Aus verborgenen Orten stiegen die Katze, der Fuchs, der Papagei, der Sittich und die Krähe herab. Sie brachten die Nachricht, dass die gelben, violetten und weißen Maiskolben gewachsen und reif waren. Die Götter körnten die Maiskolben aus, und mit den losen Körnern, die in klarem Regenwasser aufgelöst wurden, machten sie die Flüssigkeit, die für die Schaffung und Verlängerung des Lebens, der neuen Wesen, nötig war. Dann schufen die Götter die Gestalt besagter Menschen. Mit der gelben und weißen Maismasse formten und modellierten sie das Fleisch des Rumpfes, der Arme und Beine.“
Bereits der Gründungsmythos der Quiché-Maya macht die elementare Bedeutung, die der Mais für das Leben vieler lateinamerikanischer Völker hat, deutlich. Die ältesten Maisfunde wurden im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca entdeckt und sind 6250 Jahre alt. Der Mais ist als Kulturgut und Naturerbe Mexikos ein kostbares Geschenk für die Menschheit. Diese Pflanze war noch nie wildwachsend: Ohne das Einwirken der Menschen kann sie sich nicht fortpflanzen. Ihre Evolution ist das Ergebnis einer Jahrtausende währenden, erfolgreichen Kombination von natürlichen und kulturellen Selektions- und Verbreitungsprozessen. Somit ist der Mais nicht nur ein mexikanisches Gut, sondern ein Allgemeingut der Menschheit: Für sein Bestehen, seine Entwicklung und seine Nutzung tragen die Menschen die Verantwortung.
Vor zwei Jahren gründeten mexikanische Künstlerinnen aus Oaxaca unter der Leitung der Kuratorin Marietta Bernstorff die Gruppe Mamaz (Mujeres Artistas y el Maíz – Künstlerinnen und der Mais), um mit Hilfe der Kunst gegen den materiellen, spirituellen und nahrungsbezogenen Verfall der mexikanischen Regierung zu protestieren, die im Interesse der neoliberalen Wirtschaft die Maiskultur im Lande zugrunde richtet. Innerhalb von nur zehn Jahren ist Mexiko, die Wiege des Mais, vom Exportland zum Importland geworden. Die gesamten Maiseinfuhren stammen aus den USA. Der gelbe Mais, der dort angebaut wird, ist für den menschlichen Konsum ungeeignet, weil er normalerweise für Tierfütterung und Industrie verwendet wird. Transnationale Unternehmen wie Monsanto, Syngenta, Pioneer und Dow Agroscience versuchen, die Maissaat unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie ihr eigenes, genmanipuliertes Saatgut verbreiten. Neben der fehlenden landwirtschaftlichen Unterstützung durch die mexikanische Regierung und den wirtschaftlichen Interessen transnationaler Unternehmen sieht Mamaz weitere Bedrohungen für das einheimische Saatgut im migrationsbedingten Verlust der Anbautradition und in der Wasserknappheit in Folge des Klimawandels.
Im März 2007 präsentierten 28 Künstlerinnen in der Stadt Oaxaca zum ersten Mal ihre Ausstellung El maíz es nuestra vida (Der Mais ist unser Leben). Ihr Konzept bezieht sich auf alle Facetten des Themas „Mais“ – als Pflanze, Saatkorn und Kulturgut. In der Ausstellungsbroschüre erklärt Mamaz: „Wissenschaftliches und technologisches Wissen wird eingesetzt, um das Verhältnis des Menschen zu seiner Erde zu stören. Derjenige, der das Maiskorn anbaut, soll von ihm entfremdet werden, um ein abhängiger Konsument von patentgeschützten Produkten der großen, transnationalen Unternehmen zu werden. Dabei wird nicht nur die biologische Vielfalt des Mais gefährdet, sondern auch die Lebensform derjenigen, die ihn anbauen.“ In der mexikanischen Hauptstadt, dem darauffolgenden Ausstellungsort, beteiligten sich bereits 48 Künstlerinnen am Projekt. Einige von ihnen schlossen sich damals zur Kunstgruppe Mamaz zusammen.
