Die Letzte der Schmetterlinge

Plötzlich drängte die Vergangenheit ins Bewusstsein, so als seien seitdem nicht vier Jahrzehnte vergangen. Belgíca Mirabal saß im Jahr 2000 im Garten des ehemaligen Wohnhauses ihrer Eltern in Ojo de Agua in der Nähe der dominikanischen Kleinstadt Salcedo und berichtete mir über die Ermordung ihrer drei Schwestern am 25. November 1960 durch Schergen des Diktators Rafael Leónidas Trujillo Molina – so lebendig und emotional, wie sie es wohl damals selbst erlebt hatte.

In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages sei ein Junge auf einem Maultier galoppiert gekommen, erzählte sie mit brüchiger, aber wütender Stimme. „¡Mataron las muchachas!“, habe er schon von weitem laut geschrien. „Sie haben die Mädchen umgebracht!“ Ihre drei Schwestern Patria (36 Jahre), Minerva (34) und María Teresa Mirabal (25) waren zusammen mit einem Fahrer brutal ermordet, der Anschlag als Autounfall getarnt worden. Während sie bei diesen Worten meinen Arm griff und fest drückte, spürte ich, wie sehr sie diesen Moment noch einmal durchlebte. Eine unauslöschliche Erinnerung.

Seitdem hat Belgíca Mirabal, die von allen nur Doña Dedé gerufen wurde, dafür gelebt, dass die Erinnerung an ihre ermordeten Schwestern nicht verblasst, die Mörder beim Namen genannt werden und das Vermächtnis von Minerva, Patria und María Teresa Mirabal nicht vergessen wird. Im Garten der Eltern – längst zu einem Museum umgewidmet – leben die „Schmetterlinge“ – Mariposas war der Tarnname der Schwestern – weiter. Sie sind dort beigesetzt. Am 1. Februar ist jetzt auch Belgíca „Dedé“ Mirabal, der vierte „Schmetterling“, im Alter von 88 Jahren an einer Erkrankung der Atemwege in Santo Domingo gestorben.

Es waren die letzten Jahre der Diktatur, als die vier Schwestern Teil der Widerstandsbewegung wurden. Die zweitälteste Minerva wurde Mitglied des Zentralkomitees der revolutionären „Bewegung 14. Juni“, die sich landesweit zum Sturz Trujillos organisierte. Im Mai 1960 wurden dann Minerva und die jüngste der Schwestern gemeinsam mit ihren Ehemännern verhaftet. Monate später auf Druck der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) freigelassen, fuhren die beiden Schwestern gemeinsam mit der ältesten nach Puerto Plata an der Nordküste, um dort ihre nach wie vor inhaftierten Männer zu besuchen. Was sie nicht wussten, ihre Ermordung war bereits geplant. Dedé blieb zurück, um auf die Kinder aufzupassen – so überlebte sie.

Einschüchtern ließ sie sich nicht. Sie führte den Beerdigungszug trotz Polizeipräsenz an und sprach lauthals von Mord, wo andere dieses Wort nur hinter vorgehaltener Hand in den Mund nahmen. Verbotenerweise hatte sie sogar die Särge geöffnet, um Spuren des Verbrechens zu finden und zu sichern. Sie hatte sogar heimlich ihrer Schwester María Teresa den Zopf abgeschnitten. In den Folgejahren kümmerte sich „Dedé“ Mirabal nicht nur um die Erziehung ihrer eigenen drei Kinder, sondern auch um diejenigen ihrer Schwestern. Nachdem die Eltern gestorben waren, wurde das Wohnhaus nach und nach zu einem Museum umgebaut. In ihm wurden nicht nur persönliche Erinnerungs- und Kleidungsstücke ihrer Schwestern ausgestellt, sondern auch selbst genähte schwarzgrüne Fahnen in der Farbe des Movimiento 14 de Junio, ein blutiges Handtuch und der Zopf. Ihrer Stimme konnten alle BesucherInnen des am 8. Dezember 1994 offiziell zum Museum erklärten Casa Museo Hermanas Mirabal lauschen. Mit ihren lebendigen Schilderungen bewegte sie Tausende von dominikanischen SchülerInnen. Nie wurde sie müde, Schulklassen persönlich in dem Museumsareal zu begrüßen und ihnen von den Ereignissen jenes 25. November 1960 zu erzählen. Heutzutage wird an jedem 25. November – auf Initiative von dominikanischen Feministinnen übrigens – auch offiziell mit einem UN-Gedenktag weltweit der Gewalt gegen Frauen gedacht.

Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie bei einem der vielen Besuche in ihrem Geburtsort Ojo de Agua, wo sie auf einer Finca lebte und Ökokakao anbaute, am 16. August 1994 erzählte, wie sie in der ersten Reihe bei der Vereidigung der neuen Regierung der Partei der Dominikanischen Befreiung (PLD) saß. Nach der Vereidigung des neuen Staatspräsidenten Leonel Fernández wurde Dedés Sohn Jaime David auf die Bühne gerufen und auf das Amt des Vizepräsidenten eingeschworen. Und wenige Tage später nahm Minou Mirabal, die Tochter ihrer Schwester Minerva, als stellvertretende Außenministerin ihr Büro in einer ehemaligen Villa des Trujillo-Clans ein. 

Ein später Sieg, Jahrzehnte nach der Ermordung ihrer Schwestern. Fast 55 Jahre nach jenem Tag im November ist jetzt auch die Stimme von Belgíca „Dedé“ Mirabal verstummt. Unter Tränen las ihre Adoptivtochter Minou Mirabal auf der Beisetzung auf dem Friedhof von Salcedo aus einem Brief an die Verstorbene vor: 

„Als von einem Moment zum anderen deine drei Schwestern durch brutale Schläge das Leben genommen, sie zu verstummten Körpern wurden, hast du dafür gesorgt, dass sie niemals vergessen wurden. Du hast von allen Dächern in alle Himmelsrichtungen und für alle hörbar ‚Mörder’ geschrien und dieser Dominikanischen Republik, die deine war, deine Empörung geschenkt. … Du warst diejenige, die den Zopf abschnitt, den eine ganze Nation in ihrer Feigheit gefesselt hatte. Du warst es, die auf die Ladefläche des Wagens stieg, der deine leblosen Schwestern zum Friedhof brachte, du warst es, die für immer die Geschichte einer in ihren eigenen Fehlern versklavten Nation entwirrt hat.“