Sierra und Costa könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Vorurteile, die sich ihre jeweiligen Vertreter/innen gegenseitig mitsamt den abwertenden Bezeichnungen „Mono“ (von Seiten der Serranos[fn]Hier sollte erwähnt sein, dass schon der Begriff „Serrano“ je nach Tonlage häufig geringschätzig gebraucht wird.[/fn] für die Costeños) oder „Norro“ (von den Costeños für die Serranos) vorwerfen, wird einE jedeR der Hardliner der beiden Seiten als statistisch völlig nachweisbar und gerechtfertigt bezeichnen. So dass fünfundneunzig Prozent der Soldaten und PolizistInnen aus der Sierra stammen. Und überhaupt, fast alle Pfarrer und alle Schneider sind aus der Sierra. Dafür sind die Frauen der Costa leicht zu haben, und Costa-Männer haben meist Kinder in drei bis vier Familien. Fügen wir noch einige Beobachtungen hinzu, so ergibt sich als noch zu Verallgemeinerndes für das Gesamtbild: Serranos sind langsamer, sparsamer, stiller, verschlossener, korrekter, gesetzestreuer, vorsichtiger, geradliniger. Zugereiste würden sagen: Man versteht ihr Spanisch besser (ist schön langsam). Das an der Costa dagegen ist nicht unproblematisch für Sprachneulinge (weil viel zu schnell und ungenau). Und sonst: Costeños sind entsprechend lebenslustiger, schneller, risikobereiter, sie geben ihr am Tag verdientes Geld abends aus, freunden sich schneller an, lieben, streiten und sterben in kurzen Abständen (und aus Sicht der Serranos ohne nennenswerte Anlässe). Nach diesen Bewertungen eher erstaunlich, dass die Sierra traditionell politisch eher nach links und die Costa eher nach rechts tendiert.
Was auch immer von Vorurteilen grundsätzlich zu halten ist: In Ecuador gibt es Anlass zu denken, dass sie nicht aussterben werden. Ein Element ist natürlich, dass die etwa vierzig Prozent Indigenen Ecuadors zu ihrerseits neunzig Prozent in der Sierra leben; dazu wenige im Oriente und nur noch einige an der Küste. Ein zweites, dass fast alle Schwarzen an der Costa (vorwiegend in der nördlichen Provinz Esmeraldas) wohnen; Ausnahme ist das „Valle del Chota“, ein nur 1500 Meter hoch gelegenes Tal in der nördlichen Sierra, woher der Stamm der ecuadorianischen Fußballnationalmannschaft kommt. Und ein Drittes ist die Topographie: Es gibt keine Mittelgebirge, die ein kulturelles Bindeglied bilden könnten – gelebt wird am Andenwesthang mit nur ganz wenigen Ausnahmen auf 50 Meter oder auf 2500 Meter Höhe. Auch wenn inzwischen doch schon nicht wenige AndenbewohnerInnen an der Küste wohnen und auch umgekehrt ins Hochland umgezogen wurde – hierbei vor allem aus der Provinz Manabí –, so ist doch die völlig unterschiedliche Lebenseinstellung immer noch deutlich und markant. Und das gegenseitige Kennenlernen trägt auch nicht immer zum Abbau der vorgefassten Meinungen bei. Im Gegenteil.
Guayaquil und Quito sind die Hauptträger des Wettstreits zwischen Küste und Hochland. Die Hauptstadt ist gerade halb so groß wie Guayaquil und wirtschaftlich ebenfalls mehrere Nummern unbedeutender. Der Anschluss an den Welthandel geschieht traditionell über die Hafenanlagen Guayaquils, während Quito der Ruf der verschlafenen Stadt anhängt. Und auch die nicht über Guayaquil laufenden Güter wie Bananen oder Erdöl werden aus den Küstenprovinzen El Oro und Esmeraldas verschifft. Hinzu kommt, dass die Exportprodukte der Andenregion über Jahrhunderte vorwiegend handgefertigte Kleidung und Artesanía (Kunsthandwerk) waren, während die Küste stolz auf ihre Industrieproduktion war. Kurz (und aus Costa-Sicht): Guayaquil macht das Geld, aber Quito ist die Hauptstadt, und diese (auch aus Costa-Sicht) unangemessene Aufteilung des Landes beschwor immer schon Sezessionsabsichten herauf.
