Die Kultur der Straflosigkeit durchbrechen

Mit den internationalen Medienberichten über die Frauenmorde in Ciudad Juárez an der nordmexikanischen Grenze seit Mitte der 1990er-Jahre hatte sich zunächst die öffentliche Aufmerksamkeit für die gefährliche Situation in Mittelamerika erhöht. Doch regionale Studien und Statistiken wie die im Vorspann erwähnte Untersuchung der UN zeigen nun, dass nicht nur in Mexiko, sondern de facto in der gesamten Region Zentralamerika ein Anstieg der machistisch geprägten, geschlechtsspezifischen Gewaltanwendung gegen Frauen zu beklagen ist. In Zahlen des vergangenen Jahrzehnts heißt das, dass in Guatemala von 2001 bis 2010 über 5900 Frauen an den Folgen häuslicher Gewalt oder aufgrund eines Tötungsdelikts starben. [fn]vgl. www.ci-romero.de/guatemala_frauenstimmen[/fn] Doch allein im Jahr 2011 waren in Guatemala bis zum internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, am 25. November, schon über 650 Frauen an den Folgen von Gewalt gestorben. In Honduras waren es im gleichen Jahr über 240, in El Salvador mehr als 400. Dabei muss die Höhe der Opferzahlen im Vergleich zu der niedrigen Bevölkerungszahl von durchschnittlich fünf bis maximal sechs Millionen Menschen in den meisten der Länder auf dem Isthmus gesehen werden.

Doch nicht nur in den Ländern des gewaltvollen „nördlichen Dreiecks“ Guatemala, Honduras und El Salvador ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein gesellschaftliches Problem, sondern auch in den als relativ gewaltarm geltenden Ländern Nicaragua, Costa Rica und Panama wird die schwere häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen immer mehr zu einer alltäglichen Bedrohung. Hinzu kommt eine erschreckende Zunahme von Tötungen, die sich gezielt gegen das weibliche Geschlecht richten, die Femicidios oder Feminicidios. Die nicht nur in Mexiko ansteigende Mordrate an Frauen durch Männer, die in den meisten zentralamerikanischen Ländern von den Regierungen meist ganz explizit geduldet und selten bestraft werden, ist alarmierend. Und noch eine Tendenz, die in der gesamten Region um sich greift, sollte nicht verschwiegen werden: es ist die Homophobie und Verfolgung nicht-heterosexueller Menschen. Die Situation von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) durch Kriminalisierung und soziale Marginalisierung wird insbesondere im nördlichen Dreieck teilweise als hochgradig gefährdet beschrieben.

In der seit einigen Jahren mit zunehmender, aber immer noch nicht hinreichenden Intensität geführten internationalen Debatte um die Hintergründe, Ursachen und die gesellschaftliche Verantwortung für diese Gewalt gegen Frauen stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber: Auf der einen Seite werden gerade in den besonders von Gewalt gekennzeichneten Ländern des nördlichen Dreiecks die Ursachen einer allgemeinen Gewaltbereitschaft und der ohnehin hohen Kriminalitätsrate sowie den Drogenkonflikten zugeschrieben. Hingegen sehen MenschenrechtsaktivistInnen und Frauenorganisationen in dieser Begründung eher eine bewusste Vernachlässigung der Tatsache, dass die entscheidende Ursache des Femizids das noch immer von Macho-Denken und patriarchalischen Strukturen geprägte Rollenverständnis in den Gesellschaften der Region ist.

Richtig ist zwar, betonen VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen, dass es ein länderspezifisches Problem der organisierten Gewaltkriminalität gibt. Die Zahlen machen deutlich, dass die systematische sexualisierte Gewalt gegen Frauen durch die Pandillas (Banden) und die Drogenkartelle sehr viel häufiger in den gewaltintensiven Ländern auftritt, also entlang der Rutas de la cocaina. (Transitwege für Kokain) Trotzdem ist es sehr wichtig, die von den Drogenkartellen ausgehende Gewalt nicht als Standarderklärung stehen zu lassen. Denn das organisierte Verbrechen vor allem gegen junge Frauen wird von den vielen untätigen Behörden und staatlichen Institutionen in den jeweiligen Ländern buchstäblich wie ein „Totschlagargument“ für ihr eigenes Nichtstun verwendet und soll den fehlenden politischen Willen legitimieren, wie Menschenrechts aktivistInnen vor allem in Guatemala, El Salvador und in Honduras kritisieren. Da aber auch in Ländern niedriger Gewaltintensität wie Nicaragua und auch abseits der Wirkungskreise von Maras (Jugendbanden) und Pandillas ritualisierte Femizide und sexuelle Folter offensichtlich zunehmen, versuchen zivilgesellschaftliche Akteure, die Parallelen und die Zusammenhänge von struktureller Gewalt in der Gesellschaft aufzuzeigen.

