Mit Finanz- und Hegemoniekrisen des Neoliberalismus hat die lateinamerikanische Linke weit mehr Erfahrung als die europäische. Als in Europa noch darüber diskutiert wurde, ob der Höhenflug der New Economy die Überwindung klassischer Konjunkturzyklen signalisiere, stand der argentinische Staat bereits kurz vor seinem finanziellen Bankrott. Und während die materielle Privatisierung des bundesdeutschen Schienenverkehrs noch längst nicht vom Tisch ist, gehen einige lateinamerikanische Regierungen zur Renationalisierung strategisch wichtiger Wirtschaftssektoren über. Mehr noch: Bei den für derartige Maßnahmen verantwortlichen PolitikerInnen handelt es sich häufig um ehemalige AktivistInnen aus den sozialen Oppositionsbewegungen. Ist diese Vielzahl bemerkenswert synchroner Regierungswechsel nicht etwas völlig anderes als klassische Elitenzirkulation?
Zwei unlängst im Hamburger VSA-Verlag erschienene Bücher haben das Spannungsverhältnis von Staatlichkeit und Autonomie zum Thema, in dem sich die Linke – nicht nur in Lateinamerika und nicht erst in diesem Jahrzehnt – bewegt. Beide Studien geben Auskunft über historische Hintergründe, Praxisformen und Zukunftsaussichten linker Politik und beantworten Fragen, mit denen sich auch europäische Linke auf unverhoffte Weise konfrontiert sieht: Welche politischen Chancen eröffnen sich durch die Krise des Neoliberalismus? Wie verhält sich linke Regierungsbeteiligung zur Dynamik außerparlamentarischer Bewegungen? Was macht die Staatsmacht mit der lateinamerikanischen Linken? Und vor allem: Gibt es bereits einen real existierenden „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“?
Die in der Festschrift für den marxistischen Lateinamerikaexperten Dieter Boris zusammengefassten Antworten auf diese Fragen fallen zwiespältig aus. Der von Anne Tittor und Stefan Schmalz herausgegebene Band überzeugt durch schlüssige Komposition sowie dadurch, dass modischen Bekenntnissen durchgängig die besseren Argumente vorgezogen werden. Deutlich wird in den verschiedenen Länderstudien auf der einen Seite, dass der Erfolg vieler progressiver Formationen weniger der Ausgangs- als vielmehr der Kulminationspunkt linker Mobilisierungen ist. Diese gehen häufig bis auf den Widerstand zurück, den soziale Bewegungen gegen Menschenrechtsverletzungen, Arbeitslosigkeit und Armut seit den 1980er Jahren geleistet haben. Skeptisch zeigen sich viele Beiträge auf der anderen Seite auch, wenn die Handlungsspielräume linksgerichteter Regierungen überschätzt werden: „Selbst wenn das instrumentelle Verhältnis, das Parteien und Gewerkschaften zu sozialen Bewegungen hatten, vielerorts überwunden scheint und neue Formen der Kooperation erprobt werden, verlieren diese oft nach Zeiten hoher Mobilisierung an Dynamik und suchen Wege aus dem Dilemma, sich einbinden zu lassen oder in die Marginalisierung zu fallen.“
Die Frage nach dem politischen Preis von Repräsentanz und Institutionalisierung stellt sich vor allem deshalb, weil auch Weltbank und IWF seit längerem über die Legitimationskrise des Neoliberalismus beraten. Symptomatisch hierfür sind Überlegungen, zu einem „New Deal“ für die Globalisierung zu kommen, wie sie etwa vom Establishment-Organ Foreign Affairs vorgetragen werden. Neokorporatistische Modelle wie diese sorgen dafür, dass Einführungen zur Geschichte der lateinamerikanischen Linken längst nicht nur von historischem Interesse sind. Immerhin hatten sich revolutionäre und reformistische Kräfte in der Zeit zwischen den 1930er und den 1970er Jahren gleichermaßen mit der explizit nicht-liberalen Hegemonie importsubstituierender Industrialisierung auseinander zu setzen.
Wer einen gut geschriebenen Überblick über die wichtigsten Motive, ProtagonistInnen und Etappen lateinamerikanischer Emanzipationsbewegungen im 20. Jahrhundert sucht, trifft mit Romeo Reys Studie „Im Sternzeichen des Che Guevara“ eine solide Entscheidung. Zu Gute kommt dem Buch unter anderem die journalistische Erfahrung, die der Autor als langjähriger Lateinamerikakorrespondent deutschsprachiger Zeitungen gesammelt hat. Rey geht hart mit den Fehlern der lateinamerikanischen Linken ins Gericht – insbesondere mit denen der kommunistischen und der Guerillabewegung. „Bei diesen misslungenen Versuchen, den Umsturz mit brachialer Gewalt um jeden Preis herbeizuführen, ist viel Geschirr zerschlagen und nur wenig für die Sache der Revolution erreicht worden. Hunderttausende haben dabei Lateinamerikas Erde mit ihrem Blut getränkt. Wer dieser Hekatomben mit einem Minimum an Pietät und Rationalität gedenkt, wird sich in Zukunft gut überlegen müssen, wann der Zeitpunkt zum bewaffneten Aufstand gekommen ist.“ Gegenwärtige und zukünftige Emanzipationsbewegungen müssten sich aus diesem Grund unbedingt am Schlüsselkriterium demokratischer Form und Substanz messen lassen. Für die Vergangenheit der lateinamerikanischen Linken hat Rey demonstriert, dass ein solcher Gesichtspunkt nicht abstrakt ist, sondern an konkreten politischen Erfahrungen ansetzt.
Stefan Schmalz, Anne Tittor (Hg.): Jenseits von Subcomandante Marcos und Hugo Chávez: Soziale Bewegungen zwischen Autonomie und Staat. Festschrift für Dieter Boris, VSA-Verlag, Hamburg 2008, 254 Seiten, 20,80 Euro
Romeo Rey: Im Sternzeichen des Che Guevara: Theorie und Praxis der Linken in Lateinamerika, VSA-Verlag, Hamburg 2008, 246 Seiten, 18,80 Euro