Im Gänsemarsch geht es zur U-Bahn, die etwa 50-köpfige Gruppe quetscht sich tatsächlich in denselben U-Bahn-Waggon. Dort beschallt ein sonnenbebrillter Mann mit seiner Lautsprecherbox die Mitfahrenden. Er wird hellhörig, als er unsere Gespräche auf Spanisch hört. Ah, Zapatistas, die kenne er, sagt er mit chilenischem Akzent. „Ihr seid toll! Viva la Libertad!“ Als die Reisegruppe das rechtsrheinische Köln-Mülheim durchquert, werden Schulkinder auf die in Reih und Glied laufenden Gäste aufmerksam. „Guck mal, die haben alle Rucksäcke auf, cool!“ Ein paar Schülerinnen sagen: „Hola, ¿cómo están?“ Angesichts dieser freundlichen Begegnungen legt sich langsam die Anspannung der letzten Tage. Die Vorfreude auf die kommenden Tage mit den Compañeros, Compañeras und Compañeroas[fn]Die zapatistische Version des Gendersternchens *. Im Zuge der Reise setzte sich durch, alle Delegierten mit der All-Gender-Kurzform Compas zu bezeichnen.[/fn], die einen so weiten und komplizierten Weg auf sich genommen haben, steigt.
Zurück liegt eine knappe Woche, in der sich die Ereignisse überschlagen haben. Am 13./14. September 2021 waren über 100 Delegierte aus Mexiko in Wien angekommen, am Wochenende darauf wurde die Reiseroute für Europa festgelegt. Zu Zone 1, die als erstes bereist wird, gehört Deutschland. Ist das Rheinland bereit, als eines der ersten Gebiete mehrere zapatistische Delegationen zu empfangen? Menschen aus überregionalen Strukturen, die für die Routenplanung zuständig sind, legen Nachtschichten ein, versuchen alle Interessen unter einen Hut zu bringen, plenieren pausenlos, die Email-Flut nimmt Ausmaße eines Tsunamis an, auch die Nachrichten in den zahlreichen Chatgruppen ploppen im Minutentakt auf. Sind eure Strukturen tragfähig genug, um diese Riesenverantwortung und zugleich historische Begegnung zu wuppen?
Die Entscheidung muss schnell getroffen werden. Sie wird letztlich von denjenigen gefällt, die es schaffen, in den entscheidenden Tagen auf den vielen parallelen Kommunikationskanälen präsent zu sein. Ja, wir wollen das schaffen. In den nächsten Tagen wird pleniert, geplant und noch mal pleniert, Infrastruktur vorbereitet, es werden praktische Fragen geklärt, und es wird noch mal pleniert. Nicht alle können mit dem Tempo mithalten oder sich flexibel von der Lohnarbeit freischaufeln. Einige im Vorfeld noch sehr aktive Personen ziehen sich unfreiwillig, erschöpft oder überfordert zurück. Wie schade, angesichts der so hoffnungsfrohen Vorbereitungszeit, die Ende letzten Jahres begonnen hatte.
Da hatte nämlich die EZLN (Zapatistische Befreiungsarmee) für das Jahr 2021 die „Gira por la Vida“ angekündigt, ihre Reise für das Leben. Das Ziel: nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung des kapitalistisch-patriarchalen Systems und die Rettung der Madre Tierra, der Mutter Erde. Damit sie sich auf den fünf Kontinenten mit Gruppen, Kollektiven und Bewegungen, die ähnliche Ziele verfolgen, austauschen, wurden gewählte Compañeros, Compañeras und Compañeroas in Chiapas monatelang auf ihre Mission Escucha y Palabra (in etwa: Zuhören und Reden) vorbereitet. Eine langwierige und aufwändige Vorbereitung. Später hörten wir von einem Compañero, wie er während dieser Vorbereitungszeit an Corona erkrankte und in Quarantäne musste. Subcomandante Moisés erzählte von den ungleichen Bedingungen bei der Vorbereitung: Jede Delegation wurde während der Vorbereitungszeit von ihren Gemeinschaften unterstützt, mit Lebensmitteln und anderem. Einige waren besser aufgestellt als andere, sodass zum Beispiel die eine Gruppe sogar Limo und Kekse bekam. Sie freuten sich und merkten erst hinterher, dass es besser gewesen wäre, die Leckereien mit allen zu teilen. „Wir alle begehen Fehler, müssen ständig lernen und selbstkritisch sein“, wird Moisés anmerken, als er diese Anekdote zur Illustrierung des zapatistischen Prinzips der Selbstkritik zum Besten gibt.
