Die Knappheit an Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs hat zu Problemen bei euren Wochenmärkten geführt, auf denen ein Viertel der Bevölkerung der Millionenstadt Barquisimeto einkauft. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen um den Einlass kam es sogar zu Todesfällen. Ihr habt ein System von Mitgliedsausweisen und vorher zugewiesenen Einlasstickets entwickelt. Wie ist die aktuelle Situation?

Noël: Wir haben die Ausweise eingeführt, um mehr Gleichberechtigung herzustellen. Vor etwa drei Jahren begannen wir mit dem Prozess, uns in den Schlangen zu organisieren. Es hat sich gut entwickelt, weil wir auf allen Märkten gelernt haben, die Reihenfolge in den Schlangen zu respektieren. Aber jetzt kommen neue Aspekte hinzu.

Jorge: Es gibt immer noch die Knappheit bei den Lebensmitteln, aber sie ist inzwischen relativ. Vor etwa acht Monaten beschlossen wir in der Gemeinschaft, dass jede Familie nur ein Kilo Nudeln oder Reis kaufen durfte. Es musste geteilt werden. Heute ist die Situation insofern anders – von daher sage ich „relativ“ –, dass die Produkte zwar nicht in dem Ausmaß früherer Jahre vorhanden sind, aber doch in ausreichender Menge, um drei oder vier Kilo Maismehl, Reis oder Nudeln auszugeben. Wenn wir den Leuten jetzt an der Kasse sagen, dass sie mehr mitnehmen können, antworten sie, dass sie dafür nicht genug Geld haben. Zurzeit spitzt sich das Problem der fehlenden Kaufkraft zu. Es gab wohl eine Entscheidung der Zentralbank, den Geldfluss einzuschränken, um die Hyperinflation zu bremsen, was erhebliche Auswirkungen auf die Kaufkraft hat.

Wie ist die Lage bei den Landwirtschafts- und Produktionsgenossenschaften?

Lizeth: Die meisten Betriebsmittel und Produkte in Venezuela werden in US-Dollar gehandelt. Offiziell gilt weiterhin unsere Währung Bolívar, aber die Praxis sieht anders aus. Für uns wurde das zum Problem, als wir Betriebsmittel und Saatgut nur noch für Dollars kaufen konnten. Die staatlichen Mechanismen, an Dollars zu kommen, sind leider ziemlich langwierig. Der kolumbianische Peso wird zurzeit im Land immer gebräuchlicher. Es ist schon normal, dass Leute auf dem Wochenmarkt mit kolumbianischen Pesos bezahlen. Mit denjenigen, die für die Märkte produzieren, fahren wir gemeinsam nach Kolumbien, um landwirtschaftliche Betriebsmittel und Saatgut zu besorgen. Da haben wir mittlerweile einige Erfahrung. Bei den ersten Reisen waren wir noch zögerlich beim Einkauf, weil wir erst sehen wollten, ob das Saatgut ertragreich ist, wie es sich in unserem Boden und Klima macht. Heute sind wir uns da sicherer, wenn wir nach Kolumbien fahren, um für die Produzenten einzukaufen.

Jorge: Ein Beispiel dafür, wie alltäglich die Dollarisierung ist: In den Vierteln am Stadtrand, etwas weiter außerhalb von hier, gibt es kein Wasser. Dort organisieren sich Familien in ihrer Nachbarschaft und bestellen gemeinsam einen Tankwagen mit Wasser, um wenigstens eine Zeitlang Wasser im Haus zu haben. Der Fahrer, der das Wasser bringt, verlangt die Bezahlung oft in Dollar, und dann kommt noch die Spekulation hinzu. Oft werden um ein Vielfaches erhöhte Preise verlangt, und dann möglichst noch in ausländischer Währung. Es ist schon extrem, wie die Leute sich gegenseitig ausnehmen.

Noël: Der Bolívar ist nur noch Fassade. Alle Kostenvoranschläge werden in Dollar gemacht und müssen dann zum Tageskurs bezahlt werden. Die Einkommen werden in der Regel in Bolívares gezahlt, aber alle Rechnungen müssen nach dem aktuellen Wechselkurs bezahlt werden. Das beeinträchtigt selbstverständlich die bäuerlichen Produzent*innen, die am Ende für Saatgut, Dünger oder Transport mehr bezahlen müssen als ursprünglich veranschlagt.

