Es ist der 29. Mai 1969. Die ArbeiterInnen von Córdoba haben den Generalstreik beschlossen. Seit 1966 ist Diktator Onganía an der Regierung. Er hat wichtige Errungenschaften abgeschafft. Widerstand in Betrieben und Universitäten wird mit Gewalt unterdrückt. Jetzt heißt die Parole „aktiver Streik“: Raus aus den Betrieben, auf die Straße. Um elf Uhr soll der 37-Stunden-Streik beginnen. Schon vorher verlassen die AutoarbeiterInnen die Fabriken und machen sich zu Tausenden in das kilometerweit entfernte Stadtzentrum auf. Weitere Menschen schließen sich auf dem Weg an. Die Gewerkschaften SMATA[fn]SMATA ist eine traditionell peronistische Gewerkschaft. Mit 6000 Arbeitern von IKA-Renault und Mitgliedern in weiteren Automobilbetrieben hatte sie Gewicht in der lokalen Arbeiterbewegung Cordobas. Bis 1967 war sie ein bürokratischer Apparat, der Hochlohnarbeiter repräsentierte. Das änderte sich mit dem Beginn von Entlassungen bei IKA; SMATA schlug einen kämpferischeren Weg ein. Bei den Gewerkschaftswahlen im April 1972 gewann die Strömung, die sich zum clasismo, zur Klassenkampftendenz zählte, und in der Folgezeit viele Streiks organisierte. Dies ging der nationalen Gewerkschaftsführung und ihrem Generalsekretär José Rodriguez zu weit. Er schrieb Hetzartikel gegen die „antiargentinischen Verräter“, löste 1974 SMATA Córdoba auf und schloss die Delegierten des clasismo aus der Gewerkschaft aus. In der BRD ist Rodriguez vor allem durch seine Beteiligung am „Verschwinden“ der Gewerkschafter bei Mercedes-Benz in Buenos Aires bekannt geworden, wo vierzehn unabhängige Betriebsräte 1977 unter der Videla-Diktatur ermordet wurden.[/fn] (Automobilarbeiter) und Luz y Fuerza (Elektrizitätswerke) sorgen für die Ausstattung der Demonstration mit Molotow-Cocktails, Zwillen und Krähenfüßen; die Arbeiter nehmen Wurfmaterial aus den Fabriken mit.
Um 11:30 Uhr kommt es zur ersten Auseinandersetzung mit der Polizei, die den Weg in die Stadt versperren will. Mit einem Steinhagel setzen sich die ArbeiterInnen gegen Gasgranaten durch. Die Auseinandersetzungen dehnen sich auf das gesamte Zentrum aus. Barrikaden werden errichtet und angezündet. Die Läden werden geschlossen, die Straßen füllen sich mit Menschen. Die AnwohnerInnen dieser Mittelschichtsviertel applaudieren den DemonstrantInnen und unterstützen sie beim Barrikadenbau. Zu diesem Zweck werden Autos umgeworfen und Möbelgeschäfte geplündert. Die Polizei verliert die Kontrolle über die Stadt. Sie greift zu den Waffen. In den Krankenhäusern kommen Menschen mit Schussverletzungen an. Die Nachricht von den ersten Todesopfern macht die Runde und steigert die Wut. Einige DemonstrantInnen schießen zurück. Das Ausmaß der Zerstörungen ist erheblich, aber die Aufständischen gehen nicht planlos vor. Sie plündern und verwüsten ein Militärquartier und stecken Geschäfte von „oligarchischen“ oder „imperialistischen“ BesitzerInnen in Brand. Als die Flammen drohen, auf Wohnungen überzugreifen, sorgen sie dafür, dass die Feuerwehr durchkommt und löschen kann. Um 14 Uhr ist die Stadt besetzt und verbarrikadiert. Aus dem ArbeiterInnenausstand ist ein allgemeiner Aufstand geworden. Die Menschen sind auf der Straße, stärken sich mit dem, was AnwohnerInnen spendieren oder die Plünderungen erbracht haben, einige halten Reden, Kuriere kümmern sich um den Nachrichtenaustausch zwischen den verschiedenen Orten.
Um 15:45 Uhr kündigt das Militär sein Eingreifen und Kriegsgerichte an, und um 17 Uhr beginnen 3000 Militärs, die Stadt zurückzuerobern. Wieder werden Gebäude in Brand gesteckt. Sabotage führt zu einem weiträumigen Stromausfall. Die ganze Nacht kommt es immer wieder zu Schießereien. Am nächsten Vormittag stellen sich neue Massendemonstrationen den Militärs entgegen. Das StudentInnenviertel Barrio Clínicas ist weiterhin in der Hand der Aufständischen. Aber im Laufe dieses zweiten Tages gelingt es den Militärs, die Revolte niederzuschlagen. Es folgen Razzien und Verhaftungen. Noch am selben Abend werden die ersten Gerichtsurteile bekannt, u.a. gegen radikale GewerkschafterInnen. Agustín Tosco, bekannte Führungspersönlichkeit der unabhängigen Gewerkschaft Luz y Fuerza, wird zu mehr als acht Jahren verurteilt. Der Aufstand hat mit mindestens dreizehn Toten, hunderten Verletzten und mehr als 600 Verhafteten eine traurige Bilanz. Aber die Beteiligten wissen, dass sie Geschichte geschrieben und eine wirkliche Umwälzung erlebt haben. Der Cordobazo markiert einen Wendepunkt.
