Anfang der 2000er-Jahre wurde in linken Zusammenhängen viel von den übernommenen Betrieben in Argentinien gesprochen. Vor allem in den Jahren der großen Krise 2001/2002 hatten argentinische ArbeiterInnen eine ganze Reihe insolventer Betriebe, in denen sie bis zu deren Konkurs beschäftigt waren, besetzt und die Produktion wieder aufgenommen. Was aus purer Not geschah, wurde von vielen internationalen BeobachterInnen schnell als Alternative zum Krisenkapitalismus abgefeiert. Einige Jahre später war von den selbstverwalteten Fabriken kaum noch die Rede. Waren die Projekte von Produktion unter Kontrolle der Belegschaften gescheitert? Keineswegs! Die meisten konnten sich bis heute halten, die Zahl der Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle ist in Argentinien in den letzten zehn Jahren sogar gewachsen. Anders als 2002/2003 mitunter dargestellt, waren sie allerdings nie ein Massenphänomen in der argentinischen Ökonomie, sondern nur eine kleine Nische. 2004 gab es 161 selbstverwaltete Unternehmen mit 6900 Beschäftigten, 2010 arbeiteten 9362 KollegInnen in 205 Betrieben.
Wir haben in der ila kontinuierlich über Argentiniens übernommene Betriebe, ihre Kämpfe um Legalisierung und ihre Probleme berichtet, auch dann noch, als anderswo nichts mehr darüber zu lesen war. Die meisten unserer Beiträge stammten aus der Feder von Alix Arnold, die nun zusammen mit Gabriele Schwab das Buch „Wir übernehmen“ von Juan Pablo Hudson (vgl. seinen Beitrag in dieser ila, S. 14-16) übersetzt und herausgegeben hat.
Der in der argentinischen Industriestadt Rosario lebende Autor hat seine Dissertation über selbstverwaltete Betriebe in der Provinz Santa Fe verfasst. Im Rahmen seiner Recherche besuchte er regelmäßig die übernommenen Betriebe in der Region und führte umfangreiche Interviews mit den ArbeiterInnen. Im Laufe der Zeit wurde aus dem Forscher ein Berater, der in den Betrieben beispielsweise Schulungen zu Kommunikationsstrukturen durchführte.
Das Buch „Wir übernehmen“ ist nicht die Dissertation Hudsons, auch keine bearbeitete Version selbiger. Es ist ein eigenständiges Werk, das Elemente eines literarisch-historischen Essays mit denen der Testimonial-(Zeugnis-)literatur verbindet, um einen kollektiven Entwicklungsprozess mit all seinen Widersprüchen darzustellen und nachvollziehbar zu machen. Dabei erzählen die ArbeiterInnen aus dem Großraum Rosario ihre Geschichten und stellen ihre unterschiedlichen Sichtweisen dar, während der Autor seine Reflexionen und Erkenntnisse einflicht. Mit Urteilen und Schlussfolgerungen hält er sich zurück, vielmehr lässt er die LeserInnen an den Lernprozessen, Enttäuschungen und Ängsten teilhaben, die er in den Begegnungen und Gesprächen mit den KollegInnen aus den übernommenen Betrieben erlebt hat. Der Autor nennt sein Buch eine „militante Untersuchung“, weil er keinen Blick von außen auf die betriebliche Realität wirft, sondern als Beteiligter die sozialen Prozesse analysiert und gemeinsam mit den KollegInnen Lösungsansätze für auftretende Probleme und Konflikte entwickelt.
Nahezu alle Betriebe standen bei der Übernahme durch die ArbeiterInnen vor der Situation, die Erich Mühsam 1911 im berühmt gewordenen Editorial der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Kain“ dargelegt hat: Diese Zeitschrift ist ganz ohne Kapital begründet worden, nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil kein Kapital da war.
Bevor sie Konkurs anmeldeten und sich aus dem Staub machten, hatten die alten Besitzer in Argentinien alles Kapital und verkäufliche Waren aus den Betrieben abgezogen. Damit sie nicht auch noch die Maschinen demontierten, mussten die KollegInnen die Betriebe besetzen und das Inventar rund um die Uhr bewachen.
