Olga Benario, deren Andenken in der DDR vielfach geehrt wurde, gehört inzwischen auch in der Bundesrepublik zu den bekannten Opfern des Holocaust. „Bekannt“ meint nicht nur eine – im Zusammenhang mit dem Holocaust ohnehin fragwürdige – Form von Berühmtheit, sondern erinnert auch daran, dass die meisten Opfer unbekannt geblieben sind. Daraus entsteht für die Späteren die Verpflichtung, im einzelnen Opfer immer auch der Gesamtheit der Opfer zu gedenken. Fehlt diese Solidarität, kommt es zu Fehlreaktionen wie jener, die Theodor W. Adorno von einer Theaterbesucherin berichtet, die nach einer Aufführung von „Das Tagebuch der Anne Frank“ erschüttert gesagt haben soll: „Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.“ Olga Benario bestand auf dieser Solidarität noch im tiefsten Leiden. Am 12. Februar 1938 schrieb sie ihrem in Brasilien inhaftierten Lebenspartner Carlos Prestes aus dem Gestapogefängnis in Berlin, sie sei auch jetzt noch imstande zu unterscheiden „zwischen der Bedeutungslosigkeit der Fragen der eigenen kleinen Person u. den allgemeinen weltgeschichtlichen Ereignissen unserer Zeit“.
Die Münchner Kommunistin jüdischer Abstammung hat ihren Namen in diese Ereignisse eingeschrieben: Außer einer Monographie, einem Roman und einem Dokumentarfilm sind in den vergangenen Jahren auch ihr Gefängnis- und KZ-Briefwechsel und ihre Gestapoakte veröffentlicht worden, 2020 erschien ein eindringliches Hörbuch.
Mit Anita Prestes’ schmalem Buch „Olga Benario Prestes. Eine biografische Annäherung“ werden diese Darstellungen auf bedeutende Weise ergänzt. Es beruht auf der Auswertung des umfangreichen Gestapodossiers zu Olga Benario, das seit April 2015 in den Archiven der Russischen Föderation zugänglich ist. Das Buch enthält Fotos, eine Anzahl Briefe und ein für die deutsche Leserschaft bestimmtes Interview mit der Autorin.
Auf eine knappe Darstellung von Olga Benarios Jugend und frühem kommunistischen Engagement folgt als Hauptteil eine beklemmende Montage von ausgewählten Briefen und Gestapodokumenten mit ergänzenden Kommentaren von Anita Prestes. Damit wird das Klischee, der Holocaust müsse unverständlich bleiben, unterlaufen. Die Schritt für Schritt auf die Vernichtung eines Menschen zulaufende Bürokratie wird dem analytischen Verstand zugänglich gemacht.
Die Ereignisse in Olga Benarios kurzem Leben – sie war 34, als sie getötet wurde – sind zeitweise kaum glaubhaft. Deshalb die zahlreichen Fußnoten und die Bibliographie in der brasilianischen Originalausgabe von 2017 (sie fehlen in der deutschen Ausgabe).
Ein bemerkenswerter Aspekt des Buches ist in der Person der Autorin begründet: Anita Prestes ist Historikerin, sie ist aber auch die Tochter von Olga Benario. Das führt, unvermeidlicherweise, zu einer stereophonen Sicht. Etwa in dem Kapitel über die Rettung der 14 Monate alten Anita aus dem Gewahrsam der Gestapo durch die brasilianische Schwiegermutter. Was mögen diese Passagen der heute 85jährigen Autorin abverlangt haben? Prestes hat eine Lösung gefunden, um die eigene Betroffenheit auf Distanz zu halten: Sie spricht von ihrem einstigen Ich in der dritten Person: „das Kind“; in einer Anmerkung macht sie darauf aufmerksam. Mit diesem Hinweis wird die Leserschaft für die schwierige Balance der Autorin zwischen Historiographie und Autobiographie sensibilisiert.
