Vom September 1947 bis März 1948 unternimmt der 1904 in England geborene Romancier Christopher Isherwood, der ein Jahr zuvor die US-Staatsbürgerschaft erworben hatte, zusammen mit seinem Lebensgefährten, dem 17 Jahre jüngeren Fotografen Bill Caskey, eine große Südamerika-Rundreise. Sie reisen per Schiff, Zug, Flugzeug und Autoferro, jenem dieselbetriebenen andinen Bus auf Schienen, der heute noch in Ecuador verkehrt. Vom venezolanischen Hafen La Guaira führt die Reise über Cartagena, Barranquilla und Bogotá nach Quito, und von dort über Lima und La Paz bis Buenos Aires.
Besonders beeindruckt den Autor die Vielfalt des Kontinents, worauf der Titel des Reisetagebuchs „Kondor und Kühe“ anspielt. Der Kondor steht für das andine Hochland, die Kühe hingegen für die Llanos und Pampas, auch wenn in den Anden hin und wieder beide aufeinandertreffen: Isherwood beschreibt, wie Kondore Kühen zuerst die Augen aushacken, sie dann mit ihrem Flügelschlag über den Rand einer Klippe treiben, um sie schließlich zu verspeisen.
Höchst interessant und kurzweilig sind Isherwoods detaillierte Beschreibungen der Menschen, denen sie unterwegs begegnen, der Flora und Fauna, Kunst und Kultur sowie der wichtigsten Städte, die das reisende Paar besucht. Caracas meiden sie. Hier sind es die hohen Preise in Folge des Ölbooms, die Isherwood und Caskey von einem Besuch in der „modernen, sauberen, amerikanischen Stadt“ Abstand nehmen lassen. La Guaira hingegen ist „ein schmutziger, schäbiger kleiner Ort“, wo sie die ethnische Vielfalt der Menschen beeindruckt. Während Isherwoods Beschreibung von Bogotá („deprimierend unscheinbar, keinen Charakter, jenseits des oberflächlichen nordamerikanischen Prunks“) wenig schmeichelhaft ist, fasziniert ihn Quito, die Stadt, in der er leben könnte, denn „hier ist die Traurigkeit der Anden nicht mehr als ein blasser Schatten in der Erinnerung.“ In La Paz hingegen, „einer eher kleinen Stadt mit fünf oder sechs halbherzigen Wolkenkratzern und sehr wenig Kolonialarchitektur“ bekommt ihm die Höhenluft nicht, in Buenos Aires wiederum, der riesig großen und modernen „wahrhaft internationalsten Stadt der Welt“, lebt er auf.
Immer wieder kommt Isherwood auf Gemeinsamkeiten der verschiedenen Städte und Länder zu sprechen, er schildert Gewalt und Revolutionen, Despoten und Populisten, aber auch die Literaturbegeisterung der Menschen in Kolumbien, Peru oder Argentinien, auch wenn sie die Literatur der jeweiligen Nachbarländer nicht kennen. Dafür sind sie mit den Autorinnen und Autoren des eigenen Landes sowie Frankreichs, Spaniens oder Nordamerikas bestens vertraut.
Den Sturz von Rómulo Gallegos in Venezuela oder die Ermordung von Jorge Eliécer Gaitán, dem er auf seiner Reise durch Kolumbien mehrmals begegnet, ereignen sich erst nach Isherwoods Rückkehr in die USA, sodass diese Ereignisse nur im ausführlichen Nachwort Erwähnung finden. In Ecuador schildert er die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen klerikal orientierten und laizistischen Intellektuellen, die ewige Rivalität der beiden Ex-Präsidenten García Moreno und Eloy Alfaro, die bis in die 1940er-Jahre nachwirkt. In Peru ist es der Aufstieg von Víctor Haya de la Torre und seiner Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), der ihn fasziniert. Spannende Beschreibungen widmet er dem Aufstand in Trujillo im Jahre 1930 und den Stätten der grausamen Repression.