Um die Produktion wieder aufzunehmen und sich am Markt zu behaupten, brauchte es zunächst Geld. Die ArbeiterInnen verfügten in der Regel nicht über nennenswerte Ersparnisse, zum einen, weil sie ohnehin nicht so viel verdient hatten, dass sie Vermögen hätten anhäufen können, zum anderen, weil ihnen die Eigentümer häufig schon vor dem Konkurs einige Zeit den Lohn schuldig geblieben waren. Das heißt, dass die bescheidenen Reserven vieler ArbeiterInnenfamilien längst aufgebraucht waren. Trotzdem waren es die KollegInnen, die das notwendige Geld zusammenbrachten, häufig bei Bekannten und Verwandten borgten, um die notwendigen Vorprodukte zu kaufen und dringende Rechnungen, etwa für Energie, zu bezahlen, damit sie die Betriebe ans Laufen bringen konnten. Oft hatten die neuen Arbeitskollektive in dieser Situation keine andere Wahl, als ihre Arbeitskraft und die betriebliche Infrastruktur privaten Unternehmern anzubieten und für diese zu produzieren. Die Kapitalisten stellten ihnen das Rohmaterial zur Verfügung und nahmen die Produkte ab, wobei sie natürlich versuchten, die Abnahmepreise ordentlich zu drücken. Das könnte man auch als Scheinselbstständigkeit bezeichnen. Manche übernommenen Betriebe arbeiten bis heute in dieser Weise als Arbeitskolonnen für Privatunternehmen, andere konnten Kredite ergattern oder etwas Kapital akkumulieren, um eigenständig produzieren zu können.
Da Banken den übernommenen Betrieben, deren Eigentumsverhältnisse nicht geklärt waren, keine Kredite gaben, standen außer einigen wenigen privaten Gläubigern nur staatliche Institutionen als Kreditgeber zur Verfügung. Hatten 2001/2002 Regierungsstellen die übernommenen Betriebe eher bekämpft und häufig mit Repression auf Besetzungen insolventer Firmen reagiert, veränderte sich die staatliche Politik nach der Regierungsübernahme Néstor Kirchners im Mai 2003. Die Regierung suchte den Kontakt zu den selbstverwalteten Unternehmen, unterstützte sie bei der Legalisierung und begann ihnen Zuschüsse, Kredite und Beratung anzubieten, mit dem Ziel, sie marktfähig zu machen. Dies verschaffte vielen Betrieben Luft, brachte sie aber auch in neue Abhängigkeiten, diesmal von staatlichen Stellen. Außerdem mussten sie als Voraussetzung der Legalisierung die Rechtsform von Kooperativen annehmen.
Für die gerade übernommenen Firmen schienen Kooperativen eine durchaus attraktive Organisationsform zu sein. Die ArbeiterInnen, die den Betrieb besetzt und mit großem persönlichen Einsatz wieder flott gemacht hatten, wurden Mitglieder der Genossenschaft und wählten die KollegInnen, denen sie vertrauten und deren Fähigkeiten sie schätzten, in den Vorstand und andere verantwortliche Positionen. Da sich die früheren Angestellten fast durchweg nicht an den Betriebsübernahmen beteiligt hatten, mussten in der Konsequenz bisherige ArbeiterInnen von jetzt auf gleich völlig neue Aufgaben wie Einkauf, Rechnungswesen, Buchhaltung und Auftragsakquise übernehmen. Damit veränderten sich die Beziehungen im Betrieb. Waren vorher alle ArbeiterInnen in der Produktion, übernahmen einige nun Funktionen, die bisher die leitenden Angestellten und Chefs ausgeübt hatten. Diese neue Arbeitsteilung führte zu Entfremdungen und Konflikten. Während die KollegInnen in der Produktion den neuen Verantwortlichen vorwarfen, den leichteren Job zu haben, weil sie nicht mehr körperlich arbeiten müssten und sich ständig bei Terminen und Versammlungen außerhalb der Fabrik herumtrieben, ächzten die Vorstände unter den umfangreichen neuen Aufgaben und Verantwortlichkeiten sowie den überlangen Arbeitstagen. Den KollegInnen in der Produktion warfen sie vor, kein Interesse an den Problemen der Verwaltung und Betriebsführung zu haben.
