Die europäische Kommission versucht die alarmierenden Ausmaße des Lobbyismus in der EU durch eine neue Transparenzinitiative einzudämmen. Der Einfluss, den private Berater auf EU-Angestellte und Europaabgeordnete ausüben, ist beträchtlich. Die neuen Vorschriften sollen die skandalösen Fälle unterbinden, in denen die großen transnationalen Konzerne Europas und der USA wie Shell, ExxonMobil, Total, Coca-Cola, Microsoft, Wal-Mart, Pfizer oder Suez offen Einfluss nehmen, um Gesetze und Maßnahmen nach ihren Interessen auszurichten.
Der Fall des ehemaligen Europaabgeordneten Rolf Linkohr ist beispielhaft. In den letzten zwei Jahren konnte der deutsche Sozialdemokrat als „Berater“ der Energie- und Nuklearindustrie agieren, während er gleichzeitig das Amt des Sonderberaters des Energiebeauftragten der Europäischen Kommission, Andris Piebalgs, bekleidete. Sein Vertrag wurde Februar 2007 gekündigt, nachdem dieser Interessenkonflikt in den Medien bekannt wurde. Linkohr war seit 1979 Mitglied des Energieausschusses des Europäischen Parlaments. 1994 wurde er zum Präsidenten des European Energy Forum (EEF) ernannt, welches sich aus Europaabgeordneten und Führungskräften mächtiger Firmen wie Shell, ExxonMobil, Total, British Petroleum, Eon, British Nuclear Fuels und Areva zusammensetzt. In seiner Amtszeit beim EEF organisierte er 20 Dienstreisen zu verschiedenen Atomanlagen, um den Europaabgeordneten die Segnungen dieser fragwürdigen Energiequelle zu erklären. Kaum gab er das Amt Anfang 2005 ab, gründete Linkohr seine eigene Beratungsfirma, das Centre for European Energy Strategy, mit Sitz in Brüssel. Kurze Zeit später nahm er den Posten bei Piebalgs an, trat allerdings weiterhin für die Interessen seiner Klienten ein. Am 16. Januar 2006 trug Linkohr auf einer öffentlichen Sitzung in Straßburg sogar die Interessen von Electricité de France (EDF) zusammen mit zwei Angestellten dieser Firma vor. Dort unterstrich er die positiven Seiten des Baus des European Pressurized Reactor in der Normandie, einem Reaktor der letzten Generation.
Ich hatte Zugang zu Dokumenten, die belegen, dass Linkohr Lobbyarbeit zur „Förderung der Nuklearenergie“ in Lateinamerika leistete und sich für die Liberalisierung der Rohöl- und Erdgasmärkte in Mexiko, Venezuela und Bolivien einsetzte.
Die wichtigsten Lobbyverbände in der EU sind die European Public Affairs Consultancies Association (EPACA) – sie vertritt 34 transnationale Konzerne dieses Sektors, wie etwa APCO, Hill and Knowlton, Gplus, Burson Marsteller oder Weber Shandwick – und die Society of European Affairs Professionals (SEAP), welcher 200 Lobbyisten verschiedener Firmen angehören, z.B. ING, Toyota, Procter & Gamble, oder Lobbyplattformen wie der Verband der vereinigten Zementindustrie Cembureau, dem auch Cemex (Mexiko, drittgrößter Zementproduzent der Welt, Anm. d. Übers.) angehört. Beide Verbände lehnen die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen neuen Regelungen für mehr Transparenz kategorisch ab. Obwohl die Regelungen noch verhandelt werden, steht jetzt schon fest, dass die Lobbyunternehmen sich in Zukunft – auf freiwilliger Basis – in einer Datenbank registrieren lassen und die Namen der Klienten sowie die Höhe der bezogenen Zahlungen veröffentlichen müssen.
In einem Telefoninterview mit Proceso versichert Eric Wesselius, Mitarbeiter von Corporate Europe Observatory (CEO), einer bekannten holländischen Anti-Lobbyismusorganisation: „Der Lobbyismus sollte in einer demokratischen Gesellschaft transparent sein. Die Bürger sollten wissen, welche Personen von welchen Firmen mit welchen Beamten über welche Themen Lobbyarbeit betreiben und wie viel Geld dahintersteht. Zur Zeit ist es sehr schwierig, genauer zu wissen, was in Brüssel gerade passiert. Skandale werden nur zufällig aufgedeckt. Die freiwillige Registrierung reicht nicht aus, ist jedoch ein Schritt in die richtige Richtung. Der europäische Kommissar für Verwaltung, Audit und Betrugsbekämpfung, Siim Kallas, hat damit gedroht, dass in einem Jahr eine Registrierungspflicht eingeführt würde wie in den Vereinigten Staaten, wenn dieses freiwillige Registriersystem nicht funktioniert, weil die betreffenden Firmen sich nicht registrieren lassen wollen.“ Vorerst wird auf Initiative des europäischen Bürgerbeauftragten Nikiforis Diamandouros eine der als am fragwürdigsten geltenden Gewohnheiten unter Strafe gestellt: am 19. Juli 2007 verfügte er, dass die Identitäten der Lobbyisten und ihrer Firmen in keinem offiziellen Dokument mehr geheim gehalten werden dürfen.
