Im April erschien bei Suhrkamp das faszinierende Buch „Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität“ des südafrikanischen Autors Mark Gevisser (geb. 1964 in Johannesburg), der auch einer der wichtigsten Journalisten der Regenbogennation ist. Als Dokumentarfilmer wurde Gevisser bekannt mit „The Man Who Drove With Mandela“, ein Feature über den in Vergessenheit geratenen britisch-südafrikanischen Antifaschisten und Apartheidgegner Cecil Williams. Der schwule Kommunist und Theaterdirektor schloss sich in den 1950er-Jahren dem ANC an und wurde enger Mitarbeiter von Nelson Mandela. Der Dokumentarfilm erhielt 1999 den Teddy Award der Berlinale (Preis für die besten queeren Filme) und vertritt die These, die liberale Haltung Mandelas und anderer ANC-Führer zur Homosexualität sei auch auf deren Freundschaft mit Cecil Williams zurückzuführen. Mit einem Stipendium der Open Society Foundation bereiste Gevisser über zwanzig Länder und schrieb über Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI) und deren Kämpfe und Errungenschaften. Seine zahlreichen Reisen mündeten nach zehn Jahren in sein informatives und empathisches Buch über die pinke Linie, und sie führten ihn auch nach Mexiko.
Mark Gewisser geht den Dingen immer auf den Grund. So auch im mexikanischen Guadalajara. Hier steht für ihn das Thema queere Familien und rechtliche Gleichstellung im Mittelpunkt. Akkurat zeichnet er die pinke Linie nach, die bei diesem Thema zwischen Hauptstadt und Provinz, Stadt und Land, verschiedenen Stadtteilen in Guadalajara, zwischen Glaubensgemeinschaften und zwischen Familien gezogen wird. Er schildert die Kämpfe lesbischer Paare für gleiche Rechte und gleichen Schutz ihrer Kinder. So trifft er etwa Zaira und Martha, die sich Ende 2013 als erstes gleichgeschlechtliches Paar im Bundesstaat Jalisco trauen ließen und damit den Hass religiöser Eiferer auf sich zogen. Christliche Fundamentalist*innen sprachen bald von Teufelswerk, als die Pläne für die Eheschließung publik wurden. Sie drohten damit, die Trauung durch Demos und Aktionen zu stören.
2009 hatte Mexiko City als erste Stadt Lateinamerikas die Ehe für alle legalisiert. Wenige Monate später folgte Argentinien als erstes lateinamerikanisches Land, dann Brasilien, Uruguay und Kolumbien. Die mexikanische Hauptstadt gilt, so Gevisser, als „Oase des Liberalismus“, und im Land gebe es „eine innere pinke Linie“, die um Mexiko City herum verlaufe, auch wenn bald immer mehr Bundesstaaten dem dortigen Gesetz von 2009 nachzogen und die Ehe für alle öffneten. Doch Mexiko blieb zugleich „eine Hochburg nicht nur des konservativen Katholizismus, sondern auch jener Art von Grenzgänger-Machismo, die zu seinem nationalen Image gehörte“.
Der Oberste Gerichtshof hatte, als die konservative Regierung 2009 meinte, gegen die Eheöffnung in der Hauptstadt klagen zu müssen, geurteilt, Zweck der Ehe sei nicht die Fortpflanzung, weshalb jede Definition, die sich nur auf Heterosexuelle beziehe, diskriminierend sei. Das Gericht verfügte zudem, dass jede in der Hauptstadt geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe überall im Land anzuerkennen sei. In der Folge gab es Massenhochzeiten in der Hauptstadt, durch die im ganzen Land Veränderungen erzwungen wurden.
Zaira und Martha aber wollten dort heiraten, wo sie ihre Steuern zahlten, und gingen den Umweg über einen langwierigen Rechtsmechanismus, amparo genannt, der die lokalen Behörden verpflichtete, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen. Zudem wollten die beiden ihre Tochter Sabina absichern und deshalb Martha als zweiten Elternteil eintragen lassen. Doch in Jalisco sahen die Gesetze vor, dass in einer Geburtsurkunde nur eine Mutter und ein Vater eingetragen werden durften.
