Die Politik des Hungers

Das Jahr 2008 war ein Jahr der Rekorde. Weltweit wurden 2,3 Milliarden Tonnen Getreide geerntet, so viel wie nie zuvor. Doch nur 47 Prozent dieser Ernte dienten der menschlichen Ernährung. Mehr als die Hälfte wurde für Tierfutter, Agrosprit und als industrieller Rohstoff verwendet. Zugleich gab es Hungerrevolten und Aufstände in 60 Ländern der Erde, weil die Tortillas, der Reis und der Weizen für die allermeisten Menschen in den Ländern des Südens nicht mehr bezahlbar waren.
Trotz der hehren Millenniumsziele der UNO ist die Zahl der Hungernden nicht um die Hälfte zurückgegangen, sondern in den letzten drei Jahren drastisch angestiegen. Warum führt die industrielle Landwirtschaft dazu, dass mehr als eine Milliarde Menschen hungert und zugleich eine Milliarde Menschen an krankhaftem Übergewicht leidet?
Wie kam es dazu, dass die Länder Afrikas von Nettoexporteuren von Nahrungsmitteln am Ende des Kolonialismus vor 50 Jahren heute im Zeitalter der Globalisierung zu Nettoimporteuren geworden sind?
Wer Antworten auf diese Paradoxien sucht, sollte das Buch des philippinischen Soziologen Walden Bello „Die Politik des Hungers“ aufschlagen.

Bello sieht in der Ernährungskrise keine Verkettung unglücklicher Umstände von Klimakatastrophen oder der Spekulation an der Chicagoer Weizenbörse, sondern systematische Politik: „Eine sehr bedeutende, wenn nicht sogar die zentrale Ursache für die Nahrungsmittelpreiskrise von 2006-2008 war die als ‘Strukturanpassung’ bekannte massive Neuausrichtung der Agrarpolitik.“ (S.13) Diese wurde vor allem von der Weltbank in den 80er und 90er Jahren in den Entwicklungsländern vorangetrieben und umfasste im Kern die Förderung der Industrialisierung der Landwirtschaft durch Aufgabe von Preiskontrollen, Abbau der Handelszölle, Streichung der Subventionierung von Düngemitteln und Saatgut, Förderung des freien Marktes, Privatisierung staatlicher Ernteregulationseinrichtungen (u. a. Vorratsspeicher) und die Exportförderung, um die horrenden Auslandsschulden abzubauen. 
Die Weltbank sah Brasilien mit seiner massiven Förderung des Agrobusiness durch die multinationalen Konzerne und Latifundistas als Vorbild für die afrikanischen Länder: „Dieses globalisierte Produktionssystem hat schwerwiegende Umweltbelastungen hervorgebracht, eine große Anzahl Menschen vom Markt ausgegrenzt und sowohl innerhalb einzelner Länder als auch global zu größerer Armut und stärkeren Einkommensgefällen geführt. Das brasilianische Modell ist Teil des Problems“, schreibt Bello in seiner Einleitung.
Die Strukturanpassung zielt auf dem Land vor allem auf die Deregulierung der Bodenmärkte und die Rückgängigmachung auch der bescheidensten Landreformen. Doch immer wieder, wie in Brasilien durch die Landlosenbewegung Sem Terra oder auf dem indischen Subkontinent, regt sich gegen diese Politik der Zerstörung kleinbäuerlicher Autonomie Widerstand. 
Neben der Darstellung der Folgen der Strukturanpassungspolitik, von Inwertsetzung, Landverteibung und Migration an den drei Beispielländern Mexiko, Philippinen, China und auf dem afrikanischen Kontinent richtet Bello sein Augenmerk vor allem auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Im Kapitel „Kapitalismus gegen Bauern” schildert er eindringlich die Versuche der Beseitigung und den Widerstand der Bauern in den verschiedenen Etappen vom Kolonialismus über die Ernährungsordnung von Bretton Woods bis hin zur Schaffung des globalen Marktes und der weltweiten Widerstandsbewegung von La Via Campesina. 

