Die Seele anrühren – oder baumeln lassen

Zu Hause glücklich sein“ – das haben wir alle in der Pandemie versucht. So ist auch das neue Album des kölsch-mexikanisch-argentinischen Duos Riosentí betitelt. Wobei sich die beiden selbst nicht als Duo, sondern als „musikalisches Familienprojekt“ bezeichnen. Mit der Folge, dass ihre Kinder auf dem CD-Cover, der ältere Sohn gar in zwei Tracks verewigt wird. Das ist Geschmackssache, in zehn Jahren werden die Kinder ihre Eltern möglicherweise dafür kritisieren. Egal. „Ser feliz en casa“ ist ein hörenswertes und bezauberndes Album. „Mit den Aufnahmen für die CD begannen wir 2019 in Argentinien. Wir befanden uns auf der Suche nach dem, was es heißt, glücklich zu sein“, erzählt Aline Novaro bei der Vorstellung der CD im Kölner Allerweltshaus. „Mit ‚Zu Hause‘ kann ein Haus gemeint sein, ein Stück Land, auf dem du lebst, oder ein Zustand, dass du dich mit dir und den Deinen zu Hause fühlst. Ich schlug Josué vor, dass wir das CD-Cover so gestalten, dass wir ‚zu Hause‘ zu sehen sind, aber dieses Zuhause die Natur ist. Eine befreundete Filmemacherin übernahm das Artwork für das Album. Ich wünschte mir, dass es wie im Traum wirkt.“ Das Ergebnis ist raffaelitisch, opulent, barock und futuristisch zugleich. Aber nun zur Musik.

Erstes Highlight des Albums: „Como el agua“. Darin klingt Alines Stimme wie südspanischer Flamencogesang und betört mit Zeilen wie „Die Liebe ist wie das Wasser/sie kommt und geht/sie erneuert sich, wenn sie fließt“. Alines Stimme ist hervorragend, besonders berührend findet die Rezensentin allerdings die Lieder, in denen auch Josué Ávalos mitsingt. Etwa „El canto“, das außerdem durch seine rhythmische Komplexität verzaubert, oder „Será“ mit Josués rockigem Sprechgesangintro, das später zweistimmig endet. „Renacerá“ beginnt mit Josués virtuosem Gitarrenspiel und mündet in einen zarten pentatonisch-andinen Zwiegesang. Überwältigend ist die Ballade „Güachito tumbí“, ein Klagegesang, der eine tragische Geschichte erzählt. In „Ser feliz“ schließlich kommt die Gitarre brasilianisch angehaucht daher, und während Novaros Gesang erneut die Gitana beschwört, erinnert Josués Melodieführung an die großen Meister der Música Popular Brasileira. Josué ist und bleibt ein hervorragender (klassisch ausgebildeter) Gitarrist, und zusammen mit Aline Novaro hat sein Songwriting neue Höhepunkte geschaffen. Geburt, Liebe, Tod, Naturgewalten, Zugehörigkeit, Zukunft – thematisch setzt Riosentí auf die ganz großen Themen. Unbedingte Kauf- und Verschenkempfehlung also für alle Fans von lateinamerikanischer Musik im Stil der Cantautores (als kleine monetäre Wiedergutmachung dafür, dass die deutsche Ausländergesetzgebung die beiden vor einigen Jahren ausnehmend schlecht behandelt hat). Die musikalische Familie hat sich jetzt übrigens in Südspanien niedergelassen. Sie wird aber – zum Glück – unsere feindseligen Breitengrade weiterhin mit Konzerten bereichern.

Wer es weniger bedeutungsvoll und eher elektronisch mag, ist mit dem neuen Album des argentinischen Produzenten Pedro Canal, aka Chancha Vía Circuito bestens bedient. Stilistisch setzt der Cumbia-Electrónica-Pionier aus Buenos Aires auf seinem neuen Album „La Estrella“ auf Downbeat mit Folkloreanklängen. Hier dominieren ebenfalls Topoi aus der Natur. Das Album ist üppig produziert, integriert Naturgeräusche und Tierstimmen, ist insgesamt einfach: sehr chillig. Ein Drittel der Stücke kommen ohne Gesang aus, für die anderen hat sich der Soundbastler hochkarätige Musiker*innen mit ins Boot geholt, etwa die bekannte kolumbianisch-kanadische Sängerin Lido Pimienta. In „Amor en silencio“ singt sie zu synkopischen Xylophon-Akkorden über „Sororidad“ (Schwesternschaft). Das argentinische Folk-Fusion-Trio Fémina zelebriert im Song „Cometa“ seinen fabelhaften Harmoniegesang. Die vor Kurzem mit einem Artikel in der New York Times geadelten Meridian Brothers aus Bogotá wirken bei der Cumbia „El pavo real“ mit, die Songzeilen lakonisch-albern, vom Sound her aber Favorit der Rezensentin (neben dem rhythmisch anspruchsvollen Track „El árbol y el hacha“).

Dank Presse-Info weiß die Rezensentin nun endlich, wofür der Künstlername von Pedro Canale steht: „Er spielt auf den Spitznamen für den Zug an, der die Hauptstadt mit den südlichen Stadtteilen von Buenos Aires verbindet: ‚Chancha‘ (Schwein) ist der Name, den sie der alten Fiat-Lokomotive gaben. Und ‚Vía Circuito‘ ist der Name der Zuglinie.“ Nun denn, auf geht‘s, elektronisch puckernd Richtung Großstadtdschungel.

Mehr Infos zu Riosentí auch in ila 286, 357, 372, 423, zu Chancha Vía Circuito in ila 353