Jorge: Und der Dollarkurs steigt rasant, in der letzten Woche von 7400 auf 10 000 (er liegt zurzeit, einen Monat später, bereits bei 15 000).

Welche Beispiele für Solidarität in der Krise kennt ihr außerhalb von Cecosesola? Welche Rolle spielen Basisorganisationen des Chavismus, wie etwa die kommunalen Räte?

Lizeth: In Cabulare, wo ich vorher gelebt habe, beschränken sich die kommunalen Räte auf die Verteilung der bolsa, der staatlich finanzierten Tüten, die hauptsächlich Lebensmittel enthalten. Früher waren darin auch Produkte aus Mexiko, Brasilien oder der Türkei, heute sind es nur Landesprodukte. Meiner Erfahrung nach spielen die kommunalen Räte nur diese Rolle. Wo ich jetzt lebe, bei meinen Großeltern, gibt es keinen kommunalen Rat. Von daher organisieren wir die solidarische Hilfe untereinander in der Nachbarschaft. Einer unserer Nachbarn hat drei Wassertanks und hat sein Wasser mit anderen geteilt. Das hat bis letzte Woche gereicht. Dann waren wir sieben Tage ohne Wasser, bis gestern neues kam.

Jorge: In vielen Außenbezirken haben die Leute schon seit Monaten kein Wasser mehr. Wenn du aus Caracas über die Autobahn rausfährst, kommst du an mehreren Stellen vorbei, wo Menschen mit Kanistern Schlange stehen, weil es dort Wasserquellen gibt. Auch an Gas zu kommen ist schwierig. Hier bei uns wurde versucht, das über den kommunalen Rat zu organisieren, aber das dauert sehr lange. Unsere Gasflasche steht dort schon seit zehn Tagen, aber es kommt kein Gas. Das Gas ist staatlich, von der PdVSA, aber das wird dann auch meist verschachert. Dann kommt bei der Knappheit noch hinzu, dass die US-Sanktionen sehr viel Schaden anrichten. Es kann praktisch nichts mehr importiert werden, weil alle, die nach Venezuela exportieren, von der US-Regierung mit Sanktionen bedroht werden.

Noël: Es wird viel über die ökonomische und die Währungskrise geredet, aber es ist eine viel tiefer gehende Krise. Es fehlen Wasser, Haushaltsgas, Strom, Transportmittel – das ist eine umfassende Krise. Nicht, dass es diese Dinge im Land nicht gäbe, schließlich sind wir einer der größten Gasproduzenten! Die Stromausfälle geschehen wegen fehlender Wartung. Das alles liegt zum Großteil in der Hand des Staates, der es nicht schafft, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Diese Dienstleistungen sind alle zusammengebrochen. In unserer Organisation suchen wir immer nach alternativen Lösungsmöglichkeiten, aber in den Familien und allgemein in Venezuela ist diese Krise sehr heftig.

Interessant fand ich euren Ansatz, einerseits einen Fonds für private Autoreparaturen einzurichten, andererseits Privatfahrzeuge zu kollektivieren. Für viele Leute in Deutschland wäre das undenkbar. Gelingt es auf diese Weise, den Transport bei Cecosesola aufrechtzuerhalten?

Lizeth: Das hat sich aus der Praxis entwickelt. Wenn Compañeros bei mir in der Nachbarschaft wohnen, nehme ich sie zum Markt oder zum Gesundheitszentrum mit. Wir haben Fahrgemeinschaften gebildet. Bei dem Fonds ist es jetzt ein wichtiges Kriterium, dass das Fahrzeug auch für Fahrgemeinschaften und kollektive Aktivitäten genutzt wird. Das war nichts Erzwungenes, weil wir es sowieso schon praktiziert haben. Aber mit Compañeros und Compañeras, die dem Fonds beitreten und diese Praxis vielleicht noch nicht hatten, wird es jetzt so vereinbart. Das Kriterium wird also nicht aufgezwungen, sondern es entwickelt sich in der Praxis für die zukünftigen Mitglieder.