Ein Bericht der Organisation Seattle to Brussels machte bekannt, dass 70 Prozent der Lobbyisten aus Brüssel direkt oder indirekt Unternehmensinteressen repräsentieren und bloß zehn Prozent NRO, Gewerkschaften oder Umweltschutz- und Gesundheitsorganisationen vertreten. Die verworrene Arbeitsweise des EU-Apparates begünstigt den privaten Sektor: „Ihre Lobbyisten und Führungskräfte haben Zugang zu exklusiven Arbeitsgruppen, wie z. B. den so genannten ,europäischen Arbeitskreisen‘, wo Vertreter der Industrie, des Einzelhandels und des Finanzsektors den Kommissaren und Ministern direkt gegenüber sitzen.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Sie nehmen auch an den 1800 Fachausschüssen der Europäischen Kommission teil, in denen sie die Beamten beraten, die dort die ersten Gesetzesentwürfe erarbeiten. Von den 80 000 Experten dieser Ausschüsse entfällt die Hälfte auf Regierungsbeamte und die andere auf Vertreter privater Verbände, mit großer Mehrheit Unternehmerverbände.“
Etwas Ähnliches geschieht in den so genannten „Industrieforen“ des Europäischen Parlaments, der anderen dem Lobbyismus ausgesetzten Institution. Eines dieser Streitforen ist das Transatlantic Policy Network, bestehend aus 70 Europaabgeordneten und 41 transnationalen Konzernen wie Coca-Cola, Microsoft, Wal-Mart oder Pfizer, geleitet von der deutschen Sozialdemokratin Erika Mann, die auch Präsidentin des Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschusses EU-Mexiko ist. Doch obwohl die großen Unternehmen durch ihre Lobbyisten im Zentrum der Macht sitzen, reicht ihnen das offenbar nicht aus und ein Skandal folgt dem anderen. Im März 2007 verbreitete die europäische Presse, dass der vermögende belgische Unternehmer Etienne Davignon als „Sonderberater“ des ebenfalls belgischen Kommissars für Entwicklung, Louis Michel, fungierte. Seine Aufgabe war es, Beraterfunktionen zur „Rolle der Privatinvestitionen in der Wirtschaftsentwicklung Zentralafrikas“ auszuüben. Davignon ist nämlich Vizepräsident und Aktionär von Suez, dem mächtigen Strom- und Wasserkonzern, dessen kommerzielle Interessen ebenfalls in dieser Region liegen.
Ein weiterer klarer Fall von Interessenkonflikt wurde im November 2006 bekannt. David Earnshaw, ein langjähriger Lobbyist von Oxfam, einer Organisation, die für Fairen Handel eintritt, wurde beim Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments unter Vertrag genommen, um als „unabhängiger Experte“ zu beraten. Er arbeitete für 4000 Euro einen Bericht aus, in welchem er das EU-Verbot für bestimmte Medikamente für neuartige Therapien[fn]Dazu gehören Gen- und somatische Zelltherapien sowie Gewebezüchtungen – Anm. d. Red.[/fn] scharf kritisierte. Das Problem bestand darin, dass Earnshaw inzwischen Direktor der Agentur Burson Marsteller ist, unter deren Kunden sich die Pharmakonzerne Novartis, Pfizer und GlaxoSmithKline befinden, und dass er für GlaxoSmithKline früher als Chef der Abteilung für Politische Angelegenheiten tätig war.
Am 19. Oktober 2006 wurde den Brüsseler Medien die Cancer United-Kampagne vorgestellt, angeblich von einer Koalition aus Ärzten, Krankenschwestern und Patienten ins Leben gerufen, um für breiteren Zugang zu Medikamenten für die Krebsbehandlung einzutreten. Die Kampagne forderte eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für den Kauf dieser Medikamente. Die britische Tageszeitung The Guardian fand heraus, dass in Wahrheit das Projekt vom Schweizer Unternehmen Roche finanziert wurde, dem größten Produzenten von Medikamenten gegen Krebs, welches seinerseits die Consultingfirma Weber Shandwick beauftragte. Die Kampagne war ein Fehlschlag.
