Weitab der hochmodernen neuen Haupthalle des Flughafens Toncontín in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa liegt hinter Parkplatz, Post- und Frachtbüros ein kleines, unscheinbares Gebäude. Auffällig viele Menschen halten sich davor auf. Frauen mit einfachen Plastikschlappen an den Füßen und umgebundenen Schürzen, Männer in billigen Jeans oder einfachen Stoffhosen, Jugendliche im Hiphop-Outfit und Kinder, die das Rumsitzen satt haben und mit Steinen oder Blechbüchsen auf einem imaginären Fußballfeld Tore erzielen. Spannung liegt in der Luft und ist auch den meisten Gesichtern anzusehen. Sie warten auf den Sohn, die Tochter, den Ehemann, die Ehefrau, den Vater, die Mutter. Irgendwann wird er oder sie aus der Tür da vorne kommen, mit einer Tüte voll Etwas und dem geplatzten Traum in der Tasche. Dann kommt der Moment der Umarmung, der bittertraurig angereicherten Freude des Wiedersehens. Dieser Ort ist der Vorplatz der Auffangstelle für deportierte MigrantInnen in Tegucigalpa, eingerichtet von Schwestern des katholischen Scalabrinerordens, geleitet von der Brasilianerin Valdete Wilemann. Schnell, energisch und Hilfe anbietend bewegt sie sich überall dort hin, wo es nötig ist. Auf ihrem weißen T-Shirt ein auffällig großer Farbdruck – das Gemälde einer durch kaum überwindbare Mauern getrennten Welt – mit der ins Auge springenden Frage: Migración: ¿Señal de vida? (Migration: Lebenszeichen?) Seit vier Jahren leitet sie das 1999 gegründete Zentrum. Seit vier Jahren besteigt sie die auf der Landebahn vor dem Gebäude zum Stehen gekommenen „No Name“-Flugzeuge und heißt die darin sitzenden Passagiere willkommen in ihrer Heimat. Passagiere, die mit diesen extra für sie gecharterten Maschinen den nicht gewollten Heimweg antraten, die „gesicherte Rückführung ins Heimatland“.

„Normalerweise kommt eine Maschine pro Tag, manchmal sind es auch zwei. Heute waren es drei.“ Unscheinbar und doch dominant unterstützt Valdete Wilemann die verloren wirkenden Menschen. Aus einem kleinen Gepäckcontainer suchen sie ihre Plastik- oder Papiertüten mit dem wenigen mitgebrachten Hab und Gut, bevor sie ins Zentrum kommen, einem Ort, der ihrer mitgebrachten geballten Hoffnungslosigkeit wenigstens für Minuten einen freundlichen Rahmen zu geben sucht. Mit ruhiger Stimme dirigiert eine freiwillige Helferin die Ankommenden in den Warteraum, in dem angesichts der darin versammelten Verzweiflung das normale Atmen schwer fällt. Die Männer nach links, die Frauen nach rechts. Ängstliche Blicke in müden Gesichtern, Menschen mit Turnschuhen ohne Schnürsenkel – eine verordnete Sicherheitsmaßnahme vor dem Flug. Sie füllen den Raum aus in ihren verschlissenen Jeans, ihren ausgebeulten Trainingshosen. Einfache Tüten aus Papier oder Plastik, auf denen mit Filzern dick ihre Namen geschrieben stehen, reichen für ihre Besitztümer, die Reste des geplatzten amerikanischen Traumes: ein Hemd, Notizbücher, vielleicht ein paar Schlappen, Rasierwasser, Deodorant. Jämmerlich wenig zum Überleben für sie selbst und noch viel weniger als Mitbringsel für ihre Familienangehörigen. Obwohl alle in diesem kleinen Warteraum Versammelten das gleiche Schicksal verbindet und viele auch gut einen Monat gemeinsame Abschiebehaft, sind sie doch lauter Individuen mit ganz eigenen Geschichten. Spätestens nach Verlassen des Gebäudes werden sie auch jede und jeder für sich erneut den Überlebenskampf aufnehmen. 

Diana Hernández Mencia wird an die Nordküste fahren. Dort kommt sie her. In der völlig verarmten Region um Tocoa, in der die Drogenbosse und die Holzmafia das Sagen haben, wohnen noch Verwandte von ihr. Diana ist schwanger, deshalb hat sie noch eine zusätzliche kleine Plastiktüte von der Abschiebebehörde erhalten – mit Medikamenten für den Heimweg. Sie war 17, als sie loszog, um in den USA den Traum zu suchen, ohne Visa, ohne Papiere und ohne bezahlten Coyoten – die Schlepper, die durch die permanent ansteigende Migration auf der Gewinnerseite dieses zum Geschäftszweig ausgebauten Menschentransfers stehen. Mit einer befreundeten Frau machte sich Diana damals auf den Weg durch Guatemala und Mexiko. Alles ging gut. Sie kamen an und ihre Minderjährigkeit schützte sie vor einer direkten Deportation. Fünf Jahre lebte sie seither in North Carolina, heiratete dort einen Landsmann und bekam zwei Kinder, die beide dadurch die US-Staatsbürgerschaft besitzen. „Ich hatte eigentlich immer Jobs. Das lief ganz gut“, erzählt sie, während sie auf ihren Aufruf wartet. Erst wird sie von Angestellten der honduranischen Migrationsbehörde zu ihrer Person befragt werden, dann von den Scalabrinern über ihre Behandlung während Abschiebehaft und Deportation. 