Die „Reise für das Leben“ ist aber nicht nur auf den Erfahrungsaustausch ausgelegt, sondern soll auch den Startschuss bilden für den Aus- und Aufbau des weltweiten „Netzes der Rebellion von unten und links“. Der erste Kontinent der Weltreise sollte Europa sein, vor allem, weil sich am 13. August zum 500. Mal ein tragisches Ereignis in der Geschichte Mexikos jährte: die „Eroberung“ Tenochtitláns, der Hauptstadt des Aztekenreichs (vgl. auch „Die seitenverkehrte Conquista“ in der ila 446). An diesem Datum wollten die Zapatistas dann auch in Madrid sein. Es sollte leider anders kommen als geplant.
Der Vorbereitungsprozess war mehr als komplex. Als die Nachricht von der leicht größenwahnsinnig anmutenden Reise der Zapatistas im dunkelsten Corona-Winter hierzulande zu zirkulieren begann, rieben sich so manche (Alt-)Linke verschlafen die Augen, streckten die knackenden Glieder und rappelten sich auf. Was geht denn so vor Ort?
In Europa begannen sich zahlreiche Kollektive, Vereine und Einzelpersonen auf den verschiedenen Ebenen – lokal, regional, bundesweit und europaweit – zu vernetzen. Das hiesige, von den Zapatistas inspirierte Ya-Basta-Netzwerk hatte vor der Ankündigung der zapatistischen Weltreise bundesweit aus etwa einem Dutzend Engagierter bestanden. Nun brauchte es die Unterstützung vieler aktiver Menschen in den Regionen und Städten, von der Basis sozusagen. Leute mit verschiedenen politischen Schwerpunkten trafen aufeinander: AntiRa, Antifa, Feminismus, Klimagerechtigkeit, Antikapitalismus, Anarchismus, solidarische Landwirtschaft. Auch die vielen Menschen, die sich seit den 1990er-Jahren von der zapatistischen Bewegung haben inspirieren lassen, mehrere Generationen von Aktivist*innen, die in den Basisgemeinden in Chiapas Menschenrechtsbeobachtung betrieben haben, fühlten sich von der bevorstehenden Reise motiviert, sich (wieder) ins politische Geschehen einzuklinken. So gab es anfangs viel Potenzial, nach dem deprimierenden Corona-Winter zeigte sich eine gewisse Aufbruchsstimmung. Da sich anfangs überwiegend online getroffen wurde, stieß diese Organisierung jedoch schnell an ihre Grenzen. Online-Treffen funktionieren bei Kollektiven, die sich bereits kennen, einigermaßen. Bei neuen, bunt zusammengewürfelten Zusammenschlüssen kommt es online schnell dazu, dass immer nur dieselben Leute reden. Wiederholte Vorstellungsrunden und Zusammenfassungen vorheriger Treffen ziehen die Plena in die Länge, Leute mit weniger (Zeit-)Ressourcen bleiben irgendwann wieder fern. Der Vorteil der Online-Treffen: Sie ermöglichten eine überregionale Koordinierung, teilweise fast im Wochentakt. Das wäre mit analogen Treffen quer durch die Republik niemals möglich gewesen.
Auch in ila-Kreisen machte sich zwischenzeitlich Ernüchterung breit angesichts der als zäh und hierarchisch empfundenen Online-Treffen. Hinzu kam der nicht enden wollende Corona-Lockdown. Würde die Reise überhaupt stattfinden können? Doch das Telefonat mit einer Genossin aus Leipzig im Frühjahr konnte überzeugen: „Die Zapatistas haben schon andere Hürden überwunden, die sind so verrückt, die schaffen das, die ziehen diese Reise durch.“ Und in der Tat: Dieses Wahnsinnsunternehmen durchzuführen, ohne Unterstützung von Stiftungen oder NRO, wie sonst bei Süd-Nord Besuchen üblich, dazu gehört schon eine üppige Portion Optimismus, Verrücktheit, Willen, Organisierung und Disziplin (die Disziplin gehört übrigens zu den zapatistischen Grundprinzipien, neben Planung, Information, Compañerismo, Sicherheit, Einheit, Selbstkritik und Kritik).
Mit dem Frühsommer kamen die ersten analogen Treffen und damit Schwung in die Organisierung. Im Kölner SSM (Sozialistische Selbsthilfe Mülheim) fanden wöchentliche Soli-Cafés statt, gesellige Abende mit Kultur – unter anderem einem didaktischen Zapatista-Liebesfilm (!) – und Weiterbildung in Sachen Zapatismus, an denen einiges an Geld für die Reisekasse gesammelt werden konnte.