Auch dies wollten sie durch einen amparo anfechten und für ihre Regenbogenfamilie durchsetzen, dass beide Frauen als Sabinas Elternteile eingetragen werden, damit ihre Tochter mehr Sicherheit habe, falls einem Elternteil etwas zustoßen sollte. Dies war Zaira und Martha bis 2018, als Gevisser sie letztmals traf, nicht gelungen. Sein Portrait dieser mexikanischen Regenbogenfamilie endet mit der schlechten Nachricht von der Krebserkrankung Zairas, Sabinas leiblicher Mutter, die ihm über Facebook schreibt: „Ich bin nur noch einen Schritt vom Grab entfernt. Ich habe getan, was ich konnte, um vom Staat eine Geburtsurkunde für zwei Mütter zu bekommen. (…) Ich kann nicht einmal in Frieden sterben.“
Zaira und Martha sind in ihrem Kampf unterlegen. Sie scheiterten, wie unzählige LSBTI in Mexiko und ganz Lateinamerika, an konservativen Politiker*innen, die mit religiösen Eiferern gemeinsame Sache machen, an sturen Familienrichter*innen und uneinsichtigen Behörden, die eine pinke Linie ziehen und mexikanische Familien in zwei Klassen einteilen: Familien, die volle rechtliche Anerkennung erfahren, und solche, die weniger Schutz genießen als das traditionelle, aus Vater, Mutter und Kind(ern) bestehende Familienmodell.
Die pinke Linie trennt nicht nur Länder der Welt voneinander, sondern auch Stadt und Land oder Hauptstadt und Bundesstaaten wie Jalisco. Sobald sich LSBTI organisieren, Forderungen formulieren und demonstrieren, so in Mexiko City 2016, wo die 38. Pride-Parade unter dem Motto „Todas las familias, todos los derechos“ stattfand, regt sich Gegenwehr, in Mexiko etwa durch die Nationale Front für die Familie oder durch Priester, die von der Kanzel herab gegen Reformvorhaben wettern und Hass predigen. Die Trennlinie verläuft selbst durch Familien. Eltern, Geschwister oder andere Angehörige wenden sich ab, verstoßen LSBTI aus der Familie. In Sabinas Fall sind es die Vettern bzw. deren Mütter, Marthas Schwestern: Als Sabina ihren Cousins stolz erzählt, sie habe zwei Mamis, antworten die, „deine Mamis sind tortas“, Sandwiches, so ein abwertender Ausdruck für Lesben. Sabina hatte kein Problem damit, sie weiß sich zu wehren, kann ihre Cousins zurechtweisen, so Martha. Doch das Problem sind die Tanten, sie erkennen Sabina nicht als Familienmitglied an. „Die Vettern kriegen immer kleine Geschenke, und Sabina geht leer aus.“
LSBTI-Themen trennen Glaubensgemeinschaften, Parteien, Nichtregierungsorganisationen. Eltern, Kirchen oder Staaten können Menschen bestrafen, weil sie lesbisch, trans* oder schwul sind. Hinzu kommt eine weitere pinke Linie, die für die Lücke zwischen rechtlichen Reformen und gesellschaftlichem Wandel steht, oder zwischen Aktion und Reaktion, denn die oftmals haarsträubende Situation von LSBTI in vielen Ländern kann auch eine Reaktion auf den Aktivismus und entsprechende Erfolge in anderen Teilen der Welt sein.
Gevisser spricht von zwei Zeitzonen in der Welt, in der einen wandeln sich die Dinge häufig und schnell, so in Lateinamerika, in der anderen ist der Wandel eine Schnecke. Der Autor berichtet aus beiden Zeitzonen, seine Geschichten passieren in Malawi, Indien, Russland, Israel und Palästina, Ägypten, den USA oder eben auch Mexiko.
Gevissers Bericht über den globalen Kampf für LSBTI-Rechte ist eine außergewöhnliche Langzeitstudie. Er hat den Kontakt zu seinen Gesprächspartner*innen, die ihm empfohlen wurden und die entlang der gesellschaftspolitischen, LSBTI-politischen oder pinken Bruchlinien leben, über Jahre aufrechterhalten, durch Besuche oder über soziale Medien.
Mark Gevisser ist ein überzeugender, weil auch empathischer und interessierter Erzähler. Sein Buch ist zwischen Journalismus und Literatur angesiedelt und weist Elemente des New Journalism oder der lateinamerikanischen Crónica auf. Er erzählt nicht nur von Niederlagen und Rückschlägen der porträtierten Aktivist*innen, sondern auch von ihren Erfolgen, durch die sich Einstellungen verändern, Kopf und Herzen von Menschen erreicht werden. Die glasklare Analyse und engagierte Reportage ist eine lohnende Lektüre, ein Referenzwerk, das Aktivist*innen noch lange beschäftigen wird und dem man breite Aufmerksamkeit wünscht, auch über die LSBTI-Community hinaus.