Zurzeit begeistern wir uns gerade für Fahrräder. Wir wollen uns mit Fahrrädern fortbewegen, weil wir den Klimawandel und alles, was mit dem Planeten passiert, jetzt viel ernster nehmen. Greta Thunberg hat uns motiviert. Fahrräder sind eine reales Fortbewegungsmittel, besonders in einer Stadt wie unserer, die ziemlich flach ist. Wir haben zwar noch keine Fahrradwege und auch keine Kultur des Respekts gegenüber Fahrradfahrer*innen. Aber heute sind sowohl ich als auch Noël mit dem Fahrrad hierher gefahren.

Ist es denn einfach, an Fahrräder zu kommen?

Jorge: Das ist auch nicht einfach, aber wir freuen uns, dass wir das Thema am Ende des Aufenthalts von Yaneris und Felipe angesprochen haben, die im Rahmen unseres Austauschs mit den Kommunen Lossehof, Karlahof und Ulenkrug hier waren. Die Compañeros dort gucken jetzt, was sich da machen lässt.

Lizeth: Eine erste Idee besteht darin, mit Hilfe einer Kampagne Räder zu sammeln, die nicht benutzt werden, wie sie es auch in den Kommunen in Deutschland machen, die Jorge gerade genannt hat. Compañeros, die sich dafür interessieren, fragen bei Freunden und Bekannten nach. Ich habe fast mein ganzes Urlaubsgeld in ein Fahrrad investiert. Es ist ein günstiges Fahrzeug. Seit meiner Trennung lebe ich allein, und das Geld ist etwas knapp. Den Fonds für Autos kann ich mir nicht leisten, weil dort für die Kredite 20 Prozent der wöchentlichen Auszahlung fällig sind, und das ist für mich viel. Ich kann dort also keinen Kredit nehmen, weil ich ihn nachher nicht zurückzahlen kann.

Ist das mit den Fahrrädern die Idee von ein paar Verrückten oder ist sie bei Cecosesola schon verbreitet?

Lizeth: Tatsächlich habe ich das als Verrückte angefangen. Ich bin die erste Frau, die mit dem Rad zu den Märkten fährt. Gründe waren für mich die Sorge um den Planeten, und dass ich mein Auto nicht mehr halten konnte, aber auch wusste, dass es viel CO2 produziert. Anfangs hieß es: „Du bist ja verrückt, das ist doch viel zu gefährlich.“ Ich habe mir das Fahrrad gekauft und möchte jetzt auch andere Compañeras dazu motivieren. Der öffentliche Nahverkehr wird immer teurer. Das Geld spare ich damit.

Jorge: Du kannst dir sicher vorstellen, dass diese Frage bei uns sofort wieder Anlass für Reflexionen war. Wir haben bereits Erfahrung damit, dass wir Dinge erreichen können, wenn eine kleine Gruppe Verrückter es sich vornimmt. So lief das auch beim Projekt der natürlichen Geburten in unserem Gesundheitszentrum CICS. Andererseits wollen wir kein Schwarz-Weiß-Denken. Nicht alles, was teuer ist, soll verboten werden. Wir diskutieren darüber, wie wir das ökologische Prinzip der Komplementarität umsetzen können. Dort, wo wir Motorfahrzeuge wirklich brauchen, wollen wir zu einem kollektiveren und rationaleren Gebrauch kommen.

Lizeth: Bei der nächsten Versammlung wollen wir vier Projekte zu den Fahrrädern vorschlagen. Das erste ist eine Fahrrad-Schule, um das Fahrradfahren zu lernen, weil manche Compañeros das nicht können. Dafür haben wir schon zehn Fahrräder. Dann wollen wir bei den Märkten und am CICS Fahrradständer aufstellen. Dank Jorge haben wir die Sammlung für den Fahrradfonds bereits begonnen. Wegen seiner Hüftoperation braucht er ein Damenfahrrad. Sein Herrenrad, das er nicht benutzt, hat er einer Compañera gegeben. Der Fonds sammelt nicht nur Geld, sondern auch Fahrräder und Ersatzteile für Reparaturen.

