Die Macht der Erwachsenen

Manfred Liebel und Philip Meade sind Mitgründer des Vereins ProNATs, der sich der „Solidarität mit arbeitenden Kindern und Jugendlichen“ verpflichtet. Beide arbeiten seit Langem zu Kinderrechten und haben umfangreich dazu publiziert. Manfred Liebel hat in der „ila“ immer wieder Beiträge zu Selbstorganisierungsprozessen von (arbeitenden) Kindern in Lateinamerika veröffentlicht (u.a. in ila 379, ila 381 und ila 389). Deshalb schien es naheliegend, sein neues Buch zu besprechen. Als ich darüber mit einem ila-Genossen diskutierte, stellten wir fest, dass der Untertitel zwar eine klare Vorstellung davon vermittelte, worum es in dem Buch ging, wir aber beide den Begriff „Adultismus“ noch nie gehört hatten. Auch die Autoren weisen darauf hin, dass das Phänomen zwar sehr alt ist, durchaus auch schon länger benannt und beforscht wird, aber der Begriff sich erst langsam durchsetzt. Deshalb betiteln sie das dritte Kapitel des Buches auch bewusst vorsichtig mit „Bausteine einer kritischen Theorie des Adultismus“. Allerdings fingen und fangen meine Schwierigkeiten bei der Besprechung viel früher an. Wie soll man als Vater von vier Kindern, der als Hausmann in weiten Teilen für deren „Erziehung“ mitverantwortlich gewesen ist, ein Buch über „die Macht der Erwachsenen über die Kinder“ auch nur lesen, ohne dass die eigenen Missgriffe und Fehler sichtbar werden? Oder, noch schlimmer, wenn man erkennt, dass man auch manches richtig gemacht hat, wie vermeidet man den Reflex: „Siehst du, es geht doch!“? Und wie schreibt man dann eine Besprechung, die dieses Persönliche draußen lässt, ohne die Lehren daraus außer Acht zu lassen?

Nun, die Autoren geben mit ihrem Stil eine große Hilfestellung. Sie gehen vorsichtig an ihr Thema heran und vermeiden apodiktische Urteile – mit der Ausnahme, dass sie es für unbedingt notwendig halten, die Macht von Erwachsenen über Kinder abzubauen. Sie wissen um die ebenso unbestreitbare Notwendigkeit, dass Kinder Begleitung durch Erwachsene brauchen, auf deren (Für-)Sorge angewiesen sind, und benennen immer wieder die Ambivalenzen, die daraus entstehen: „Das hier vertretene Verständnis von Kinderschutz geht keineswegs davon aus, dass junge Menschen immer am besten wüssten, was ihrem Interesse entspricht oder dass sie ihnen möglicherweise drohende Gefahren besser als Erwachsene erkennen und ihnen begegnen können. Doch es unterstellt eben auch nicht das Gegenteil, dass Erwachsene weitsichtiger als Kinder seien und immer im Interesse der jungen Menschen handelten.“ (S. 28) Das Zitat macht zwischen den Zeilen auch deutlich, dass es im Buch nicht wesentlich um Situationen geht, in denen Erwachsene Macht über Kinder ausüben, weil sie genau das wollen, weil sie also damit eigene Interessen und Bedürfnisse verbinden. Wichtig ist den Autoren vielmehr die Frage, „welche Unterschiede (zwischen Kindern und Erwachsenen – WR) konstruiert sind (also auf Vorurteilen basieren und als Vorwand für den Machterhalt der Älteren dienen), welche tatsächlichen Unterschiede gesellschaftlich bedingt sind (aber unter anderen Prämissen leicht aufzuheben wären) und welche Unterschiede biologisch bedingt, also unvermeidbar sind (aber nicht zwangsweise zur generationalen Hierarchie beitragen müssten). Zu letzteren zählen beispielsweise die Unterschiede zwischen der Sexualität von Kindern und der Sexualität von Erwachsenen, deren Leugnung zu sexualisierter Gewalt führen kann.“ (S. 348) Das Beispiel zeigt, dass das Ausleben von Machtgelüsten Erwachsener größtes Leid verursachen kann und dringend bekämpft werden muss. In diesem Sinne beziehen sich Liebel und Meade immer wieder positiv auf Kinderrechte und die UN-Konvention zum Schutz von Kinderrechten, auch wenn sie deren Schwächen durchaus sehen und ansprechen (speziell S. 268-275). Aber auch wenn es gelänge, solches Verhalten ganz oder weitestgehend zurückzudrängen, blieben strukturelle Ungleichheiten, gegen die „vorzugehen … nicht allein Aufgabe der von Adultismus betroffenen jungen Menschen sein (kann), sondern … genauso als Aufgabe von älteren Menschen betrachtet werden (muss)“ (S. 225).