Die am 9. Oktober 1820 verkündete Unabhängigkeit Guayaquils war eine von der Spanischen Krone, und doch barg sie bereits die Option auf einen eigenen Stadtstaat: „(Art. 1) Die Provinz Guayaquil ist frei und unabhängig, und ihre Gesetze sind die gleichen, die zuletzt galten, insofern sie nicht der neuen Regierungsform entgegenstehen. (Art. 2) Die Provinz Guayaquil erklärt sich in völliger Freiheit zur Vereinigung mit der großen Assoziation, die ihr günstig erscheint von denen, die sich im südlichen Amerika ergeben. (Art. 3) Der Handel wird frei sein zu Wasser und Lande mit allen Völkern, die sich der freien Weise unserer Regierung nicht widersetzen.“ Mit dem Artikel 2 war schon Bezug auf ein Ereignis zwei Jahre später genommen worden, als sich am 27. Juli 1822 in Guayaquil Bolívar und San Martín trafen, um das weitere militärische Vorgehen zu beraten. Zwei Monate zuvor hatten die Spanier nahe Quito die entscheidende Niederlage im Vizekönigreich Neugranada hinnehmen müssen, und Bolívar schlug das selbstständige Guayaquil danach Quito (also dem damaligen Großkolumbien) zu, aus dem dann 1830 Ecuador werde sollte. Als ungebundene Provinz hatte Guayaquil unter José Joaquín de Olmedo an der Küste entlang sogar bis nach Peru und Kolumbien gereicht. Die unklare Situation Guayaquils beschwor Interessen Perus herauf, und 1828, 1859, 1941 und 1995 gab es militärische Konflikte zwischen den Nachbarländern.
Die Rivalität zwischen den Großstädten zog sich über das ganze 19. Jahrhundert; als die Regierung 1859 vorübergehend nach Guayaquil verlegt wurde, kam es zur offenen Konfrontation. Erst die Präsidentschaft von Eloy Alfaro mitsamt der von ihm geführten Liberalen Revolution von 1895 (die vor allem eine laizistische Bildung und Beschneidung der Macht der Kirche, aber auch den Übergang von feudalen Strukturen zu einer Exportorientierung auf kapitalistischer Basis mit sich brachte) gilt als ein gesamtstaatliches Projekt. Der 1842 in Montecristi (Manabí) geborene und 1912 von einem konservativen Mob in Quito gelynchte Alfaro war auch Bauherr der Eisenbahnlinie zwischen Guayaquil und Quito, die als Synonym für die Einheit des Landes betrachtet werden kann. Ebenfalls eine Art nationale Politik machte der aus Quito stammende fünfmalige (zwischen 1934 und 1972) Präsident José María Velasco Ibarra, dessen Populismus in Guayaquil auf starke Zustimmung stieß. Auch er setzte auf Infrastruktur: Das Straßennetz zwischen Bergen und Küste wurde ausgebaut.
Die neue Regierung von Rafael Correa will auch ein „Proyecto Nacional“ sein. Günstige Vorbedingung dafür ist der Umstand, dass Correa Guayaquileño ist, aber durch seine – wenn auch nach eigenen Aussagen bescheidenen – Quechua-Sprachkenntnisse auch bei den indigenen Völkern und damit im Hochland sehr beliebt ist. Und in der Tat hat seine Wahlorganisation „Alianza PAIS“ (Patria Soberana y Altiva – Souveränes und stolzes Vaterland) bei den Stichwahlen im November 2006 fast im ganzen Land gleichmäßig viele Stimmen gewonnen. Noch deutlicher war dieser Trend letztlich bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. September, als die Bewegung „Acuerdo PAIS“ sogar die rechte Hochburg Guayaquil mit sechzig Prozent der Stimmen nahm. In der neuen Verfassung soll nun möglicherweise eine regionale Neuaufteilung des Landes vorgenommen werden, um den Regionalismus als solchen zu überwinden. Es ist die Rede von großen Provinzen in Ost-West-Richtung, die also jeweils Küste, Hochland und Oriente umfassen. Dagegen spricht nicht nur, dass gerade vor wenigen Wochen erst zwei neue Provinzen (Santo Domingo und Santa Elena) eingerichtet wurden, sondern auch, dass dann womöglich jede Provinz ihren eigenen Außenhandel suchen wird.
