In der Veröffentlichung aus Morelia ist zu lesen, dass zapatistische Bauern und Bäuerinnen bei der Arbeit auf einem kollektiv bewirtschafteten Feld von bewaffneten Personen der Grupppe ORCAO überrascht wurden. Diese bedrohten die Campesinos/as und erhoben Anspruch auf das von den Zapatistas bearbeitete Land. Mit einer schwankenden Zahl zwischen vier und rund einhundert Aggressoren wiederholten sich die Bedrohungen in den folgenden Tagen. Bei zwei der Zwischenfälle feuerten die AngreiferInnen Schüsse ab, es gab aber bisher noch keine Verletzten. Die regierungsnahe Organisation der Kaffeebauern von Ocosingo ORCAO ist in der Vergangenheit schon öfter durch derartige Übergriffe in Erscheinung getreten. So drangen 150 ihrer Mitglieder im August 2011 in eine zapatistische Gemeinde ein und zerstörten ein Haus, das MenschenrechtsbeobachterInnen als Küche diente.
Zu ähnlichen Bedrohungen kam es aktuell auch in einer Gemeinde, die La Realidad angehört. 45 bewaffnete Anhänger verschiedener Parteien bedrohten die dort mit dem Bau eines Hauses zu Kaffeelagerung beschäftigten Menschen. Zuvor war bereits einer der Angreifer bei der Junta de buen gobierno (Rat der guten Regierung – repräsentatives Selbstverwaltungsgremlium der ZapatistInnen) erschienen und hatte diese aufgefordert, das Kaffeelager an ihn zu übertragen. In ihrer Bekanntmachung betont die junta de buen gobierno, dass sie davon ausgeht, dass die Aggressoren nur im Auftrag handeln und die Hauptschuld für die Eskalation den VertreterInnen staatlicher Institutionen zukommt. Viele, wenn nicht sogar ein Großteil der in Chiapas aktiven bewaffneten paramilitärischen Gruppen setzt sich aus den BewohnerInnen indigener und kleinbäuerlicher Gemeinden zusammen. Gleichzeitig unterhalten die Befehlshaber bewaffneter Gruppen im Regelfall Kontakte zu offiziellen Stellen oder/und erfahren direkte Unterstützung vom mexikanischen Militär und können somit keineswegs als vom Staat unabhängige Gruppen betrachtet werden.
Auch die Gemeinde San Marcos Aviles, Teil des Verwaltungszentrums Oventik, ist anhaltenden Aggressionen ausgesetzt, die aber gerade eine neue Qualität zu erreichen scheinen. Ein kürzlich auf verschiedenen alternativen Plattformen veröffentlichtes Video lässt die Befürchtung aufkommen, eine erneute Vertreibung der Menschen aus San Marcos könnte unmittelbar bevorstehen. Ähnliches lassen Androhungen derjenigen befürchten, die seit geraumer Zeit alles daran setzen, den Konflikt in San Marcos zur Eskalation zu bringen. Mit einer bis dahin nicht dagewesenen Deutlichkeit haben die AggressorInnen kürzlich öffentlich bekanntgegeben, dass sie sich durch den Wahlsieg „ihrer“ Organisation, der grünen Partei Mexikos PVEM (eine konservative Partei, die eng mit der PRI verbündet ist und bei den Wahlen eine Allianz mit ihr gebildet hatte. Die PVEM wird von den europäischen Grünen nicht als grüne Partei betrachtet, weil ihre politischen Vorstellungen, etwa ihr Eintreten für die Todesstrafe, grünen Grundüberzeugungen zuwiderlaufen – die Red.) dazu befähigt fühlen, die Zapatistas endgültig zu vertreiben. In dieser öffentlichen Bekanntmachung wurde auch kein Hehl daraus gemacht, dass für den Akt der Vertreibung schon die nötigen Kontakte zu umliegenden Gemeinden geknüpft wurden und die AggressorInnen hier mit Unterstützung rechnen können.
Seit meinem Besuch vor einigen Monaten in der Gemeinde als Menschenrechtsbeobachter haben sich die damals schon anhaltenden Anfeindungen noch verstärkt. Nach wie vor werden Angehörige der zapatistischen Bewegung bedroht, Werkzeuge und Lebensmittel werden gestohlen, Tiere verletzt und Felder zerstört. Da sich diese Aktionen ausschließlich gegen die zapatistischen Familien richten, kann davon ausgegangen werden, dass Diebstähle nicht in erster Linie aus Selbstzweck begangen werden, z.B. um über eine ausreichende Ernährung zu verfügen. Stattdessen kann angenommen werden, dass die Aktivitäten darauf abzielen, die Angehörigen der zapatistischen Unterstützungsbasis zu einer Gegenreaktion zu provozieren, um die Rechtfertigung für eine erneute Vertreibung zu schaffen bzw. ohne diesen Umweg eine Flucht zu erzwingen, um das Land der zapatistischen Familien in Besitz zu nehmen. Als die Zapatistas im September 2010 das letzte Mal gezwungen waren, das von ihnen bewirtschaftete Land zu verlassen, waren sie unhaltbaren hygienischen Umständen ausgesetzt und eine ausreichende Ernährung konnte nicht mehr gewährleistet werden. Viele Menschen und vor allem Kinder erkrankten und litten an Unterernährung. „Es war Regenzeit und wir mussten unter provisorisch aufgespannten Planen im Schlamm schlafen“, beschreibt eine Zapatistin die Lebensbedingungen nach der Vertreibung. Die Rückkehr geschah damals nach einem Monat im Rahmen einer zivilen Karawane, bestehend aus VertreterInnen der junta de buen gobierno und verschiedener MenschenrechtsvertreterInnen.