In Mexiko selbst stießen die ausgewählten Delegierten auf bürokratische und rassistische Hindernisse: Die Behörden in der Hauptstadt weigerten sich, den Indigenen Reisepässe auszustellen. Sie unterstellten ihnen, sie seien illegale Migrant*innen aus Zentralamerika. Einer Genossin vom Nationalen Indigenen-Kongress CNI[fn]Der CNI wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, ein Raum für alle indigenen Völker Mexikos zu sein, um ihre Kämpfe zu stärken, mit ihren eigenen Formen der Organisation, der Vertretung und der Entscheidungsfindung.[/fn], der zusammen mit den Zapatistas Delegierte nach Europa schickte, wurde an den Kopf geworfen, sie sei „unzeitgemäß“, extemporánea
Das heißt: Wir sind Unangebrachte, Unschickliche und Unzeitgemäße.“ www.zapalotta.org/die-unzeitgemaessen/[/fn] Seitdem bezeichnet sich die Delegation aus Mexiko selbstironisch als „La Extemporánea“, auf Demonstrationen ist die „Unzeitgemäße“ auch in Form einer indigenen Otomí-Puppe präsent.
Die Reise verzögerte sich. Eigentlich war die Einreise nach Europa, genauer nach Frankreich, spätestens für Juli vorgesehen. Doch Frankreich mauerte und verwies auf restriktive Einreisebestimmungen aufgrund von Corona. In Deutschland machte sich das Sommerloch bemerkbar. Die Unklarheit über die Reise spiegelte sich in der Beteiligung an den Treffen wider, die hiesige Organisierung begann zu bröckeln. Hier zeigt sich auch die Problematik, sich anlässlich eines einzelnen Anlasses zu organisieren, was auf die organisatorische Umsetzung der Reise abzielt und weniger auf die geteilten Utopien sowie den Bezug aufeinander. Da es eine Fülle an thematischen und organisatorischen AGs gab, sah es zwischenzeitlich nach einem riesigen Netzwerk aus. Ein Trugschluss, denn einige AGs wurden nur von wenigen Menschen getragen. Auch in den lokalen Vorbereitungsstrukturen verblieb ab August nur noch ein kleiner Orga-Kern. War die „Geheimagenda“ der Zapatistas (nämlich die zerstrittene, zersplitterte Linke in Europa zusammenzubringen und sie in Anbetracht der ernsten Lage und multiplen Krisen die Vereinzelung überwinden zu lassen) etwa doch gescheitert?
Doch das geheime Einfallstor Österreich brachte eine Wende mit sich. Via Wien sind nun seit Mitte September 28 Delegationsgruppen (Equipos) mit jeweils fünf bis sechs Angehörigen der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN in Europa unterwegs (bis zum 6. Dezember), Zone 1 wurde vom 22. September bis zum 10. Oktober 2021 bereist.
Als sich abzeichnete, dass die Compas in wenigen Tagen ins Rheinland kommen würden (vier Equipos, aufgeteilt auf Bonn, Köln, den Hambacher Wald und Lützerath), raufte sich der versprengte Haufen zusammen. Zum Teil konnte aktiviert werden, was in den Monaten zuvor aufgebaut und geplant worden war; teilweise mussten Strukturen, Aktionen und Treffen aus dem Boden gestampft werden. Für die Unterbringung in Köln bot die SSM ihre Infrastruktur an. Hier bekamen die Compas einen kleinen Eindruck vom kooperativen Leben in der Stadt. Die SSM bestreitet ihren Lebensunterhalt mit Umzügen, Entrümpelungen und dem Verkauf von Second-Hand-Artikeln. Die Compas konnten den Second-Hand-Laden besichtigen, die Entrümpelung eines kompletten Gebäudes eine Zeitlang mitverfolgen, und die SSMler*innen erklärten ihnen, wie sie die Gegenstände in „verkaufbar“, „brauchbar“ und Müll sortieren. Vermutlich war der stärkste Eindruck hierbei der unglaubliche Reichtum in diesem Land, in dem intakte Gebäude abgerissen werden und so viel Brauchbares auf dem Müll landet. Gleichzeitig machten die Lebensläufe einiger SSMler*innen mit Obdachlosigkeit, Heimunterbringung und Fluchtgeschichten klar, dass die Chancen auf ein gutes Leben auch hier sehr ungleich verteilt sind. Die Gespräche am Rande der Entrümpelung, bei denen wir mal nicht im Kreis saßen, waren zwar etwas beeinträchtigt durch den Lautstärkepegel, der beim Zerlegen von Möbeln entsteht, aber es war weniger formell – und definitiv ehrlicher.
Der Wunsch der zapatistischen Compas war im Vorfeld klar kommuniziert worden: weniger große öffentliche Aktionen, mehr Austausch mit organisierten Strukturen. Sie wollten von ihrem Kampf berichten und von unseren Kämpfen hören (Escucha y Palabra). Hier wurde ein erster Unterschied deutlich: Sie kommen mit kollektiven Positionen, wir haben viele individuelle Geschichten. Das mag auch daran liegen, dass die Zapatistas über eine klare kollektive Identität verfügen, „wir“ hingegen nicht. Und es stellt sich die Frage: Wer ist überhaupt dieses „wir“?