Anschaulich schildert er das Patt zwischen der peruanischen Regierung und Opposition, die beide vor politischem Mord nicht zurückschrecken. Mehrere Seiten nimmt die Charakterisierung des APRA-Führers und das Resümee eines Gesprächs mit Haya de la Torre ein. Auch die Präsidentschaft Villarroels in Bolivien (1943-1946), sein Sturz und grausames Ende an einem Laternenpfahl der bolivianischen Hauptstadt werden ausführlich beschrieben. Perón und sein Regime stellt er Hitler und der Nazi-Diktatur gegenüber, die sich eigentlich überhaupt nicht ähnelten. Aufschlussreich sei es, so Isherwood, Peróns Lächeln mit Hitlers verhärmtem Gesichtsausdruck zu vergleichen. Werde in Argentinien richtiger Terror angewendet, seien die Methoden gewöhnlich amateurhaft und planlos. „Göring hätte sicherlich … reichlich gekichert und gesagt: Auf solche Dinge verstehen wir uns in Deutschland besser.“
Wenn ein Autor eine Reise tut, dann trifft er aber vor allem Künstlerinnen und Literaten. All die kolumbianischen, ecuadorianischen, peruanischen und argentinischen Intellektuellen, Malerinnen und Autoren, denen Isherwood durch Vermittlung von Freunden begegnet, sind in den jeweiligen Ländern heute noch große Namen. Interessierte werden auf Google fündig oder schlagen in Literaturgeschichten nach. Vor allem die Kolumbianer haben es Isherwood angetan. Durch León de Greiff, Eduardo Zalamea Borda und Edgardo Salazar Santacoloma lernt er die Tertulia colombiana kennen, „ein großartiges Spektakel des kolumbianischen Literaturlebens“, das er als eine Marathon-Diskussionsrunde über literarische Themen beschreibt, bei der viel getrunken und geraucht wird. Allen Autorenkollegen, die eine Reise nach Südamerika planen, rät er, „mindestens drei Dutzend Exemplare ihrer Bücher“ mit auf die Reise zu nehmen, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, mit leeren Händen dazustehen, denn „Autoren haben mir ständig ihre Bände mit Widmung geschenkt.“
In Bogotá lernt Isherwood den Herausgeber der Tageszeitung El Espectador, Luis Cano kennen, der ihn sehr beeindruckt: „Er ist einer von diesen Menschen, deren Integrität so offensichtlich ist, dass man sich berührt und beschämt fühlt, und die man beschützen möchte.“ In Cali wiederum begeistert er sich für Dr. Buenaventuras Privatmuseum: „An so einem Ort langweilt man sich nie, weil man nie weiß, worauf man als Nächstes stoßen wird.“ Hier entdeckt er eine indianische Mumie, die angeblich einzig existierende mit perfekt erhaltenem Geschlechtsteil. In Popayán trifft Isherwood Sanín Cano, den von allen Maestro genannten „ranghöchsten Kritiker der kolumbianischen Literatur“, dessen Essays ihn wegen ihrer erstaunlichen thematischen Vielfalt überraschen: „Alfred Polgar, Samuel Butler, Germán Arciniegas, Lord Northcliffe, Giosuè Carducci, Wilfrid Blunt, Georg Brandes, das argentinische Theater.“ Und in Buenos Aires ist er von Victoria Ocampo angetan, „eine Aristokratin – im guten wie im schlechten Sinne – furchtlos, großzügig, gebieterisch, anspruchsvoll … eine große, starke Frau, mit entschiedenen Gesten“, Autorin, Eigentümerin und Herausgeberin der Literaturzeitschrift Sur, „wahrscheinlich die beste ihrer Art in Südamerika.“