Die Aggressionen in San Marcos Aviles gehen allesamt von Personen aus, die sich der PVEM angeschlossen haben. In ihrer Allianz mit der PRI wird die PVEM nach dem Sieg bei den Regionalwahlen bald den chiapanekischen Gouverneur stellen, während die PRI ab 2013 wieder auf nationaler Ebene in Mexiko regiert. Es fällt nicht leicht, die genauen Gründe zu benennen, die die Parteiangehörigen zu ihrem Handeln bewegen. Das Menschenrechtszentrum Frayba, das eng mit den zapatistischen Gemeinden zusammenarbeitet, verweist auf Verbindungen der AggressorInnen zu staatlichen Stellen auf Regionalebene. Dies deutet darauf hin, dass die eigentlichen AnstachlerInnen in der Verwaltung des Bundesstaates zu finden sind und die Spaltung der Gemeinde im Interesse der staatlichen Politik vorantreiben. Laut Darstellung in den Communiqués der Zapatistas geht es ihnen dabei um die Schwächung der zapatistischen Bewegung. Trotz dem weiteren Fortbestehen paramilitärischer Gruppen und der vorangetriebenen Militarisierung in Chiapas ist die zunehmende Spaltung eines der Hauptprobleme für viele zapatistische Gemeinden. Das Schüren interner Konflikte oder die Schaffung selbiger ist ein wirksames Mittel der Aufstandsbekämpfung. NachbarInnen und Bauern/Bäuerinnen, die in potenziell aufständischen Gemeinden leben, werden durch diese Strategie gegeneinander ausgespielt und oftmals zu erbitterten GegenspielerInnen.
Die konsequente Ablehnung staatlicher Gelder durch die Angehörigen der zapatistischen Unterstützungsbasen entfaltet in diesem Zusammenhang eine zweiseitige Wirkung. Einerseits erscheint sie als logische Haltung in Anbetracht der Vereinnahmungs- und Spaltungsambitionen staatlicher Stellen und der systemtragenden Oppositionsparteien. Auf der anderen Seite führt sie zu einer Abkehr vieler ehemaliger UnterstützerInnen von der zapatistischen Bewegung, da sie nicht auf finanzielle Zuwendungen durch den Staat, meist in Form von sog. Sozialprogrammen, verzichten wollen oder können. Die Zapatistas versuchen diesem Dilemma mit dem weiteren Ausbau nichtstaatlicher, autonomer Strukturen zu begegnen, um damit ein Gegenmodell zu den sogenannten Sozial- und Entwicklungsprogrammen der Regierung zu schaffen und den staatlichen Spaltungsversuchen entgegenzuwirken. Der Verzicht auf staatliche Gelder ist wichtiger Bestandteil des auf Selbstverwaltung setzenden zapatistischen Gegenmodells zum (neoliberalen) Kapitalismus und zum von der mexikanischen Regierung forcierten „Entwicklungskonzept“ ländlicher Regionen in Chiapas und anderen mexikanischen Bundesstaaten. Hinter diesen Programmen steht in der Regel die Absicht, das von KleinbäuerInnen bewirtschaftete Land für internationale Märkte erschließbar zu machen, das u.a. aufgrund seines Ressourcenreichtums und seiner großen Biodiversität zunehmend wirtschaftliche Interessen weckt.
Was die Rückkehr der PRI (Partei der institutionaliserten Revolution), die ab dem Januar 2013 erneut die mexikanische Regierung bilden wird, für den zapatistischen Autonomieprozess bedeutet und inwiefern die sich jetzt häufenden Aggressionen bereits Vorboten für eine Zunahme der Repressionen gegen die zapatistischen Gemeinden unter der bevorstehenden PRI-Herrschaft sind, ist schwer einzuschätzen. Verstärkte Alarmbereitschaft ist angesichtst der Geschichte der PRI auf alle Fälle angebracht. Während ihrer über 71 Jahre andauernden Einparteienherrschaft war die Partei für ihren repressiven und gewalttätigen Kurs gegen alle Formen oppositioneller Organisierung bekannt. Wichtig ist, kommende Entwicklungen zu beobachten, und bereits jetzt bestehen z.B. im Fall der Gemeinde San Marcos Aviles Möglichkeiten, solidarische Unterstützung zu leisten. Eine Gruppe der otra campaña (der anderen Kampagne, ein von der EZLN angestoßenes zivil-gesellschaftliches Netz) in New York hat eine Kampagne zu San Marcos Aviles ins Leben gerufen.
Nähere Informationen hierzu finden sich unter: http://sanmarcosaviles.wordpress.com/deutsch