Zuletzt arbeitete Diana bei Burger King an der Kasse, bis zu dem Moment „dieser verdammten Dummheit mit ihren fatalen Folgen“. Wie immer fuhr sie mit dem Auto von der Arbeit nach Hause. Es dämmerte und sie hatte kein Licht an. Eine Polizeistreife stoppte sie und damit flog sie auf. „Du weißt, das ist das Ende.“ Sie kam sofort in Abschiebehaft und sitzt jetzt hier in Tegucigalpa, willkommen geheißen von den Scalabriner-Schwestern, getrennt von den in den USA gebliebenen Kindern, ohne Vorstellungskraft für das, was jetzt auf sie zukommen könnte. Trotzig resigniert wirft sie die in diesem Moment nicht beantwortbare Frage in den Raum: „Was bitte soll ich denn machen?“ Zurück will sie nicht wieder, nach der entwürdigenden Behandlung, die sie in den letzten Wochen bei ihrer Festnahme und in der Abschiebehaft erfahren hat. „Aber die Kinder und mein Ehemann“ – wieder mehr eine Frage als eine Feststellung. Mit denen will sie zusammenleben. „Aber wo? In Honduras vielleicht?“ So richtig glaubt sie nicht daran, hier Arbeit zu finden, von der eine bald fünfköpfige Familie leben könnte. „Wenn dem so wäre, dann würden doch nicht so viele Leute ständig versuchen, in die USA zu kommen, wenn sie hier ihr Einkommen hätten“. 

Die Armut ist in Honduras seit Dianas Weggang sowohl quantitativ als auch qualitativ größer denn je. Von den 7,5 Mio. EinwohnerInnen des Landes leben weit über zwei Drittel unterhalb der Armutsgrenze, davon gut die Hälfte in extremer Armut. Verbesserung ist nicht in Sicht. Die globalisierte Welt hat den Arbeitsmarkt umgewälzt, dabei großflächig vor allem in der Landwirtschaft den Bedarf an Arbeitskräften aufgehoben und mit den Billiglohnfabriken, den Maquilas, in Ballungszentren vielfach dem Kleinhandwerk die Basis entzogen. So sind Arbeits-, aber auch Studienplätze kaum vorhanden. Dafür steigen die Gewaltverbrechen. Gründe zur Migration gibt es mehr als genug. Untersuchungen zufolge ist Honduras unter den zentralamerikanischen Ländern das Land mit den höchsten Zahlen an MigrantInnen: rund 270 täglich. Nur die wenigsten der Papierlosen kommen direkt beim ersten Versuch an. Von insgesamt rund 5 Mio. ZentralamerikanerInnen in den USA, dem Hauptzielland der MigrantInnen, sind über 1,1 Mio. HonduranerInnen, davon über die Hälfte ohne Papiere. So wenig Überlebenschancen diese Menschen in ihren eigenen Ländern haben, so wichtig sind sie doch für dessen Entwicklung. Allein für das Jahr 2006 beziffert die honduranische Zentralbank die von den MigrantInnen verschickten Geldtransfers nach Honduras auf 2,359 Milliarden Dollar, knapp 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich dazu liegen die Einnahmen aus Exportgeschäften bei 21,4 Prozent, der Maquilaindustrie bei 11,5 Prozent und vom Tourismus bei 5,3 Prozent. Für das laufende Jahr wird mit einem weiteren Zuwachs gerechnet.

In der Auffangstelle für deportierte MigrantInnen leert sich langsam der Wartesaal. Am Ausgang kontrollieren zwei Polizisten in Zivil die Menschen, die das Gebäude verlassen. Wer keine Tattoos hat, dem wird eine gute Heimreise gewünscht. Diejenigen mit Tattoos müssen hier noch einmal ihre Daten angeben und werden auf mögliche Vorstrafen oder Haftbefehle überprüft. Im Büro von Valdete Wileman rufen einzelne Deportierte ihre Familienangehörigen an. Die Sätze sind ähnlich, beschränken sich aufs Wesentliche: „Bin gerade in Tegucigalpa angekommen und auf dem Weg nach Hause“. Und doch wird über diese Sätze so viel transportiert: keine Arbeit mehr, keine Geldüberweisungen in nächster Zeit, kein Geld flüssig, ein Esser mehr zu Hause – die Hoffnung in den Sand gesetzt. Valdete Wileman spricht von einem Pulverfass kurz vor der Explosion. Mit Sicherheit ist es eine soziale Katastrophe, deren ausuferndes Ausmaß in die Länder außerhalb der Grenzbefestigungen der ersten Welt verschoben wird. 
Mitte März dieses Jahres waren es bereits 6540 Deportierte, die am Flughafen in Tegucigalpa ankamen, allein 825 in zwölf Märztagen. Tendenz steigend. Es sind Zahlen, die sich ausschließlich auf die Deportationen per Flugzeug beziehen. Zahlen, hinter denen Menschen stehen, die schon größte Risiken in Kauf genommen haben, um der heimatlichen Perspektivlosigkeit zu entgehen. Zahlen, die täglich die erdrückenden Arbeitslosenzahlen nach oben treiben. Und darin enthalten ist noch nicht die weit größere Zahl der MigrantInnen, die über den Landweg zurücktransportiert werden, die bereits in Mexiko gescheitert sind und mit Bussen bis zur Grenze gebracht werden. Wie zum Beispiel der 18jährige Marvin Joel Soler aus Comayagua. 

