Haben Sie schon mal einen Brief bekommen?“, fragt ein Angestellter im Büro eine Praktikantin. „Weiß ich nicht, ich erinnere mich nicht. Sollte ich mal einen bekommen haben, ist es lange her, vielleicht als Kind mal“, ist die Antwort (S. 108-109). Völlig klar: Briefe sind unmodern. Menschen schreiben heue elektronisch: Emails, Twitter, SMS, What’s App und was noch weiter erfunden wird. Papier, Stempel, Post – das war einmal.
Mithin ist ein im 21. Jahrhundert geschriebener Briefroman ein gewagtes Unterfangen. „Blaue Blumen“, der gerade ins Deutsche übersetzte Briefroman von Carola Saavedra ist im Hinblick auf die überkommene Gattung ein Experiment, aber auch in Sachen Kommunikations- wie auch Gendertheorie. Dies alles zusammen macht ihn so spannend.
Die Versuchsanordnung geht folgendermaßen: Die unterzeichnende „A.“ schreibt an neun aufeinander folgenden Tagen Briefe an den „Liebsten“, der sie offensichtlich verlassen hat. Die handschriftlichen Briefe sind Versuche, einen Raum – also Distanz – zwischen Schreiberin und Adressaten aufzubauen. Der durch das Schreiben geschaffene Abstand soll helfen, die Trennung anzunehmen, sie von allen Seiten auszuleuchten, sie zu begreifen von allem Anbeginn an, vom Augenblick der ersten Begegnung, die, so mutmaßt A., bereits den Moment der Trennung in sich birgt. Wann ist die Beziehung gekippt? A. beschreibt den Moment, an dem der „Liebste“ zum ersten Mal ausrastet, weil er sich fehlinterpretiert fühlt. Was darauf folgt, skizziert A. immer wieder anders. Die Versionen spannen sich von gewalttätigen bis zu erotischen Szenen, von Versöhnung bis zur Unterwerfung. Alles Einbildung? Oder eine schriftliche, wohlinszenierte Verführung mit Rückeroberungsabsicht? Bis zuletzt fragt A. immer wieder neu: woher soviel Kraft, soviel Gegenkraft, soviel Hass, soviel Liebe, soviel Kampf?
Die neun Briefe (sieben oder zwölf wären zu viel Symbolik gewesen) richten sich an und umkreisen gleichzeitig ein Objekt der Begierde. Für die Schreiberin stellen sie einen emanzipatorischen Akt dar. Der neunte Brief, das kündigt sie an, wird der letzte sein. Und so ist es. Wiewohl darin auch steht, dass die Liebe bleibt und damit dem „Liebsten“ trotz allem die Türen immer offen stünden, ist der Ton nun ein anderer, und so blitzt ein Messer wortwörtlich in ihren letzten Worten auf.
Der Empfänger dieser Botschaften durchläuft einen ganz anderen Prozess. Er fischt die nicht an ihn, sondern an einen Vormieter gerichteten Briefe aus seinem Briefkasten, reißt sie dennoch auf, verschlingt sie gleichsam bei erster Gelegenheit. Neugier gepaart mit Scham ob seiner ungehörigen Einmischung in Angelegenheiten anderer schwindet schnell zugunsten von Gier nach dem nächsten Schreiben. Zunehmend spiegelt er seine eigenen Frauenbeziehungen – seine Exfrau, seine kleine Tochter, seine neue Freundin – anhand der Fragen, die die Briefschreiberin stellt. Er wird unfähig, sein altes Leben fortzuführen, bleibt der Arbeitsstelle fern, verbringt seine Zeit vor dem am Stempel identifizierten Postamt, um die Schreiberin abzupassen. Mangels Erfolg spürt er den Vormieter auf, übereicht ihm die Briefe. Dessen Reaktion wird hier nicht verraten, ergibt sich aus der Anlage des Romans.
Die in Ich-Form geschriebenen Briefe der Frau und die Beschreibungen der (nicht-schriftlichen) Antworten des Mannes hierauf wechseln einander ab. Während die Frau sich durch die Infragestellung der Beziehung freischreibt, gerät der Mann in immer umfassendere Abhängigkeit von eben diesen Fragestellungen. Sie entschlüsselt, er verschraubt sich. Der Faktor Geschlechterverhältnis ist entscheidend für die Sprengung des klassischen kommunikativen Dreiecks.
Carola Saavedras Titel sind Chiffren. So „Landschaft mit Dromedar““ (2010, deutsch 2013, vgl. ila 365), nun „Blaue Blumen“. An deren Vase mit blauen Blumen, notiert die Briefschreiberin, habe sie sich in einem Moment erlittener Gewalt festgeklammert, als „würde auch sie sich an jemandem festhalten, dabei gab es niemanden außer uns“ (S. 180). Fast könnte man an Münchhausen denken.
Carola Saavedra, 1973 in Chile geboren, wuchs in Brasilien auf und schreibt auf Portugiesisch. Wie auch „Landschaft mit Dromedar“ ist auch der neue Roman kaum geographisch zu verorten. Es geht um innere Landschaften, um das Ausloten der Möglichkeiten, dass Männer und Frauen sich verstehen – eine ziemlich universelle Fragestellung.