Schwierigkeiten bestehen dabei gewiss nicht nur darin, dass „Adultismus so alltäglich (ist) und (Erwachsenen und Kindern) als so normal (gilt), dass er selten auffällt oder gar als Problem betrachtet wird“ (S 14). Auch der Umstand, dass jede*r Erwachsene selbst einmal als Kind Objekt von Adultismus war, kann dazu führen, dass er/sie „meint, er könnte wie seine Eltern und die Lehrer des Althergebrachten in der Innenschau seine eigene Jugend heraufbeschwören und so die jungen Menschen verstehen“ (S. 189, Margaret Mead zitierend). Obwohl also „kritisches Erwachsensein“ (S. 225-230) unabdingbar ist, um „Adultismus entgegen(zu)wirken“, so der Titel des 4. Kapitels, liegt ein entscheidender Impuls dennoch bei den Eigenaktivitäten der jungen Menschen selbst. Denen ist oft, aber längst nicht immer, bewusst, dass „Adultismus … seine Wirkung fast immer in Verbindung mit anderen Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen“ entfaltet (S. 37). Dabei finden sich alle Formen adultistischer Diskriminierung „nahezu überall in der heutigen Welt, aber sie treffen nicht alle Kinder in gleichem Maße“ (S. 95). Deshalb sind die eigenen Aktionsmöglichkeiten junger Menschen auch regional unterschiedlich. Die „Beispiele nicht-adultistischer Beziehungen“, die es „in indigenen Kulturen“ gab oder ansatzweise gibt (Zitat S. 63, Beispiele S. 59-63), zeigen, dass Alternativen möglich wären. Einige werden insbesondere im Abschnitt „Wie junge Menschen den Adultismus infrage stellen“ (S. 310-340) betrachtet. Im Hinblick auf Lateinamerika von besonderem Interesse sind die dort seit Ende der 70er-Jahre entstandenen Selbstorganisierungen arbeitender Kinder (Überblick bei https://pronats.org/), aber auch Beispiele aus Bolivien, Nicaragua, Kolumbien und Peru.

Ein heute weitgehend unbekanntes Beispiel für „Gewalt und Diskriminierung gegen Kinder in der postkolonialen Epoche“ (S. 56-59, meist unter Berufung auf Yolanda Corona Caraveo) stellten die „Panamerikanischen Kongresse des Kindes“ dar, die seit 1916 in Lateinamerika veranstaltet wurden. Sie zielten darauf, „die Rasse zu verbessern“, und betrafen vor allem, „mestizos“ und „criollos“. Ging es zunächst darum, „die natürlichen Defekte mit eugenischen Maßnahmen und hygienischer Disziplin zu bekämpfen und zu korrigieren“, so setzte man ab 1942 „auf die Notwendigkeit, ,antisoziales Verhalten‘ durch erzieherische Maßnahmen“ zu beseitigen. Deutsche Kinderheime lassen grüßen.

Formal gliedert sich das Buch in fünf Kapitel, neben den schon erwähnten dritten („Bausteine“) und vierten („entgegenwirken“) geht es im ersten um „eine erste Annäherung. Was ist Adultismus?“ und im zweiten um „Adultismus in gesellschaftlichen Praxen“. Im fünften Kapitel wird ein „Ausblick“ versucht: „Auf dem Weg zu einer adultismusfreien Gesellschaft“. Tatsächlich geht es dabei vor allem um die knappe Widerlegung bekannter Einwände gegen das Konzept.
Das Buch ist nicht einfach zu lesen, was weniger mit Stil oder Inhalt zu tun hat als mit der Materie und dem bisherigen Stand ihrer wissenschaftlichen Durchdringung und gesellschaftlichen Diskussion: „Eine adultismusfreie Gesellschaft ist für die meisten Menschen schwer vorstellbar.“ (S. 344) Manche werden sich beim Lesen mit eigenem Fehlverhalten konfrontiert sehen, viele werden innere Widerstände überwinden müssen, vermutlich alle werden mit neuen Gedanken konfrontiert. Vielleicht ist auch noch nicht alles zu Ende diskutiert und Widerspruch berechtigt.

Aber um Bedürfnisse und Lebensinteressen junger Menschen ernst zu nehmen, kann diese Veröffentlichung gewiss notwendige Debatten anregen.