„Wir“ im Rheinland haben viele, teils sehr unterschiedliche Eindrücke gesammelt. Die Abstimmung des Programms im Galopp lief nicht überall, ohne die eine oder den anderen zu überrennen. Auch auf Bundesebene berichteten an der Organisation Beteiligte, dass sich die Programmgestaltung teilweise eher anfühlte wie ein Wettbewerb: Wer kriegt am meisten Zeit mit den Superstars? In dem Gerangel kam es dann auch noch zu einigen Dynamiken zwischen Generationen und Geschlechtern. Die Vermittlung zwischen älteren Männern und jungen FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binäre, Trans und Agender) in der Organisationsstruktur vor Ort war teilweise nicht unkompliziert. Gerettet hat uns vermutlich der gemeinsame Wille, bei diesem außergewöhnlichen Besuch trotz allem zusammenzuarbeiten.
„Es ist nicht einfach, dass wir uns verstehen“, meinte die Sprecherin des Kölner Equipo nach einer halböffentlichen Veranstaltung, bei der die Besucher*innen gebeten worden waren, nicht nur Fragen zu stellen, sondern auch darzustellen, aus welcher Situation sie kommen und warum sie bestimmte Fragen interessieren. Menschen aus sehr unterschiedlichen Bereichen waren gekommen, die Interessantes zu erzählen hatten. Aber was ist bei diesem Escucha y Palabra wirklich gegenseitig angekommen? Wie können wir uns über so verschiedene Lebensrealitäten hinweg verständigen? Wie viel Hintergrundwissen fehlte auf beiden Seiten, um die Erzählungen wirklich einordnen zu können? Da braucht es sicher noch mehr Übersetzung als nur eine sprachlich korrekte.
Leider gab es keine Zeit, die gemeinsamen Erlebnisse dieser Tage zu reflektieren. Welchen Eindruck von unseren Strukturen nehmen die Compas nach diesen Tagen in Köln mit? Wie fanden sie die Demo von Fridays for Future? Angesichts der Fülle an Programmpunkten konnte kaum ein vertiefter Austausch entstehen. Der Besuch fühlte sich eher wie ein oberflächliches Event-Hopping an. Es stellte sich die Frage, ob es für einen wirklichen Austausch nicht ganz andere Formate braucht.
In Köln machte sich zwischenzeitlich etwas Ernüchterung breit. Wir hatten den Eindruck, dass sich das Equipo vor Ort ziemlich abschottete. Das hatte auch mit den Corona-Schutzmaßnahmen der Compas zu tun, die aus Rücksicht auf ihre Gemeinden zu Hause keinerlei Ansteckungsrisiko eingehen wollten. Da beim Essen keine Masken getragen werden können, wollten sie zum Beispiel beim Essen niemanden dabeihaben. Zwischenmenschlicher direkter Austausch, selbst in Form von Smalltalk, ergab sich nur selten.
Bei einem Treffen mit einem feministischen Kollektiv wirkten die Antworten der zapatistischen Compañeras wie vorbereitete Statements, die an der Oberfläche verharren. Etwa angesichts der Frage, wie es die Compañeras mit autonomen Räumen für FLINTA* halten. „Die brauchen wir nicht. Wenn wir Frauen uns untereinander treffen wollen, kündigen wir das an und machen das einfach. Unsere Compañeros unterstützen uns darin, so wie sie uns auch bei anderen Aufgaben unterstützen. Wir tun das im Gegenzug ebenfalls. Das ist unser gelebter Compañerismo“. Ein vertiefender Austausch, der auch Probleme in bestimmten Prozessen ehrlich untersucht, ist so nur schwer möglich.
Erfrischend war jedoch der Kommentar der zapatistischen Compañeras, nachdem die Kölner Feministinnen ihren erfolgreichen Kampf für ihren Treffpunkt erläutert hatten. „Ihr sprecht von einem ‚autonomen Raum‘. Was bedeutet für euch ‚Autonomie‘? Ihr bezahlt doch Steuern und Miete an den Staat, da kann es sich doch nicht um Autonomie handeln.“
Das Kölner Equipo machte am letzten Tag zusammen mit Delegierten des CNI noch einen Blitzabstecher nach Leverkusen. Dort gab es ein Treffen mit der Initiative „BLOCK Bayer“, die von ihren Aktionen gegen den Agrochemiekonzern berichtete.