Marvin war 14, als er mit seinem älteren Bruder „die Strecke machen“ wollte. Wie so viele der Ärmsten der Armen waren sie auf „die Bestie“, den Zug, als Transportmittel angewiesen. In Chiapas, im südlichen Mexiko, stürzte er ab und kam unter die Räder. Sein linkes Bein unterhalb des Knies wurde amputiert. Ein schnelles, ein brutales Ende seines amerikanischen Traumes. Kurz nach dem Unfall begegneten wir uns das erste Mal in der „Herberge zum guten Hirten“ in Tapachula. Dort blieb er, bis er über Spenden eine Prothese erhielt. Damit wollte er wieder nach Hause, wollte irgendetwas mit seinem jungen Leben anfangen, wollte sich irgendwie nützlich machen. Für die Rückfahrt hatte er kein Geld, auch die Mutter oder sonstige Familienangehörige konnten nichts beisteuern. Er ging zur Migra (die Migrationsbehörde), ließ sich deportieren. Ein freiwilliges Stellen bei der Migra ist die absolute Ausnahme innerhalb des Bewegungsstroms, der sich eigentlich nur nach Norden bewegen will.

Marvin wurde Anfang 2005 im Deportationsbus bis zur honduranischen Grenze gebracht. Für das Ticket zur Weiterfahrt nach Hause hatte er vorher in Tapachula gespart. So kam er zurück ins Haus seiner Mutter in einem Randviertel Comayaguas, in dem diejenigen leben, die nicht wirklich wissen, wovon sie das Essen für die nächsten Tage bezahlen können. Die Mutter „hat sich gefreut, als ich wieder ankam“. Bei diesen Worten ist das Lächeln aus seinen Zügen verschwunden. Was mag ihm durch den Kopf gehen? Dass er außer ein paar Tagelöhnerjobs keine Arbeit fand, dass er als Ältester der fünf Geschwister keine Unterstützung, sondern eine Last im gelebten Elend ist? Marvin erzählt sie nicht, diese Gedanken, behält sie für sich. Seine weite lange Hose, mit der er uns an der Tür empfängt, verdeckt nach außen das verlorene Bein. In seinen Träumen verfolgt ihn der Unfall beständig. Seine Amputationswunde hat er seit der Anpassung der Prothese nie wieder untersuchen lassen. Diana und Marvin sind zwei dieser täglich anwachsenden Masse der nicht zur Teilnahme am Reichtum der globalisierten Welt berechtigten Menschen, die in ihren Heimatländern keine Überlebensperspektive sehen und sich mit einer guten Portion Hoffnung auf den Weg machen. Mit dem Anwachsen der Verarmung in den Herkunftsländern und der damit unabwendbaren Notwendigkeit zur Migration wird in den Zielländern über mehr Kontrolle, mehr Festungswälle, mehr Abschiebung und Kriminalisierung debattiert und werden entsprechende Gesetze vorbereitet und verabschiedet. 

Von den über 40 Mio. in den USA lebenden Hispanics sind schätzungsweise gut 11 Mio. ohne Papiere. Seit Jahren schüren dort die Hardliner unter den Konservativen die Stimmung gegen die EinwanderInnen aus dem Süden an. Sie drängen darauf, die Grenzen radikal dicht zu machen und die Illegalen abzuschieben. Unzufrieden mit der Regierungspolitik verfolgen die Minutemen als Bürgerwehr die MigrantInnen, die es über die Grenze geschafft haben. Das Jahr 2007 setzt in diesem unsäglichen Kapitel neue Zeichen. Neben dem Ausbau der direkten Grenzen und deren verschärfter Hightech-Überwachung wird mehr und mehr die Auslagerung der Grenzsicherung in angrenzende Länder wie Mexiko vorangetrieben. Mit dem seit diesem Jahr gültigen Motto „Sicheres Mexiko“ werden MigrantInnen ohne Papiere auf mexikanischem Territorium als kriminelle Personen eingestuft und somit einer menschenrechtsverletzenden Hetzjagd mit systematischen Einschüchterungen und massiven physischen Angriffen ausgesetzt.