechtsanwälte hatten mir gesagt, wenn ich gegen Kaution freigelassen würde, können sie das als Argument nehmen, um mindestens für die beiden Frauen und vielleicht noch einige andere Freilassung gegen Kaution zu fordern. Und das gelang auch, die Frauen und einer der Genossen kamen frei. Die anderen mußten leider sehr viel länger in Haft bleiben. Sie kamen erst nach 1990, nach Beendigung der Diktatur, aus dem Gefängnis.
Seit Ihrer Rückkehr nach Chile arbeiten Sie bei der Menschenrechtsorganisation CINTRAS. Wollten Sie nicht wieder als Lehrerin arbeiten?
Ich wollte schon, konnte aber nicht. Zum einen wäre es schwer gewesen, mit dieser Vorgeschichte wieder eine Stelle als Lehrerin zu finden. Ich wäre weder von einer Privatschule noch im öffentlichen Dienst eingestellt worden. Zum anderen hatte ich als Folge der Haftzeit, möglicherweise auch der Folter – was da alles mitgespielt hat, ist nicht ganz klar –, ein Stimmproblem, eine Muskelschwäche. Ich kann nicht mehr laut sprechen. Das macht es mir unmöglich, meinen Beruf wieder auszuüben.
Ich hatte dann die Möglichkeit, das Glück, gleich bei CINTRAS arbeiten zu können. CINTRAS ist eine Nichtregierungsorganisation, die seit 1986 in Chile Opfer der Repression psychotherapeutisch betreut. Folteropfer, Angehörige von Verschwundenen, Angehörige von Hingerichteten, später dann auch Rückkehrer aus dem Exil und politische Gefangene in den Gefängnissen. In dieser NRO übernahm ich die Verantwortung für Publikationen, d. h. eine regelmäßige Zeitschrift und andere Veröffentlichungen.
Der Übergang in Chile war dadurch gekennzeichnet, daß er zwischen der bürgerlichen Opposition und der Diktatur ausgehandelt wurde. Ein Bestandteil dieses Deals war, daß die Militärs für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen werden. Was bedeutet das für Sie, die Sie selbst Opfer der Diktatur sind und in der Arbeit bei CINTRAS mit all dem Leid der vielen anderen Opfer konfrontiert sind? Wie hält man das aus?
Nur, indem man etwas dagegen macht. Außer bei CINTRAS arbeite ich auch weiter in der Menschenrechtsbewegung – oder in dem bißchen, was noch davon übrig ist, z. B. mit Gruppen, die sich für „Wahrheit und Gerechtigkeit“, wie wir es in Chile nennen, einsetzen, gegen die Impunidad, die Straffreiheit. Mit Wahrheit meinen wir Aufklärung, hauptsächlich des Schicksals der Verschwundenen; mit Gerechtigkeit die Bestrafung der Schuldigen, der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen. Als Vertreterin von CINTRAS arbeite ich in deren Koordination. Die Gruppe der Aktiven ist leider sehr klein, dazu gehören die Verbände der Angehörigen von Verschwundenen, Angehörigen von Hingerichteten, Menschenrechtsorganisationen wie CODEPU und CINTRAS. Auf einige Studentenverbände können wir bei wichtigen Aktionen auch zählen. Trotz aller Schwierigkeiten werden wir weitermachen. Vor allem die Angehörigen werden sich nicht mit der Situation, so wie sie jetzt ist, zufrieden geben.
Zu dieser besonderen Form des Übergangs, wie sie in Chile ausgehandelt wurde, gehörte auch, daß Aylwin keine Amnestie für politische Gefangene erließ. Normalerweise ist nach Ende einer Diktatur eine der ersten Maßnahmen die Öffnung der Gefängnisse und die Freilassung der politischen Gefangenen. In Chile gab es noch bis zum Ende von Aylwins vierjähriger Regierungszeit politische Gefangene aus der Diktatur. Einige kamen dann durch individuelle Begnadigung frei, allerdings viele nur unter der Bedingung, daß sie das Land verlassen. Damit es nicht heißen konnte, die demokratische Regierung schickt Menschen ins Exil, mußten die Betroffenen selber den Antrag stellen. Das war wirklich hart.