Auch in Bonn lief nicht alles glatt, gab es Unvorhergesehenes und Irritationen. Dennoch gelang es unserer kleinen Lokal-AG recht gut, die Programmpunkte aufeinander abzustimmen. Vieles davon – und von den schlaflosen Nächten! – verdanken wir auch dem unermüdlichen und gut organisierten Equipo, das uns besucht hat. Bereits Donnerstagabend in der Bahn von Köln nach Bonn forderten sie uns auf: „Sagt euren Freund*innen und Genoss*innen Bescheid, wir treffen uns um 22 Uhr bei euch und unterhalten uns!“ So war ihr Besuch von vielen kleineren und größeren Austauschrunden geprägt, an dem ein recht stabiler Kern dauerhaft und andere Aktive an einzelnen Terminen teilnahmen. Sie teilten ihre Geschichten mit uns und forderten uns auf, von unseren Kämpfen und Strategien zu erzählen. Besonders die informellen Gespräche zwischendurch waren erhellend und ließen tiefe Sympathie und ein Gefühl der Verbundenheit entstehen. Und auch die ein oder andere verschmitzte Bewunderung, etwa wenn der junge Ricardo in einem Moment sagt: „Beeindruckend, eure Uni! Bei uns gibt es ja kaum formale Bildung“, nur um im nächsten Moment beiläufig zu bemerken: „Also, ich habe ja einige Texte von Marx gelesen, und ich finde seine Thesen zu Religion sehr spannend.“ Wer von uns hat ehrlicherweise mehrere Texte von Marx gelesen?
Neben der Teilnahme an der großen Klimastreik-Demo am Freitag hat sich das Bonner Equipo mit Vertreter*innen von insgesamt 16 Gruppen zu kürzeren oder längeren Gesprächen getroffen – wir waren selbst überrascht, wie viele wir eigentlich sind. Bei einem Treffen mit mehreren Gruppen von unten und links sprachen wir etwa über den Streik der rumänischen Spargelarbeiter*innen in Bornheim, der 2020 für große Aufmerksamkeit sorgte, und über alternative Landwirtschaftssysteme. Und die Zapatistas haben bereits in der kurzen Zeit, die sie in Europa verbracht hatten, schnell festgestellt, was ein Hauptproblem der urbanen Zentren ist: Gentrifizierung. So fragte uns Andrés provokant und solidarisch, was wir dagegen zu tun gedenken, denn: „Wenn ihr nichts macht, werden sie euch verdrängen. Sie werden euch die Städte nehmen. Sie werden euch die Häuser nehmen – und wo werdet ihr dann leben?“.
Die – hoffentlich von Verdrängung geschützten – Büros der ila hat das <span style=»font>Equipo kurz besucht, und wir drückten ihnen die Ausgabe Nr. 175 (Mai 1994) in die Hände, in der das erste deutschsprachige Interview mit Subcomandante Marcos erschienen ist.
Am Sonntag gab es schließlich in der Alten VHS in Bonn ein Zusammentreffen der kurdischen Frauen mit dem in Köln untergebrachten Frauen-Equipo, in dem die jeweiligen Erfahrungen ausgetauscht und gegenseitige Bewunderung ausgedrückt wurde. Der Abend endete mit Jubel und ausgelassenem Tanzen.
Trotz der vielen kleinen und großen Hindernisse merken wir doch: Wir teilen ein Empfinden für die große Bedeutsamkeit der Reise, wir sind zusammengerückt. Da ist etwas entstanden im Rheinland, eine kleine Keimzelle, die vorsichtig brechen und Wurzeln treiben will.
