Seit ich ihn letztes Jahr für mich entdeckt habe (vgl. Besprechung in ila 388), gehört der haitianische Schriftsteller Anthony Phelps zu meinen Lieblingsautoren. Eine der Besonderheiten seiner Literatur ist, dass in seinen Büchern nichts – oder zumindest kaum etwas – so ist, wie es zunächst erscheint. Das macht die Lektüre so faszinierend, erschwert es aber, über die Bücher zu schreiben. Denn der Rezensent muss natürlich etwas zum Inhalt des zu besprechenden Buches sagen, darf aber andererseits nicht zuviel verraten und keinesfalls Aufklärungen vorwegnehmen.
Phelps’ kürzlich im Litradukt-Verlag erschienener Roman „Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“, dessen französischsprachiges Original bereits 1976 in Montreal veröffentlicht wurde, spielt in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince unter der Herrschaft des Diktators François Duvalier. Im Volksmund wurde der frühere Arzt, der Haiti zwischen 1957 und 1971 mit äußerster Brutalität regierte, Papa Doc genannt, sein Sohn und Nachfolger (bis 1986) Jean-Claude Duvalier trug den Spitznahmen Baby Doc. Der alte Duvalier war nicht nur ein rücksichtsloser Potentat, sondern bezog offensichtlich ein besonderes Vergnügen daraus, seine politischen GegnerInnen zu demütigen und zu quälen. Das Instrument dafür waren die Tontons Macoutes, eine im ganzen Land präsente paramilitärische Organisation. Obwohl im Haiti der Duvaliers auch eine Polizei und eine Armee existierten, waren die Tontons Macoutes die eigentliche Macht im Staat. Abgesehen davon, dass sie dem Diktator absolut ergeben sein mussten und dafür zu sorgen hatten, dass sich keine Opposition regte, gab es für die Tontons Macoutes keine Regeln. Wenn ihnen ein Auto, ein Haus oder auch eine Frau gefielen, nahmen sie sich, was sie haben wollten.
In diesem Umfeld spielt Phelps’ „Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“, wobei man kaum von einer Handlung sprechen kann. Denn es passiert sehr wenig. Erzählt wird im Wesentlichen der Tagesablauf des Protagonisten und Ich-Erzählers Claude, einem nicht mehr sehr jungen Mann, der noch bei seinen Eltern lebt, genau genommen in einem Gartenhaus auf dem Grundstück der offensichtlich verarmten bürgerlichen Familie. Dort sitzt er den lieben langen Tag auf dem Balkon und beobachtet seine Umgebung. Nachts erschießt er gelegentlich von der Terrasse aus einige Tontons Macoutes, tagsüber verlässt er seinen Beobachtungsposten nur, um mit seinen Eltern zu essen oder heißen Sex mit der attraktiven Hausangestellten zu haben. Bereits bei der Beschreibung seiner „Abschüsse“ der plündernden und mordenden Tontons Macoutes und dann auch bei der Schilderung seiner sexuellen Eskapaden ahnt man, dass das von Claude Erzählte so nicht stimmen kann, und vermutet, dass da jemand seine erotischen und Machtphantasien zum Besten gibt.
Realistischer erscheint dagegen die Information, dass seine Schwester auf dem Gelände früher einen privaten Kindergarten betrieb. Den hatte sie schließen müssen, nachdem eines Tages Tontons Macoutes dort eingedrungen waren und zwei Kinder eines Oppositionellen entführt hatten, um deren Vater zu zwingen, sich zu stellen. Da die Schwester wusste, dass die beiden Geschwister Guy und Jacques Colin gefährdet waren, hatte sie sie noch verstecken können, als die Tontons Macoutes anrückten. Doch irgendjemand muss das Versteck verraten haben, denn am Ende gelang es den Paramilitärs trotzdem, die Kinder aufzuspüren und mitzunehmen.
Die Frage, wer den Aufenthaltsort von Guy und Jacques Colin preisgegeben hat, beschäftigt Claude ununterbrochen. Er vermutet, dass seine alte Mutter, die ihn Tag für Tag auf seinem Balkon zu einem Schwätzchen besucht, weiß, wer der/die Verantwortliche ist, und bedrängt sie, ihm den Namen zu nennen.
Unterdessen plant er, das zu tun, was getan werden muss, was sich aber niemand in Haiti traut, nämlich den verhassten Diktator zu töten. Mehr soll hier nicht zum Inhalt verraten werden, nur so viel, dass das Ende des Romans äußerst verstörend ist.
Mit dem schmalen Buch von gerade mal 110 Seiten ist dem Altmeister der haitianischen Gegenwartsliteratur (Jahrgang 1927) eine ganz große Parabel über den alle menschlichen Werte zerstörenden Charakter einer Gewaltherrschaft gelungen. Dabei gehört „Wer hat Guy and Jacques Colin verraten?“ keineswegs zum Genre des „Diktatorenromans“. Die Person François Duvaliers, des Großen Barons, wie er im Roman genannt wird, ist dem Autor nicht viel Raum wert. Ihn interessieren allein die Opfer und wie sie mit dem, was man mit und aus ihnen gemacht hat, fertig oder eben nicht fertig werden. Der österreichisch-belgische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Jean Améry hat einmal geschrieben: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“[fn]Jean Améry: Tortur, in: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1977, S. 73[/fn] Und genau das beschreibt Anthony Phelps in seinem Roman.
Die Last des Weiterlebens
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