Die Kunstwerke reichen von Fotografien, Filmen, Literatur und Poesie, Objektkunst und Installationen bis hin zur vielfältigen Verarbeitung des Mais in der mexikanischen Küche. María Isabel Grañén Porrúa schreibt über den Mais: „Eins steht fest, wir MexikanerInnen sind die Söhne und Töchter des Mais, deshalb umfasst seine Bedeutung seit vorspanischer Zeit beide Geschlechter: Er ernährt seine Kinder, ist Vater und Mutter zugleich. Was verdanken wir nicht alles den Indígenas! Wir sollten damit beginnen, ihnen für den Mais zu danken, denn wenn eins die MexikanerInnen eint, dann ist es die Tortilla. Ob reif oder jung, in einer Suppe, gebraten, süß, als Getränk oder Eintopf, der Mais verwöhnt den mexikanischen Gaumen, wird ein Teil von uns, verbrüdert uns, eint uns. Der Mais ernährt Mexiko von Nord bis Süd.“
Selma Guisande hat die Installation Milpa genealógica (Maisfeld-Genealogie) geschaffen und ihren Stammbaum mit Tortillas dargestellt: Die großen Fladen hängen in ihrer genealogischen Anordnung an einer schwarzen Wand. Auf die Tortillas hat sie die Umrisse ihrer Verwandten mit Bekanntschaftsgrad aufgemalt. An der angrenzenden Wand hängt eine Fotoserie, ebenfalls im runden „Tortillaformat“, auf der eine junge Frau beim Essen einer Tortilla aus den verschiedensten Perspektiven zu sehen ist: die lebende Gegenwart. Flor que se desgrana ist eines der Gedichte von Natalia Toledos, die sie auf Spanisch und Zapotekisch, der Indigenensprache Oaxacas, schreibt:
Flor que se desgrana
Arroja granos de maíz púrpura
sobre tu petate
para que conozcas la mazorca con qué estás hecho,
desgrana tu cuerpo
en el comal y su lumbre.
Sobre la tierra del mundo, grano de maíz somos
Ausgekörnte Blume
Verstreue purpurfarbene Maiskörner
auf deiner Matte,
damit du den Maiskolben kennenlernst, aus dem du gemacht bist,
körne deinen Körper aus
auf dem Comal[fn]Große, runde Bratfläche, auf der traditionell Tortillas geröstet wird.[/fn] und seiner Glut.
Auf der Erde der Welt sind wir Maiskörner
Eine Installation von Maries Mendiola setzt sich mit den genmanipulierten Pflanzen auseinander. Bei Híbrido Monsanto & Co. (Hybrid von Monsanto & Co.) hängt ein Stofftuch von der Decke, auf das ein riesiger Maiskolben gemalt ist. Doch er besteht nicht aus Maiskörnern, sondern aus aneinandergereihten Totenköpfen. Fliegen umschwirren den Kolben und dort, wo die Wurzeln beginnen, hat die Künstlerin den Stoff zusammengeschnürt – auf dem Boden darunter liegen drei Päckchen genmanipulierter Maiskörner. Bernstorff entwickelte komplementär zu El maíz es nuestra vida auch das Projekt Bolsa del Mercado (Markttasche). Dabei handelt es sich um eine Ausstellung von Objektkunst, mit der der „Mais-Dialog“ in breitere Bevölkerungsschichten getragen werden soll. Über Werkstätten, die an die Kulturinstitution des jeweiligen Ausstellungsorts angeschlossen sind, werden Frauen vor Ort in das Kunstprojekt eingebunden. Bei einem kostenlosen Seminar können sie sich mit der Arbeit von Mamaz vertraut machen und anschließend zwei eigene Objekte für die Bolsa del Mercado entwerfen. Die Teilnehmerinnen kommen aus verschiedenen Kulturkreisen, ökonomischen und sozialen Schichten und für sie alle hat Mais eine eigene Bedeutung. In der „Markttasche“ fügen sich die unterschiedlichen Ideen, Erfahrungen, Geschichten und Inspirationen zu einem organischen Gesamtkunstwerk zusammen. Ob Meisterwerke oder populare Kunst – Ziel ist, mit der weiblichen Kreativität einen historischen Wandel zu erreichen.
Mamaz schafft moderne Kunst, die sich in einer ständigen Metamorphose befindet. Das Projekt entwickelt sich weiter, indem sich stets neue Künstlerinnen an den verschiedenen Ausstellungen beteiligen, das Thema „Mais“ in seiner Tiefe erforschen und über ihre Kunst vermitteln. Marietta Bernstorff lädt nach und nach neue Kuratorinnen ein, in verschiedenen Kulturstätten am Kunstprojekt teilzunehmen. „Wir versuchen, dass das Publikum den Mythos und die Realität des Mais als Ursprung und Quelle des Lebens kennenlernt und stolz darauf ist. Dadurch kann bei den KonsumentInnen ein Bewusstsein geschaffen werden, damit sie sich beim Einkaufen fragen, wer der Hersteller ist, ob das Produkt gesund ist, ob es sich um ein lokales Produkt handelt und ob es die Umwelt schädigt“, erklärt Bernstorff.
Das Projekt Mamaz wird von der Idee getragen, Traditionen und kulturelle Vielfalt wertzuschätzen und zu erhalten. Deshalb ist es auch eine soziale und künstlerische Widerstandsform gegen die Globalisierung. In diesem Sinne hat Ana Santos ein Plakat entworfen, auf dem folgender Spruch steht: „Der Tortillapreis ist gestiegen, und ich kann mich immer noch nicht an das Brot gewöhnen.“