Für die deutsche Ausgabe wurde auch der Untertitel geändert. Im Original lautet er: „Uma comunista nos arquivos da Gestapo“ (Eine Kommunistin in den Archiven der Gestapo). Anita Prestes, selbst Kommunistin und gemäß ihren 2019 erschienenen Memoiren „Viver é tomar partido“ (Leben heißt Partei ergreifen) zeitweise in führender Position in der PCB[fn]Die PCB (Partido Comunista Brasileiro) war früher die „moskauorientierte“ Kommunistische Partei in Brasilien, während die größere PCdoB (Partido Comunista do Brasil) prochinesisch war. Die PCB vertritt weiterhin kommunistische Positionen, während die PCdoB heute ein eher sozialdemokratische Profil hat und eng mit der Arbeiterpartei PT verbündet ist.[/fn] tätig, besteht in allen ihren Wortmeldungen auf dem politischen Engagement ihrer Eltern.
Auch in ihrer breit angelegten Monographie über ihren Vater wird das schon im lapidaren Untertitel signalisiert: „Um comunista brasileiro“ (Ein brasilianischer Kommunist). Doch auch ohne die Erwähnung im Titel wird die Zentralität von Olga Benarios kommunistischem Engagement für ihr Handeln und Schicksal deutlich; es ist ein Verdienst des Verbrecher Verlags, dieses Buch herausgebracht zu haben.
Schwieriger ist Anita Prestes’ Umgang mit der jüdischen Herkunft ihrer Mutter. Sie macht aus dieser Herkunft keinen Hehl, spielt aber deren Bedeutung herunter. Olga Benario war bereits mit 17 Jahren aus der jüdischen Gemeinschaft ausgetreten, das geht aus einer von Prestes zitierten Gestapoakte hervor. In Benarios Gefängnisbriefwechsel ist die jüdische Herkunft kaum erwähnt. Die jüdische Gemeinde Brasiliens, so Prestes im Interview, habe Olga Benario für sich vereinnahmt, während sie ihren Kommunismus ignoriere. Dagegen wehrt sich die Autorin zu Recht. Vielleicht wird man Benarios Verhältnis zum Judentum am ehesten gerecht mit dem Hinweis auf den berühmten Essay „Der nichtjüdische Jude“ des polnisch-britischen kommunistischen Historikers Isaac Deutscher aus dem Jahr 1958. Deutscher legt eine jüdische Linie »großer Revolutionäre des modernen Denkens« frei, zu denen er unter anderen Karl Marx, Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zählt. Sie hätten sich von ihrer jüdischen Herkunft gelöst; aber ohne diese Herkunft sei ihre Entwicklung nicht zu verstehen. In diesem Sinn wäre Benario als nichtjüdische Jüdin zu begreifen.
Mehrfach betont Prestes die Standhaftigkeit ihrer Mutter. Trotz aller seelischen und körperlichen Qualen während der Jahre in Gefängnis und KZ habe sie nichts preisgegeben, das wird mit Zitaten aus dem Gestapodossier belegt. Diese Standhaftigkeit war der Autorin so wichtig, dass sie eine darauf hinweisende Aussage ihrer Mutter als Motto vor den Text gesetzt hat. Untrennbar verbunden mit der Standhaftigkeit ist für Prestes der Begriff der Solidarität. Immer wieder betont sie die solidarische Haltung ihrer Mutter allen übrigen Opfern des Faschismus gegenüber. Solidarität bildet eine Art Leitmotiv des Buches, darauf wird man bereits in der Widmung verwiesen: „In Erinnerung an Olga Benario Prestes, meine Mutter, und alle, die im Kampf gegen den Faschismus gefallen sind“. Mit dieser Formulierung kommt Anita Prestes ihrerseits der Verpflichtung nach, im einzelnen Opfer immer auch solidarisch an die Gesamtheit der Opfer zu erinnern.
Die Besprechung einer Publikation von Robert Cohen über Olga Benario siehe ila 401.