Ein weiteres Problem der Organisationsform „Kooperative“ tauchte in den selbstverwalteten Unternehmen auf, die sich konsolidieren und mit der Zeit sogar expandieren konnten. Sie brauchten zusätzliche Arbeitskräfte. Damit stellte sich die Frage, welchen Status diese neuen, meist jüngeren ArbeiterInnen haben sollten. In vielen Betrieben wollten die „alten“ KollegInnen, die mit großem persönlichen Einsatz die Kämpfe um die Besetzungen, Wiederaufnahme der Produktion, Legalisierung und Organisation der Kooperative geführt hatten, nicht, dass neue junge ArbeiterInnen Genossenschaftsmitglieder mit gleichen Rechten und Pflichten werden konnten. Da die argentinische Gesetzgebung Genossenschaften nicht erlaubt, dauerhaft Arbeitskräfte zu beschäftigen, gab es nur die Möglichkeit, die Neuen mit befristeten Arbeitsverträgen einzustellen. Die meisten, die so neu in die Betriebe kamen, verfügten, wie verschiedene im Buch veröffentlichten Testimonios zeigen, meist über schon längere Erfahrungen in prekären Arbeitsverhältnissen. Sie waren zuvor bereits JobberInnen, die versuchten, sich irgendwie durchzuschlagen, möglichst ohne sich bei der Arbeit besonders zu engagieren. Mit dieser Haltung agierten sie auch in den selbstverwalteten Betrieben. Die Mitglieder der Kooperative waren erbost, dass die Befristeten, im Buch immer als „Kids“ bezeichnet, die Arbeit in ihrem Betrieb wie jeden anderen Job betrachteten, und zum Beispiel häufiger blau machten.
Dazu stellte Hudson zunächst die These auf, dass es nur verständlich sei, dass die JobberInnen so agierten, weil ihre Situation nicht wesentlich anders sei als in anderen kapitalistischen Unternehmen. Dies musste er jedoch teilweise revidieren, als er feststellte, dass die Probleme auch in den Kooperativen auftraten, die die Neuen sofort aufnahmen und zu gleichberechtigten Mitgliedern machten.
Das Problem scheint also tiefer zu liegen. Die Voraussetzung, einen Betrieb mit übernehmen und führen zu wollen, setzt eine Identifikation mit diesem und damit auch die Akzeptanz der Fabrikdisziplin voraus. Bei der jüngeren, durch prekäre Erwerbsbiographien geprägten Generation ist diese Identifikation aber nicht mehr vorhanden. Während die Älteren schon als Jugendliche mit der unausgesprochenen Erwartung in die Betriebe gekommen waren, dort bis zur Rente zu arbeiten, kommen heute junge ArbeiterInnen mit dem Bewusstsein, bestenfalls ein paar Monate zu bleiben und dann den nächsten Job anzunehmen. Die Idee und der Wille, sich die Arbeit gemeinsam ohne Chefs und Eigentümer selbst zu organisieren, sind aber wesentliche Grundlagen aller klassischen sozialen Emanzipationsmodelle, egal ob sozialistisch-kommunistischer oder anarchistisch-kooperativer Spielart. Wenn es nun eine neue Generation von ArbeiterInnen gibt, die diese Vorstellung überhaupt nicht mehr teilen, muss die Frage sozialer Utopien und Emanzipationsmodelle völlig neu diskutiert werden.
Dass es letztlich mehr Fragen als Antworten formuliert, ist indes kein Defizit des Buches „Wir übernehmen“, sondern eine seiner Stärken. Denn es arbeitet damit genau die Linien heraus, an denen die Diskussionen um selbstbestimmtes Arbeiten und gutes Leben weitergeführt werden müssen.