Da ist einerseits die zunehmende spezifische tödliche Gewalt gegen Frauen, und andererseits wird die soziale Praxis des Krieges im Alltag fortgesetzt: So zirkulieren zum Beispiel in Guatemala ca. 1,5 Mio. zum Großteil nicht registrierte Waffen, und im Parlament ist bislang keine Mehrheit für die Abschaffung der Todesstrafe zustande gekommen.

Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen ist marode und steckt in einer tiefen Krise. Der Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge verhindert, dass weite Teile der armen städtischen, ländlichen und indigenen Bevölkerung Zugang zu grundlegenden öffentlichen Gütern erhalten. Es fehlt an gesellschaftlichen Schutz- und Beteiligungsstrukturen für die weithin vom Bürgerkrieg traumatisierte indigene Bevölkerung. Die jahrzehntelange Erfahrung von Straffreiheit für staatliche und militärische Gewalt sowie ein weiterhin korruptes Polizei- und Justizwesen schaffen ein Klima der Verunsicherung und des Misstrauens. Staatliche Gewalt richtete sich während des Bürgerkriegs vor allem gegen indigene Frauen. Vergewaltigung war eine häufig angewandte „Kriegsstrategie“.

Übergriffe und sexuelle Gewalt durch Polizei, Militär und/oder sogenannte Sicherheitskräfte in der Region tritt in den gewaltintensiven Ländern Guatemala, Honduras und El Salvador immer noch (bzw. in Honduras erneut) auf und ist auch ein Strukturmerkmal von männlicher Gewalt. Andererseits wird auch in Panama von staatlichen Übergriffen berichtet; und so sollte nicht nur die aktuelle demokratische Verfasstheit eines Landes analysiert werden, sondern auch die historische Rolle, die Militär und Sicherheitskräfte in dem jeweiligen Land und in der zentralamerikanischen Gesellschaft hatten und haben. Ein weiterer Aspekt der Gewaltursachen darf nicht vernachlässigt werden: Auch die Tatsache, dass sich die geschlechtsspezifische staatliche Gewalt vor allem gegen verletzliche und diskriminierte Bevölkerungsgruppen wendet und massiv Indigene, Schwarze und arme Frauen sowie LSBTI und Frauen im Transit und in der Migration betrifft, also Menschen, die oft weitgehend von Rechten, Ressourcen und Teilhabe der Gesellschaft ausgeschlossen sind zeigt, dass es ein mehrdimensionales gesellschaftliches Problem von regionaler Bedeutung ist.

In vielen Teilen der Welt und auch in Lateinamerika hat die jahrzehntelange Lobbyarbeit der internationalen Frauenbewegungen und Menschenrechts organisationen bewirkt, dass gesetzliche Regelungen eingeführt wurden, durch die die physische und psychische Gewalt eingedämmt werden sollte. Dabei sind erstaunlicherweise die Länder Lateinamerikas und der Karibik bereits seit mehr als zehn Jahren – und weit vor allen anderen Weltregionen – Vorreiter darin, Gesetze zur strafrechtlichen Verfolgung von Gewalt gegen Frauen zu initiieren. Schon Mitte des letzten Jahrzehnts hatten 88 Prozent aller Länder der Region ein spezifisches Gesetz gegen häusliche Gewalt geplant oder verabschiedet, und immerhin fast ein Viertel aller Länder dieser Region hatte spezifische Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch in Angriff genommen – in beiden Fällen sind das mehr als doppelt so viele normative Regelungen wie in Europa und den OECD-Ländern und mehr als viermal so viele wie in afrikanischen oder asiatischen Ländern, wie eine Studie von UNIFEM von 2005 belegt. Doch mangelt es in Zentralamerika (wie in vielen anderen Ländern auch) an der konsequenten Anwendung und Umsetzung der Gesetze. Und ein normatives Regelwerk allein bringt keinen Fortschritt, so lange wie die Strafverfolgung der Täter systematisch unterbleibt bzw. nicht gewollt ist und weder von den staatlichen Institutionen (der exekutiven und judikativen Gewalt) noch von einflussreichen gesellschaftlichen Institutionen, allen voran der Kirche, aber auch Lobbyverbänden und den Medien sonderlich unterstützt wird.