„Im Zuge der Globalisierung verlieren die Bauern ihre soziale, kulturelle und ökonomische Identität als Produzenten. Bauern sind jetzt Konsumenten von teurem Saatgut und teuren Chemikalien, die mächtige globale Konzerne, vermittelt über mächtige Grundbesitzer und Geldverleiher, vor Ort verkaufen”, zitiert Bello die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva. An die Stelle des kleinbäuerlichen Familienbetriebes (dem selbst die Weltbankstrategen ein hohes Beharrungsvermögen attestieren) tritt mehr und mehr der Zulieferer agrarischer Rohstoffe für die mulitnationalen Konzerne wie Cargill, Archer Daniels Midland und den nachgeschalteten Lebensmittelkonzernen wie Nestle und Unilever. Bello stellt resigniert fest: „Die Strukturanpassung hat die bäuerliche Landwirtschaft der Welt wahrscheinlich schlimmer verwüstet als irgendeine andere soziale oder natürliche Kraft.” (S. 44)
Aber: „Trotz ihrer Vorherrschaft ist es der kapitalistischen Landwirtschaft nie gelungen, die bäuerliche oder auf dem Familienhof beruhende Landwirtschaft zu eliminieren“, schreibt Bello am Ende des Kapitels. Wie kommt er zu dieser überraschenden Kehrtwendung?
Am Beispiel der Landreform in Mexiko zu Zeiten der PRI-Herrschaft erläutert Bello die wichtige Funktion des Subsistenzrückhalts für das Überleben der armen kleinbäuerlichen Strukturen. Bis in die 90er-Jahre war mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche im kommunalen Besitz des ejido-Systems. Die Ejidatarios sorgten für die Produktion und Verteilung von ausreichenden Grundnahrungsmitteln und sicherten die minimale bäuerliche Autonomie. Nach dem Beitritt zur nordamerikanischen Freihandelszone (TLCAN, engl. NAFTA) wird das Ejidosystem mehr und mehr zurückgedrängt. Darüber hinaus ist Mexiko durch die Zwangsöffnung seines Agrarmarktes von einem Maisexporteur zu einem Maisimporteuer geworden. Dies hat die mexikanische Agrarkrise in die „Tortillaunruhen” von 2007 geführt.

Doch Walden Bello ist nicht nur Soziologe, sondern er mischt sich immer wieder in aktuelle politische Auseinandersetzungen ein und bleibt dabei Berufsoptimist. So ist er seit Jahren auf den internationalen WTO-Konferenzen zu sehen und verteidigt die bäuerliche Landwirtschaft im Kampf gegen die Globalisierung. Dabei fordert er immer wieder eine Umkehr hin zu einer „Deglobalisierung der Landwirtschaft”. Den Verheerungen des globalen Marktes könne nur durch eine Rückbesinnung auf die Stärkung der lokalen Märkte und kleinbäuerlichen Strukturen begegnet werden. Diesen Prozess der Deglobalisierung sieht nun Bello seit Ausbruch der neuerlichen Weltwirtschaftskrise in vollem Gange (S. 50). Im Verlaufe der Krise entstünden neue Alternativen, u.a. im Zuge der Debatte um die Forderungen nach Ernährungssouveränität durch Via Campesina. Darauf geht Bello am Ende des Buches in seinem Schlusskapitel ausführlich ein.
Leider führt Bello keine weiteren Belege für die Deglobalisierung an. Stattdessen versteift er sich zu einer steilen These: „Heute hat die globale Weltwirtschaftskrise das globalistische Projekt aus der Bahn geworfen und ein Zeitalter der Deglobalisierung eingeläutet.” ( S.52)

Im weiteren Verlauf des Buches, in seinen eindringlichen Schilderungen der verfehlten Agrarpolitik der Weltbank und ihrer staatlichen Helfershelfer in Mexiko, den Philippinen, China und weiten Teilen Afrikas, ist zwar vielfach zu Recht vom Scheitern der Globalisierung die Rede, aber an keiner Stelle schildert er die Prozesse der Deglobalisierung als Abwehrkämpfe der bäuerlichen Subsistenz. Auch aus dem zwischengeschobenen materialreichen Kapitel über „Agrotreibstoffe und Ernährungsunsicherheit” lässt sich kein neuer Optimismus hinsichtlich eines Deglobalisierungsprozesses schlussfolgern.
Die Politik des Hungers kann nur – und darauf setzt Bello – durch die neue „kämpfende Klasse”, die weltweite Bauernbewegung, zusammengeschlossen in Via Campesina, im Zusammengehen mit anderen gesellschaftlichen antagonistischen Kräften erfolgreich bekämpft werden. Und das geht nicht ohne die Thematisierung der Systemfrage: „In all unseren Organisationen, sowohl in denen des Nordens als auch in denen des Südens, wird deutlich gesehen, dass wir die Gesellschaft ändern müssen, wenn wir die Agrarpolitik ändern wollen. Wir können die Interessen der Bauern nicht verteidigen, ohne das neoliberale System in seiner Gesamtheit in Frage zu stellen. Kleinbauern werden kein Land erhalten, wenn nicht die gesamte Gesellschaftsstruktur verändert wird”, zitiert Bello zustimmend einen Wortführer von Via Campesina (S. 178).

Walden Bello bringt überzeugend die einleitend geschilderten Paradoxien auf den Punkt. Überfluss und Unterernährung gehören genauso zur globalisierten Landwirtschaft wie Landvertreibung und die Dumpingexportpolitik der USA und der EU. Der Kapitalismus erweist sich aus systemimmanenten Gründen als unfähig, den Hunger zu beseitigen. Dies allen Moralaposteln und NRO-Vertretern an den Katzentischen der UN-Verhandlungen ins Stammbuch geschrieben zu haben, ist das eigentliche Verdienst des Buches.

Walden Bello, Politik des Hungers, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 199 Seiten, 16,- Euro