Nach den intensiven Tagen im Rheinland – die Herzen voll Feuer, die Köpfe voll Fragen und die Körper irgendwo zwischen Euphorie und völliger Erschöpfung – ging die Reise weiter ins Wendland. Hier trafen sich die 13 zapatistischen Teams der Zone 1 mit Organisierenden, Freund*innen und Genoss*innen aus dem deutschsprachigen Raum. Wir kamen spätabends an, wurden vom wendländischen kalten Wind und einem wärmenden Lagerfeuer unter dem funkelnden Sternenhimmel begrüßt. Am nächsten Tag zeigte sich jedoch schnell, auf welch‘ wackligen Füßen unsere noch junge Organisierung steht. Es wurde verkündet, dass deutlich weniger Menschen anwesend seien als angemeldet. So wirkte nicht nur die riesige, liebevoll dekorierte Campfläche etwas verloren, vor allem fehlten eine Menge helfender Hände für all die Arbeiten, die es braucht, um ein Camp am Laufen zu halten: von Gemüse schnippeln über Klos putzen bis zu Dolmetschen. Wir spekulierten über die Gründe: Menschen aus dem Rheinland, Münster, Hannover, Celle, Leipzig, Kassel, Witzenhausen oder Frankfurt brauchen vielleicht nach der intensiven Organisierung und Betreuung in ihren Territorien eine Auszeit. Andere, etwa in Hamburg, Bremen oder Berlin, stecken vielleicht durch den noch anstehenden Besuch mitten in den Planungen und sind dadurch verhindert. Wie dem auch sei, für die Anwesenden hieß es Ärmel hochkrempeln. Die Camp-AG musste oft rund um die Uhr ansprechbar sein, koordinieren, in Schichten einspringen. Im Spanischen gibt es das Sprichwort „Somos lxs que estamos y estamos lxs que somos”, etwa: „Wir sind die, die da sind, und die, die da sind, sind wir“. Der Satz meint, dass es sinnlos ist, sich darüber zu ärgern oder den Kopf zu zerbrechen, warum nicht mehr Leute da sind. Die Basis der Organisierung sind die, die da sind, und genau das sind die Richtigen. Von hier aus gehen wir los, miteinander schreiten wir fragend voran. Einerseits hilft dieser Spruch, den Ist-Zustand anzuerkennen und all die, die schon da sind, wertzuschätzen, aus dem Wissen heraus, dass wir gemeinsam viel schaffen können. In Bezug auf die Gira por la Vida ist er aber auch ambivalent, denn eigentlich lernen wir von den Compas, dass wir eben nicht nur die sind, die gerade anwesend sind. Wir sind viel mehr, und wir müssen uns noch darin üben, unsere Gruppen und Kollektive konsequent mitzudenken, uns abzusprechen und eine kollektive Stimme zu finden. Das hilft wenig bei der unmittelbaren Frage, wer auf dem Camp das Klo putzt. Aber es ist ein Hintergrundrauschen, das uns auch nach dem Camp begleiten sollte.
Neben der Absprache von Klo- und Küchenschichten haben wir uns auch auf inhaltlicher Ebene ausgetauscht. Natürlich ist die Zeit immer viel zu kurz, und am Ende des Tages schauen sich Genoss*innen verdutzt an: schon wieder Abendessen? Die ersten beiden Vormittage gehörten dem Wort der Compas der zapatistischen Delegation und vom CNI. Die Teams der zapatistischen Delegation gaben in fünf verschiedenen Zelten tiefergehende Inputs zu den fünf Themen beziehungsweise Phasen ihres Kampfes, die sie uns als ihr kollektives Wort mit nach Europa gebracht haben. Am nächsten Vormittag trafen wir uns erneut in den gleichen Gruppen, um Rückfragen zu den Inputs vom Vortag zu stellen. Die Nachmittage waren, anders als bei anderen Camps, nicht vollgestopft mit unzähligen parallelen Workshops, sondern widmeten sich in drei Teilen der strategischen Debatte: „Feiern – Träumen – Organisieren“. Wir trafen uns in einigen wenigen zentralen Gruppen, um am ersten Tag darüber zu reflektieren, wo wir als Bewegung gerade stehen, was wir zu betrauern haben, worüber wir wütend sind und welche Erfolge wir zu feiern haben. Der zweite Tag widmete sich unseren Träumen und Visionen. Wo wollen wir als Bewegung hin? Wie sehen diese Welten aus, von denen wir träumen und für die es sich zu kämpfen lohnt? Was sind unsere Organisierungsziele? Am dritten Tag schließlich schmiedeten wir konkrete Pläne und trafen Verabredungen für ein paar erste von all den kleinen Teilschritten, die auf dem Weg zur Utopie zu gehen sind.