Ich habe bis zuletzt politische Gefangene im Gefängnis besucht. Es war sehr schlimm für sie, viel schlimmer als in der Diktatur. Damals war noch ein Gefühl da, das wir Mystik der Solidarität nennen, es gab soziale Anerkennung für die politischen Gefangenen. Man war Teil der großen, schönen Aufgabe, der Diktatur möglichst bald ein Ende zu setzen. Das hat es auch leichter gemacht, das Gefängnis zu ertragen. Aber das war dann in der Zeit der Demokratie, oder in der Übergangszeit zur Demokratie, der Demokratur oder wie man es nennen mag, vorbei. Obwohl die Haftbedingungen etwas besser waren, wurde die Stimmung unter den Gefangenen immer gedrückter. Sie fragten sich, wofür die vielen Opfer gebracht wurden. Sie hatten so viel aufs Spiel gesetzt, das eigene Leben, die eigene Freiheit und die der Familien, und nun konnten sie nach dem Ende der Diktatur nur freikommen, wenn sie sich bereit erklärten, Chile zu verlassen. Das war für die meisten Gefangenen unerträglich. Viele wollten anfangs nicht unterschreiben, mußten aber schließlich nachgeben, als deutlich wurde, daß es von der Gesellschaft her keine Unterstützung gab, keinen Druck für ihre Freilassung und ihr Recht auf ein Leben in Chile.
Auch für die Gefangenen, die im Land bleiben konnten, ist die Situation sehr schwierig. Sie gelten als vorbestraft. Wenn sie Arbeit suchen, steht im polizeilichen Führungszeugnis ihre ganze Geschichte drin. Unter diesen Bedingungen ist es sehr schwer, eine Arbeit zu finden.
Wie erklären Sie sich das relativ geringe Interesse und den geringen politischen Druck seitens der Öffentlichkeit in Chile? Wenn man den Vergleich zu Deutschland zieht – heute ist der 50. Jahrestag der Befreiung von der Nazidiktatur –, hatte der Verdrängungsprozeß hier sehr viel damit zu tun, daß viele Deutsche Mittäter waren, Mitglied der NSDAP, der SA. Die chilenische Diktatur war kein Faschismus mit einer organisierten Massenbasis, d. h. es gab deutlich weniger Mittäter als etwa in Deutschland. Warum passiert in dieser Gesellschaft so vergleichsweise wenig, weniger noch als in den Nachbarländern Argentinien und Uruguay, wo – meiner Meinung nach – ein anderes Verhältnis, eine andere Ächtung der Diktatur vorherrscht?
Es gibt noch keine wirklich gründlichen Analysen darüber, was vor sich gegangen ist, welcher psychosoziale Schaden entstanden ist, warum die Menschen heute so sind. Das hängt mit Sicherheit mit der Zeit der Diktatur zusammen, aber wahrscheinlich nicht nur. Auch die weltweiten Veränderungen spielen eine Rolle, die Veränderungen, die hauptsächlich in Europa stattgefunden haben. Das Ende dieses Projektes, das man „realer Sozialismus“ nannte. Es war für viele beispielhaft gewesen, obwohl man gleichzeitig die Augen vor den Fehlern verschlossen hat. Man wollte an diese Utopie glauben, und plötzlich war sie kaputt, plötzlich wurden die negativen Seiten dieses Modells deutlich. Das wirkt lähmend.
Bei anderen spielt wahrscheinlich auch Opportunismus eine Rolle, wenn man etwa an politische Gruppen denkt, die jetzt an der Regierung beteiligt sind. Wieder andere gingen zur Tagesordnung über, bringen erst mal ihr eigenes Leben in Ordnung, sehen zu, daß sie weiterkommen, und alles weitere interessiert sie nicht. Wiederum in anderen Kreisen herrscht immer noch Angst. Ich denke da an die Menschen in den poblaciones (Armenviertel – G. E.) oder auf dem Land. Auf dem Land habe ich das sehr oft gehört: „Pinochet ist noch da, und wir wollen diese Erfahrung nicht noch einmal machen. Dann lieber stillhalten, dann lieber das kleinere Übel, wie es jetzt ist, als noch einmal eine Diktatur.“
Ich will das Bild aber nicht zu negativ zeichnen. Es gibt auch für uns Situationen der Hoffnung oder Anzeichen für Hoffnung. Etwa die Tatsache, daß sich doch viele Jugendliche für die Menschenrechtsproblematik engagieren, also für diese Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Bei Aktionen wie am 11. September (Jahrestag des Militärputschs – G. E.) oder auch in bestimmten Situationen, etwa als die Regierung vor zwei Jahren eine endgültige Amnestie für die Menschenrechtsverletzer durchsetzen wollte und der Verband der Angehörigen der Verschwundenen einen Hungerstreik dagegen einleitete, dann sind es vor allem Studentenverbände, die kommen, sich solidarisieren und unterstützen. Das ist doch ein Lichtblick. Gerade für die Jugend ist es besonders schlimm, wenn sich die Straffreiheit durchsetzt. Wenn es keine Wahrheit und Gerechtigkeit gibt, was für ein Vorbild, was können wir dieser Jugend dann bieten?