Jorge: Durch das Fahrradprojekt ist der Austausch mit den Compañeros in Deutschland viel konkreter geworden. Wir diskutieren nicht mehr nur allgemein über den Klimawandel, sondern haben die Hoffnung, dass wir „Lösungen“ im Kleinen gemeinsam angehen können.

Wegen der Krise haben Millionen Menschen das Land verlassen. Sind bei Cecosesola auch viele gegangen? Sind das eher individuelle Entscheidungen, oder wird das diskutiert?

Lizeth: Etwa 130 Compañeros und Compañeras haben Cecosesola verlassen, weil sie ins Ausland gegangen sind oder sich für andere Wege entschieden haben. Wir sprechen darüber auf den Versammlungen, über die Gründe und die Gefühle, aber es bleibt eine persönliche Entscheidung.

Jorge: Das sind manchmal sehr tiefgehende Diskussionen, auch schmerzhafte. Ich denke, es ist ein Zeichen der Zeit und des Individualismus, dass solche Entscheidungen selten in einem größeren Rahmen als dem familiären getroffen werden. Ohne nun gleich alles kollektivieren zu wollen, halten wir es jetzt mehr denn je für wichtig, dass wir unseren Enthusiasmus und Mut bewahren, Dinge gemeinsam zu tun. Von den 130 ist etwa die Hälfte ins Ausland gegangen. Das ist proportional weniger als im Landesdurchschnitt, wo bei einer Bevölkerung von 36 Millionen schätzungsweise vier Millionen ausgewandert sind.

Trotz Krise habt ihr es mit Unterstützung von medico international geschafft, im CICS ein Geburtszimmer zu bauen, um die Möglichkeit anzubieten, natürlich zu gebären, und dies anstelle der im Land üblichen Kaiserschnitte zu propagieren.

Jorge: Der Raum ist fast fertig. Vorgestern wurden die Türen montiert. Das klingt banal, aber das war ein Kraftakt, weil statt der veranschlagten 17 Millionen Bolívares plötzlich 26 Millionen für die Türen verlangt wurden. Die Unterstützung, die wir von medico bekommen haben, hat wegen der Geldentwertung nicht wie anfangs geplant für die gesamten Kosten gereicht. Das ist eine große Eigenleistung geworden, aber das ist auch nicht schlecht. Unser Prinzip der Selbsthilfe wollen wir nicht aufgeben, auch wenn es dann länger dauert. Wir werden den Raum in Kürze benutzen können. Schön ist, dass die Kurse zur Geburtsvorbereitung gewachsen sind. Jede Woche kommen etwa 20 Frauen und Paare. Wir überlegen nun, aus dieser Gruppe heraus einen solidarischen Fonds zu schaffen für diejenigen, die nicht genug Geld haben, um im CICS auf natürliche Weise neues Leben zur Welt zu bringen.

In Krisenzeiten kann es im schlimmsten Fall zu einem „Rette-sich-wer-kann“, zu einem Kampf aller gegen alle kommen, oder aber zu neuen Formen von Kollektivität. Bei Cecosesola gelingt es bislang offensichtlich, solidarische Wege zu finden. In eurem neuen Video sind dafür zahlreiche Beispiele zu sehen.

Lizeth: Teilen ist im Überfluss viel einfacher als in einer Mangelsituation. Wir reden ständig darüber, wie wir Lösungen finden können. Dabei sind schöne Diskussionen entstanden über den Individualismus, das Streben nach der Anhäufung von Dingen und die Konkurrenz, die in uns allen stecken. Diese Krise hat uns neue Erfahrungen gebracht. Wir hatten Versammlungen, bei denen wir anhand dieser Erfahrungen im Alltag zu viel genaueren Reflexionen gekommen sind. Das ist ein interessanter Prozess. Man sagt, dass in der Krise die wahren Chancen liegen. Das können wir bestätigen. Die Chance, kreativer und untereinander kritischer zu sein und uns in diesem Prozess gegenseitig zu begleiten.

Noël: Wir versuchen, kollektive Lösungen für die Probleme zu finden. Wir versuchen es. Es gibt immer Momente, in denen Einzelne sich individuell retten. Wir reden darüber und nehmen das zum Anlass, über weitere Veränderungen nachzudenken. Darum sind wir hier, und darum bleiben wir hier.