Als Netz der Rebellion trafen wir uns in etwas fluktuierender Zusammensetzung an allen drei Nachmittagen. Wir trauerten um in Chiapas, Kurdistan und andernorts gefallene Genoss*innen. Wir kritisierten vieles: dass im Verlauf der Reiseorganisierung immer mehr Aufgaben bei immer weniger Leuten zentralisiert wurden und dass die Strukturen, die dazu führen, im Prozess zu spät erkannt oder zu energielos in Frage gestellt werden. Wir kritisierten, dass wir uns selbst und einander nicht gut genug vor dem Ausbrennen geschützt haben. Dass das Netz zwar viele Gruppen zusammengebracht hat und erstaunlich divers aufgestellt ist, aber trotzdem bestimmte Organisierungszusammenhänge weitgehend fehlen, etwa Refugee-Gruppen. Wir müssen uns fragen, warum Bewegungsnetzwerke oft so funktionieren, dass ohnehin strukturell benachteiligte Gruppen auch hier ausgeschlossen bleiben. Es gilt zu hinterfragen, wie wir netzwerken, welche Lebensrealitäten wir nicht oder zu wenig auf dem Schirm haben und auf welche Weise diese – vermutlich unbewussten und ungewollten – Ausschlüsse immer wieder passieren. Und dennoch sind sich viele einig, dass wir mit dem Netz der Rebellion zumindest Anfänge geschaffen haben und vieles zu feiern haben. Dass Gruppen, die seit Jahren nicht miteinander reden, plötzlich wieder an einem Tisch sitzen. Dass wir viele Themenbereiche in unserer Organisierung mitgedacht und direkt adressiert haben: von Feminismus und Antirassismus über Antimilitarismus und Antineoliberalismus bis zu Ernährungssouveränität und Caring Communities. Dass wir 13 Teams willkommen heißen konnten und in wenigen Tagen überbordende Programme auf die Beine gestellt haben. Dass wir dabeigeblieben sind. Dass wir einander kennengelernt haben. Und dass wir so viele Träume teilen. Wir träumen von einer Gesellschaft, in der Gesundheit und Profit voneinander entkoppelt sind. In der unsere Nahrung uns nicht krank macht. In der wir nicht dem Märchen vom individuellen Aufstieg hinterherrennen, sondern Gemeinschaft und Gegenseitigkeit schaffen. In der Menschen trotzdem ihre eigene Zahnbürste haben dürfen und in ihrer Individualität anerkannt werden. In der wir erkennen, dass in unserer unendlichen Unterschiedlichkeit nicht Spaltungspotenzial, sondern eine immense Kraft steckt. In der wir global die Gemeinsamkeiten unserer verschiedenen Kämpfe entdecken und uns gegenseitig darin unterstützen. In der wir empathisch und fürsorglich miteinander sind. In der wir uns nicht gegen die Ausbeutung unserer Erde, unserer Körper und unserer Arbeitskraft wehren müssen. Und dafür müssen wir konkret werden, uns organisieren und verabreden. Neben weiteren Treffen als Netz der Rebellion wurden bereits erste konkrete Aktionen geplant beziehungsweise einander mitgeteilt und eingeladen. Am 16. Oktober fand in Frankfurt am Main eine vom Ya-Basta-Netzwerk organisierte Demo „Für das Leben – gegen den Kapitalismus“ statt. Im Aufruf hieß es: „500 Jahre nach der kolonialen Unterwerfung Mexikos kommen die Zapatistas auf ihrer globalen Reise für das Leben nach Europa. Deswegen werden wir auch in der Finanzmetropole Frankfurt, an diesem europäischen Knotenpunkt fossilistischer, kapitalistischer Macht, zeigen, dass es so nicht weitergeht! Der Planet brennt, unsägliche Armut steht unfassbarem Reichtum gegenüber. Unsere Wut richtet sich gegen Deutsche Bank, Blackrock, EZB, gegen die BAFA und die GIZ“.[fn]Europäische Zentralbank (EZB), Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)[/fn] Hunderte trugen antikapitalistische, antikoloniale und feministische Botschaften auf die Straßen Frankfurts. Für den 30. Oktober rief das Netzwerk zum bundesweiten Aktionstag gegen den sogenannten „Maya-Zug“ auf, der weite Teile Südmexikos touristisch – und also kapitalistisch – erschließen soll. Die Aktion richtete sich symbolisch gegen die Deutsche Bahn, die an dem Vorhaben beteiligt ist, sich aber gekonnt als Klimaschützerin inszeniert. Gleichzeitig stellte die Aktion nicht die DB als Einzelakteurin an den Pranger, sondern klagte das kapitalgetriebene System an, das die Vertreibung von Menschen, die Militarisierung von Land und die Zerstörung von Regenwäldern zur Folge hat. Wie Sérgio Prieto Díaz von der Universität Campeche sagt, muss das Vorhaben zum „Maya-Zug“ in Zusammenhang mit anderen Projekten betrachtet werden, die zusammen als Migrationssperre für Flüchtende aus Zentralamerika fungieren. Mit dem Aktionstag werden die globalen Verstrickungen deutscher Unternehmen aufgezeigt, die für Profite Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in Kauf nehmen. Gleichzeitig wird deutlich, dass in Zeiten der sich zuspitzenden Klimakatastrophe die Kämpfe der indigenen Landbevölkerung Mexikos auch unsere Kämpfe sind, wenn wir ein ernsthaftes Interesse am Erhalt unseres Planeten haben.