Diese Kultur der Straflosigkeit, die zur Verharmlosung von Gewalt und zur Nichtverfolgung der Täter führt, verhöhnt die Opfer. Das Phänomen ist zugleich Ursache und Folge geschlechtsspezifischer Gewalt und es schwächt alle Gegenmaßnahmen. Dabei ist diese systematische Straffreiheit für massive Verletzung von FrauenMenschenrechten nicht auf die Länder zu beschränken, in denen Militärdiktaturen und Bürgerkriege eine schwerwiegende Tradition der Straffreiheit für ehemalige Menschenrechtsverbrecher geschaffen haben. Sie ist vielmehr eindeutig eine regionale Erscheinung, wie die Auseinandersetzung um das Gesetz 779 in Nicaragua zeigt: Im Vergleich zu seinen Nachbarländern gilt Nicaragua hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen als „Hort der Sicherheit“.

Doch sind Gewalterscheinungen, einschließlich der Femizide, gemessen an der Zahl der Homizide insgesamt recht hoch. So hat jede zweite Frau in ihrem Leben bereits Gewalterfahrungen gemacht. Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher, weil die wenigsten Betroffenen die Verbrechen anzeigen – aus Angst vor den Tätern und vor der Untätigkeit der Behörden. Das Frauennetzwerk gegen Gewalt (Red de Mujeres contra la Violencia) wehrt sich gegen eine öffentliche Darstellung von „Verbrechen aus Leidenschaft“ und gegen eine Pathologisierung der Täter, die überwiegend aus dem engen familiären Umfeld stammen. Nach mehrjähriger Vorbereitungszeit und einigen gescheiterten Versuchen hat die Lobbyarbeit vieler Frauenorganisationen in Nicaragua jedoch Früchte getragen: Die Nationalversammlung verabschiedete im Januar 2012 ein Gesetz gegen Gewalt an Frauen, das neue Strafen für die Täter, aber auch Präventionsmaßnahmen und Hilfen für die Opfer vorsieht. Darin werden nicht nur verschiedene Formen von Gewalt gegen Frauen als neue Straftatbestände definiert (einschließlich des Feminizids), sondern es wird auch „Gewalt im Arbeitsbereich“

(violencia laboral) definiert. Doch den konservativen, männerbündlerischen Kräften gelang es, erfolgreich gegen das Frauenschutzgesetz 779 zu protestieren: Eingeklagt von einem „demokratischen“ Anwaltsverein, hat der Oberste Gerichtshof das Parlament im Juni 2013 zur Aufnahme einer Regelung aufgefordert, welche fortan Opfer und Täter zu der Teilnahme an einem Vermittlungsgespräch verpflichtet, um „Männer vor einer Vorverurteilung zu schützen“. Menschen- und Frauenrechtsverbände protestieren gegen diese Entscheidung. [fn]Eine kritische Darstellung der Proteste gegen das Gesetz und der öffentlichen Debatte ist auf der Website zu der Kampagne „Ya Basta – FrauenStimmen gegen Gewalt“ der Christlichen Initiative Romero zu finden: www.ci-romero.de/frauenschutzgesetz_779[/fn]

Die vielen gut gemeinten Präventionsprogramme und Gesetzesinitiativen, die einige Regierungen Zentralamerikas mittlerweile auf den Weg gebracht haben, können solange nicht wirken, wie der öffentliche Diskurs um die verheerende Gewalt gegen Frauen nicht auf der Grundlage eines Rechtsansatzes geführt wird. Dabei geht es jedoch nicht nur um die jeweilige nationale Gesetzgebung, sondern darum, ein Frauenleben in Gewaltfreiheit als unveräußerliches Menschenrecht zu verstehen. Die Aufhebung von Straffreiheit ist eine Grundvoraussetzung für die Bekämpfung der Gewaltkriminalität und der Gewalt gegen Frauen. Dieses Ende der Straffreiheit zu fordern bzw. die lange bestehenden Forderungen von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen aus Lateinamerika öffentlich zu stärken, wäre ein ebenso strategischer wie konkreter Ansatzpunkt für die Arbeit aller zivilgesellschaftlichen Akteure, auch in Europa.