Auch Forschungsinstitute oder Think Tanks sind vor den Tentakeln der Lobby und ihren undurchsichtigen Praktiken nicht sicher. Die Mehrheit veröffentlicht ihr Budget nicht, bei manchen ist es sogar top secret. Das unterstreicht die schon erwähnte niederländische Organisation CEO in einem Report, in welchem sie 20 dieser Einrichtungen untersucht: „Die Forschungsinstitute legen die politische Agenda der EU fest und nehmen Einfluss auf die politischen Debatten. Ihr Einfluss und ihr Ansehen sind offensichtlich, zieht man die breite Berichterstattung in Betracht, die sie von den europäischen Medien erhalten, sowie ihre zunehmende Präsenz in Brüssel“, gibt der Bericht zu Protokoll. Weiter warnt er: „Es ist offensichtlich, dass in der EU viele spezialisierte Think Tanks zum großen Teil von Lobbyverbänden finanziert werden, was ernsthafte Sorgen bezüglich ihrer Agenda und ihrer Unabhängigkeit weckt.“
Die Ölgesellschaft ExxonMobil, eine der schärfsten Gegnerinnen des Kyoto-Protokolls und jeder anderen Maßnahme gegen den Klimawandel, vergab fast 3 Mio. Dollar an 39 dieser Institute. In Europa stellte sie dem Centre for the New Europe 50 000 Dollar zur Verfügung, sowie dem International Policy Network 130 000. Ebenso spendete sie an den Lisbon Council und ans Stockholm Network und zahlte Jahresbeiträge in einer Höhe zwischen 5500 und 30 000 Dollar ans European Policy Centre, ans Center for European Policy Studies und an Friends of Europe. Diese wirtschaftliche Unterstützung durch den Öl-Riesen – er gewann 2006 den „Worst EU Lobbying Award“ – hat die Ausbreitung zahlreicher europäischer Think Tanks gefördert, die radikalen Neoliberalismus predigen: soziale Sicherungssysteme aufgeben, das Gesundheitswesen privatisieren oder die Steuern auf ein Minimum herabsetzen.
Das Center for the New Europe war 1993 das erste seiner Art, das in Brüssel ein Büro eröffnete, führt der CEO-Report aus. Ihm folgten das European Enterprise Institute, das Institut Economique Molinari, das Institut Thomas More sowie die europäischen Ableger US-amerikanischer Einrichtungen: der International Council for Capital Foundation und das Tech Central Station Europe. „Es kam zu wahren Lobbyistenaufläufen in Brüssel, als diese Institute beschlossen, eine klare Strategie zu fahren, um Einfluss auf die Debatten über die EU zu nehmen“, betont der Bericht. „So das International Policy Network (IPN) mit Sitz in London und das Institut Montaigne in Paris.“
In einem Workshop für Think Tanks in Brüssel, organisiert durch das Stockholm Network, „animierte“ Gray Conchar von IPN die Anwesenden angesichts der Schwierigkeit in Europa, private Spenden zu erhalten, „sich das Geld für ihre Lobbyarbeit bei den Verbänden zu holen“. „Das IPN, bekannt für seine aggressive Kampagne gegen das Kyoto-Protokoll, pflegt Gruppen von 20 potentiellen Spendern, vorzugsweise aus der Lobbywelt, zum Frühstück einzuladen. IPN wird auch aus den Vereinigten Staaten finanziert, deshalb empfiehlt es außerdem, seinem Beispiel zu folgen und eine US-Tochtergesellschaft mit karitativer Anerkennung zu gründen, weil das Steuern spart.“ In derselben Veranstaltung forderte IPN die Think Tanks auf, sich zwecks Unterstützung an die Atlas Economic Research Foundation mit Sitz in Virginia, USA zu wenden. Der Zweck jener Einrichtung ist, „die Idee des freien Marktes auf dem ganzen Planeten zu verbreiten“. Dafür werden Finanzen bereitgestellt, Workshops angeboten, Preise verliehen und technische Beratung erteilt, womit man ein Netz von 250 Think Tanks in 70 Ländern aufgebaut hat. Unter den Geldgebern des Netzwerks befinden sich Exxon-Mobil, der Tabak-Konzern Philip Morris und die John Templeton-Stiftung, die ihr Vermögen durch Investitionsfonds aufgebaut hat.