In Buenos Aires trifft er auch alte Bekannte aus Berlin wieder, wo Isherwood von 1929 bis 1933 als Englischlehrer arbeitete: Berthold Szczesny, „Bubi“, sein Liebhaber aus den frühen 1930er Jahren. Der Abenteurer, Barkeeper und Boxer musste 1933 Berlin verlassen und gelangte als blinder Passagier auf einem Schiff nach Südamerika. Zuvor hatte er deutschen Flüchtlingen zur Flucht nach England geholfen, kurzzeitig wurde er von der Gestapo inhaftiert. Auch Rolf Katz ist einer seiner Berliner Freunde. Der Ökonom ist „einer der sehr wenigen Leute, denen ich je begegnet bin, die Marx wirklich gelesen, studiert und verdaut haben“. Über Paris und London emigrierte Katz nach Buenos Aires, wo er seit 1937 lebte und das Wochenblatt Economic Survey herausgab, „die einzige Publikation dieser Art in Argentinien, die in Regierungs- und Börsenkreisen einen guten Ruf (genießt).“
Schon in Quito traf Isherwood immer wieder auf Flüchtlinge aus Europa: Er mietet ein Zimmer bei Familie Schneider aus Prag, die die Pension Astoria betreibt. In Prag seien die Schneiders relativ wohlhabend gewesen, jetzt arbeite Herr Schneider bei einer Bank für ein sehr bescheidenes Gehalt. Dennoch sei Frau Schneider vollkommen zufrieden mit ihrem neuen Zuhause. So auch Hippi Seckel, ebenfalls eine alte Freundin aus Berliner Zeiten, für die es keinen Ort in der Welt gibt, wo sie lieber leben würde als in Quito. Vor dem Krieg hatte sie in Menorca gelebt, bis Franco alle Flüchtlinge des Landes verwies. In La Paz trifft Isherwood vor allem Flüchtlinge aus Österreich. Die seien dort so zahlreich, dass der Dramatiker Georg von Terramare problemlos eine Truppe und auch ein Publikum für seine Stücke im Wiener Dialekt auftreiben kann. Aber alles in allem scheinen die Österreicher weitaus weniger zufrieden als etwa die Schneiders in Quito, was sicherlich auch am unwirtlichen und traurigen Charakter der bolivianischen Hauptstadt liege.
Isherwoods kurzweiliges und informatives Reisetagebuch, das aus nicht nachvollziehbaren Gründen erst jetzt in deutscher Sprache erschienen ist, strotzt nur so von Erlebnissen, Abenteuern und Namen von Menschen, denen der Autor auf seiner monatelangen Reise begegnet. Ich hätte mir bei dieser Vielzahl an Städten und Personen ein Namens- und Ortsregister gewünscht. Etwas seltsam mutet heute die mangelnde Offenheit des Autors von „Goodbye to Berlin“ an, der Romanvorlage für das Musical „Cabaret“. Denn mit seinem Schwulsein, seinen Erlebnissen, Beziehungen und Freundschaften hält er etwas hinter dem Berg, auch in den Rückblicken auf die Berliner Zeit.
Nur eingeweihte Leserinnen und Leser erkennen zwischen den Zeilen den einen oder anderen versteckten Hinweis auf Isherwoods Homosexualität. Seltsam distanziert wirkt die kurze Beschreibung des eingangs erwähnten Lebensgefährten Bill Caskey. Er führt ihn ein als einen 26jährigen Iren aus Kentucky, den Dr. Sheldon „als einen kleinen viscerotonischen Mesomorphen klassifizieren“ würde, ein Fotograf von Beruf, der ihn begleite, um die Fotos für das Buch zu liefern, ganz so, als handele es sich um eine Zufallsbegegnung oder einen zweckdienlichen Reisebegleiter. Dies ist sicherlich der verklemmten Zeit geschuldet, in der das Buch entstand und die dafür sorgte, dass eine andere sexuelle Identität einen ständigen Konfliktherd darstellte. Aber das wiederum ist ein neues Kapitel und ein Thema für sich.
Christopher Isherwood: Kondor und Kühe. Ein Südamerikanisches Reisetagebuch, Übersetzung: Matthias Müller, Liebeskind-Verlag, München 2013, 368 Seiten, 22,- Euro