Und diese Verbundenheit ist ein Gefühl, das viele an der Organisation Beteiligte teilen. Wenn wir an die letzten Wochen und Monate zurückdenken, nimmt es uns noch immer ein wenig den Atem. Wenn eines klargeworden ist, dann doch das: In unserer Zersplitterung und Vereinzelung scheint es mindestens einen Bezugspunkt zu geben, auf den wir alle uns einigen können: den zapatistischen Widerstand. Die Anziehungskraft dieses Fixpunktes war stark genug, um politisch Noch-, Wieder- und Neuaktive aus unterschiedlichsten Strömungen und Territorien zusammenzubringen und für einen kurzen Moment auch über Streitereien hinaus zusammenzuhalten. Wenn wir nicht in einer geschichtslosen Bewunderung für die Zapatistas verharren wollen, ist die zentrale Frage, die sich jetzt anschließen muss, die nach dem eigentlichen Fixpunkt. Was ist diese gemeinsame Basis, auf der wir unsere Kämpfe aufbauen wollen? Welche Visionen und gelebten Praktiken wiegen schwerer als unsere Differenzen? Schaffen wir es, unsere Unterschiedlichkeit wirklich als Stärke zu verstehen, unsere Kämpfe zu verbinden und untereinander zu stärken? Vielleicht hilft es uns, nicht nur unsere Bezüge zu den Kämpfen weltweit zu formulieren, sondern uns auch aufeinander zu beziehen – als Menschen und als politische Subjekte. Uns in unserer maximalen Komplexität, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit anzuerkennen, uns die Hände zu reichen und von dort aus, wo wir gerade stehen, fragend voranzuschreiten. Dafür müssen wir auch die „Hobbylogik“ des hiesigen Aktivismus in Frage stellen, in der die zwei Stunden Plenum einmal die Woche nach Feierabend ein Freizeitvertreib sind, den man wahrnehmen kann oder auch nicht. Und das heißt nicht, dass wir alle viel mehr Zeit für Aktivismus freischaufeln sollen, denn auch das würde uns keinen Schritt weiter wegbringen von der Logik der Selbstausbeutung. Es heißt, unsere Lebensbedingungen auch als Produkt unserer kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Gesellschaftsform anzuerkennen – Strukturen, von denen wir zwar alle unterschiedlich, aber letztlich doch alle betroffen sind, weil sie uns entzweien, vereinzeln, schwächen. Unsere Politik muss eine radikale Befreiung aus diesen Zuständen zum Ziel haben – und das nicht in die Zukunft verschieben, sondern hier und jetzt angehen. Es reicht nicht zu sagen, dass wir uns eine Welt ohne Rassismus wünschen, sondern wir müssen hier und jetzt aufmerksam sein, was Menschen, die von Rassismus betroffen sind, von ihren Genoss*innen brauchen, um aktiv Politik machen zu können. Es reicht nicht zu sagen, dass wir den Kapitalismus überwinden wollen, sondern wir müssen hier und jetzt analysieren, wer auf welche Weise vom kapitalistischen Ausbeutungs- und Vereinzelungssystem betroffen ist und was wir dem entgegensetzen. Es reicht nicht zu sagen, dass Aufgaben in unseren Strukturen fair verteilt werden sollen, sondern wir müssen hier und jetzt fragen, was Menschen brauchen, um bestimmte Aufgaben machen zu können. Schluss damit, dass immer diejenigen mit der meisten freien Zeit und dem größten Redetalent die Schlüsselpositionen einnehmen und diejenigen, die ihre Bedürfnisse am wenigsten kommunizieren können, die ungeliebten und unhonorierten Fleißaufgaben im Hintergrund erledigen. Solcherlei Hierarchien, die weder demokratisch legitimiert noch transparent besprochen werden, sind nicht einfach zu durchblicken und somit auch schwer zu kritisieren. Wie wäre es, wenn wir stattdessen formalisierte, konsensual festgelegte und rotierende Rollen schaffen? Und wenn wir dabei gleichzeitig unser Bewusstsein dafür schulen, dass nicht alle Menschen die gleichen Voraussetzungen haben, um eine solche Rolle auszufüllen, sei es wegen unterschiedlicher Erfahrungen, Talente oder unterschiedlich ausgeprägter zeitlicher Kapazitäten? Wie wäre es, wenn wir all das in unsere Entscheidungen einbeziehen und Menschen die Unterstützung geben, die sie brauchen, um eine Rolle einzunehmen, auf die sie Lust haben? Es würde vielleicht bedeuten, unsere Kenntnisse weiterzugeben, uns beim Hausputz zu unterstützen oder uns gegenseitig Geld zu leihen oder zu schenken. Es würde eine Politisierung des Alltags und unserer Beziehungen bedeuten. Es würde heißen, uns eine kollektive Sicherheit zurückzuerobern, die uns genommen wurde. Wir könnten der neoliberalen Vereinzelung eine radikale Politik der Gemeinsamkeit, der gegenseitigen Empathie und kollektiven Fürsorge entgegensetzen. Denn in einem kapitalistischen System, das auf Vereinzelung und Konkurrenz abzielt, ist Gemeinschaft herzustellen ein radikaler Akt.