Von dem Film bleiben viele Bilder in Erinnerung: Zwei Frauen in den schwülen Wäldern Brasiliens, eine Frau, die schwanger und mit einem seltsamen Strahlen von einem Schiff hinabsteigt, oder das Bild von dem frischvermählten Ehepaar im Badezimmer, das dort soeben den ersten Beischlaf vollzogen hat. „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ von Karim Aïnouz erzählt vor allem mit seinen eindrücklichen Bildern vom Leben zwei sich unendlich liebender Schwestern und gleichzeitig dokumentiert er eine bestimmte Zeit und Gesellschaft, das Brasilien der 50er-Jahre.
Eurídice (Carol Duarte) und Guida (Julia Stockler) sind grundverschieden, aber unzertrennlich. Die beiden Schwestern lieben sich über alles. Die eine kann nicht ohne die andere sein, was der einen fehlt, findet sie in der anderen. Eurídice ist die Ruhige, die Stille, mit einer Leidenschaft für Musik. Sie spielt Klavier, geht ganz darin auf und ihr großer Traum ist es, am Konservatorium in Wien zu studieren und professionelle Pianistin zu werden. Guida ist lauter und offener als ihre Schwester, sie liebt das Leben als solches und stürzt sich immer wieder in neue romantische Abenteuer. Eurídice deckt sie jedes Mal, auch dann, als sie sich mit einem griechischen Seemann trifft und diesem von Rio de Janeiro in sein Heimatland folgt. Guida brennt durch und Eurídice ist plötzlich allein und das ist der Anfang einer tragischen Geschichte.
Eurídice fehlt die Schwester im Hintergrund, schließlich hatte jene sie immer in ihrer Leidenschaft für das Klavierspiel bestärkt und unterstützt. Als die Eltern von Guidas Verschwinden erfahren, sind sie außer sich und klammern sich fest an die ihnen verbleibende Tochter. Von ihr erwarten sie nun ein anständiges Leben und verheiraten sie mit einem ehrenhaften Beamten, Antenor (Gregório Duvivier). Eurídice ist die Angst ins Gesicht geschrieben, vor dem Fest ebenso wie vor der Hochzeitsnacht. Für sie wird es das erste Mal sein, aber sie hat weniger Angst vor dem Akt selbst als davor, schwanger zu werden. Sie ist auf dem Höhepunkt ihres musikalischen Könnens und wünscht sich doch so sehr, ans Konservatorium zu gehen!
Zeichenhaft spiegelt sich diese Angst vor dem, was da kommen mag, in der Inszenierung des Geschlechtsverkehrs in besagter Hochzeitsnacht. Der Bräutigam fordert sein Recht, auch nachdem sich Eurídice nach zu viel Alkohol oder aus lauter Angst übergeben hat. Eurídice taumelt und fällt in die Badewanne, was Antenor jedoch nicht davon abhält, sich auf sie zu stürzen. Die Kamera bleibt dicht bei den beiden Figuren, die sich versuchen, in dem Badezimmer so zu positionieren, dass der Beischlaf möglich ist. Die Kamera fängt die Enge des Raumes auf und man fühlt das Unbequeme, das Bedrängende der Situation regelrecht, räumlich wie emotional. Denn das ist es, was Eurídice jetzt passiert, dass die Ehe sie einengt, in ihrem Raum, in ihrer Zeit, in ihren Möglichkeiten.
Nach einigen Monaten taucht Guida wieder in Rio auf. Sie kehrt schwanger und ohne einen Mann an ihrer Seite zurück. Der Matrose habe sich als Schuft erwiesen, erklärt sie ihrer Mutter, die sie in die Arme schließt. Ihr Vater Manuel (Antonio Fonseca) dagegen reagiert schockiert und verbannt seine Tochter kurzerhand aus dem Haus. Aber nicht nur das, er erzählt Guida, Eurídice sei zum Musikstudium nach Wien gezogen und würde nichts mehr von ihr wissen wollen. Eurídice wird er nie erzählen, dass Guida zurückgekommen ist. Von da an folgt die Handlung vor allem einer Frage: Werden sich die beiden Schwestern jemals wiedersehen?
Beide Schwestern versuchen, ihr Leben bestmöglich zu leben, so selbstbestimmt, wie das im Brasilien der 50er-Jahre eben möglich ist. Guida bringt einen Jungen zur Welt und schlägt sich fortan als alleinerziehende Mutter durch. In Zélia (Maria Manoella) findet sie eine liebevolle zweite Familie, vermisst die eigene Schwester aber schmerzlich, was sie in regelmäßigen Briefen an sie niederschreibt. Eurídice versucht zur selben Zeit, ihren Berufswunsch und ihre Rolle als Ehefrau unter einen Hut zu bringen. Als sie ebenfalls schwanger wird, muss sie von der Musik pausieren, was sich in dumpfer Passivität niederschlägt. Ihren Traum aber lässt sie sich, von den anderen unbemerkt, auch Jahre später nicht nehmen. Irgendwann schafft sie es, sich am nationalen Konservatorium zu bewerben.
„Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ ist ein zutiefst berührender Film über das Schicksal der beiden Frauen. Beide machen Fehler und beide versuchen, mit den Folgen zurechtzukommen und sie wiedergutzumachen. Aber die patriarchalische Gesellschaft, die sie umgibt, lässt ihnen nur wenige Möglichkeiten. Ihr Umfeld ist gekennzeichnet von den Regeln, die Väter und Ehemänner aufstellen und denen sie sich fügen müssen. Dass diese sie bedrängen und oft an einem guten, erfüllten und liebevollen Leben hindern, macht die Frauen doch auch robust. Denn es sind starke Frauen, die sich letztendlich nicht einschüchtern lassen, die ihre Sehnsucht und ihre Liebe immer in sich tragen und ihre Träume auch im hohen Alter nicht verlieren. Das zeigen kleine Gesten und Blicke in ihren Augen, wunderbar gespielt von allen drei Darstellerinnen, zuletzt von der großartigen Fernanda Montenegro, die die gealterte Eurídice mimt. Diese unendliche Liebe macht Hoffnung und sie ist das, was man mit nach Hause nimmt nach einem ganz und gar intensiven Kinobesuch.