Der Fall Santa Elena ist Teil der Auseinandersetzungen zwischen Costa und Sierra. Die neue Provinz bildet sich aus drei Kantonen, die vorher zur Provinz Guayas gehörten, deren Hauptstadt Guayaquil ist. Im Gegenzug für Entgegenkommen in anderen Fragen brachte Correa im rechts dominierten Kongress eine Mehrheit für die Provinzwerdung Santa Elenas zusammen, was in Guayaquil auch bei seinen UnterstützerInnen z. T. böses Blut machte. Mit der Schwächung von Guayas will Correa den Sezessionsdrohungen Guayaquils entgegenwirken, um von vornherein Szenarien wie in Zulia (Venezuela) und Santa Cruz (Bolivien) zu verhindern. Dort haben diese Territorien just nach der Etablierung der Linksregierungen Gefallen an einer Eigenständigkeit gefunden. In der Geschichte nicht nur Lateinamerikas lassen sich unzählige Beispiele für solcherart von außen unterstützten Sinneswandel finden. Tatsächlich hat im September 2006 in Guayaquil, unter Beteiligung von Bürgermeister Jaime Nebot, auch bereits ein Separatistentreffen mit Vertretern aus Zulia, Santa Cruz, Guayaquil sowie Loreto (Peru) stattgefunden. In der Schlusserklärung vom 15. September heißt es u. a.: „Wenn es auch im Moment nicht möglich ist, ein neues System begrenzter Regierungen – in Funktionen, Kompetenzen, Finanzen – zu bekommen, so können wir es doch regional anwenden. Und zwar in dem Maße, wie wir Autonomie haben, genügend für den Erlass von Normen und Regeln für uns selbst, ohne dass es nötig wäre Unabhängigkeit oder Abtrennung zu erreichen, die eine Sezession der Nationen bedeuten würde, die keiner will.“ Aus Sicht der Separatisten, die natürlich vorgeben, keine Separation zu wollen, sind dafür notwendig: politische Autonomie, administrative Autonomie, normative Autonomie, steuerliche Autonomie. Also eigene Wahlen, eigene Gesetze, eigene Geldmittel und deren selbständige Verwendung.
Solange Guayaquil in dieser Sache nicht vorankommt (und die Rechte mit den Ergebnissen zur Verfassunggebenden Versammlung entsprechend gedemütigt scheint), entfesselt sich eine Art Wettlauf der Obras Públicas, an denen jede Administration gemessen wird. An dem selben 30. Oktober, wo die Staatsregierung in Montecristi „Ciudad Alfaro“ eröffnet, das Gebäude, in dem die Verfassunggebende Versammlung tagen wird, wird in Guayaquil der neue Busbahnhof eingeweiht. Da Correa, hier Nebot. „Nur wahre Guayaquileños“ wollte Nebot bei einer anderen Feierlichkeit in Guayaquil sehen, weshalb der Präsident der Republik kurzerhand keine Einladung bekam. Die Brücke über die Flüsse Daule und Babahoyo, die Guayaquil mit dem Rest des Landes verbindet und ausgerechnet „Puente de la Unidad Nacional“ heißt, ist seit Monaten Streitobjekt hinsichtlich einer angeblichen Überlastung, weshalb Busunternehmen aus der Sierra einen großen Umweg in Kauf nehmen sollen. Und der 2006 umgebaute Flughafen Guayaquils heißt nun nicht mehr „Simón Bolívar“, sondern „José Joaquín de Olmedo“. Das darf politisch verstanden werden, wie auch die im Volksmund durchgesetzte Begrifflichkeit „Malecón 2000“ für die neue Uferpromenade, die nur noch im offiziellen Straßenverzeichnis „Malecón Simón Bolívar“ heißt. Da nimmt es nicht wunder, dass gerade über die Verlegung der Gebeine Eloy Alfaros gestritten wird: von Quito, wo er ermordet wurde, nach Montecristi, oder eine Hälfte da, eine Hälfte dort, oder besser ein Teil auch nach Guayaquil…