Niemand hätte eine solche Dynamik planen können. Im Cordobazo wurden die Führungen von politischen Gruppierungen, Gewerkschaften und StudentInnen von der Basis überholt. Aber der Aufstand kam nicht aus dem Nichts; er hatte eine längere Vorgeschichte von Kämpfen und Organisierung. Córdoba ist durch die Industrialisierung sprunghaft gewachsen. Die EinwohnerInnenzahl verdoppelte sich von 400 000 Ende der 40er Jahre bis 1970 auf 800 000. Die Autoindustrie brauchte vor allem ungelernte ArbeiterInnen. Sie kamen aus anderen Provinzen und vom Land in die neuen Fabriken. FIAT hatte 1954 die Traktorenfabrik Pampa übernommen. Zu dieser Fabrik FIAT Concord kamen später FIAT Materfer (Eisenbahnteile) und weitere Werke. Die neuen ArbeiterInnen sahen sich mit einem despotischen Fabrikregime und ständig verschärftem Arbeitstempo konfrontiert. Wie im entfernten Turin, sollten auch die FIAT-Arbeiter in den argentinischen Fabriken zu ProtagonistInnen einer neuen Bewegung werden.
Das Panorama war damals geprägt von einer weitgehenden Integration der Gewerkschaften in den Staat (dem argentinischen Peronismus). Die gesetzliche Festschreibung der Einheitsgewerkschaft gab dem bürokratischen Apparat CGT Alleinvertretungsrecht und Macht. „Zuschlagen um zu verhandeln“, hieß damals seine Devise. Dieses Modell geriet mit der Diktatur von Onganía in die Krise. Ab 1967 kam es zu Regierungsangriffen auf Errungenschaften der ArbeiterInnen ohne Rücksicht auf die Gewerkschaften. Die Diktatur hatte die Verhandlungslogik aufgekündigt, die Gewerkschaftsbürokraten konnten nichts mehr erreichen. Dies öffnete den Raum für einen neuen Basisaktivismus in den Betrieben, in denen sich BetriebsrätInnen und Delegierte für härtere Druckmittel stark machten. Im März 1968 kam es zur Spaltung des Gewerkschaftsdachverbandes CGT. In der „CGT der Argentinier“ schlossen sich verschiedene linke Strömungen zusammen – Basisaktivisten und linksperonistische Gewerkschaftsfunktionäre, Linkskatholiken, Stalinisten, Linksradikale und Unabhängige. Sie proklamierten den Kampf gegen die Diktatur und organisierten große Mai- und andere Massendemonstrationen, die mit heftiger Repression konfrontiert waren.
Im Mai 1969 spitzte sich die Lage zu. Am 13. Mai schaffte die Regierung den „englischen Samstag“ ab (eine halbe Schicht arbeiten für volle Bezahlung). Aufgerufen von SMATA versammelten sich mehr als 5000 Autoarbeiter zur Beratung. Die Polizei griff sie an und provozierte heftige Krawalle. Am nächsten Tag traten zuerst die Autoarbeiter für 48 Stunden in den Streik. Andere Gewerkschaften schlossen sich an. Gleichzeitig kämpften StudentInnen in mehreren Städten gegen die Privatisierung der Unimensen. Die Repression forderte Todesopfer. Am 23. Mai besetzten die StudentInnen in Córdoba den Stadtteil Barrio Clínicas. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden immer härter. Ein Student wurde durch Schüsse schwer verletzt. Am 26.5. beschloss die ArbeiterInnenbewegung von Córdoba schließlich in zwei Plenumsversammlungen zusammen mit StudentInnen den aktiven Generalstreik für den 29./30. Mai.
Nach diesen zwei Tagen des Cordobazo war die Stadt eine andere. Es gab neue Themen, neue Diskussionen. ArbeiterInnen, die sich wenige Monate vorher überhaupt nicht für Politik interessiert hatten, diskutierten jetzt über Klassenkampf, Revolution und Sozialismus. Auf der Grundlage der Erfahrung, dass Rebellion möglich ist, bekamen die theoretischen Diskussionen der Linken eine neue Dynamik und bezogen sich verstärkt auf die Arbeiterklasse. Die Revolte war Konsequenz der sozialen Widersprüche, die sich jahrelang aufgestaut hatten, aber sie wurde zu mehr: zu einem qualitativen Sprung für die Bewegung. In den folgenden Jahren fanden in den Industriegürteln von Córdoba, Rosario und dem Großraum Buenos Aires viele Kämpfe neben oder gegen die traditionellen Gewerkschaften statt. Ihr Spielraum war nicht nur durch den Staat eingeschränkt, sondern auch von unten, durch den Vertrauensverlust bei den Mitgliedern. Es kam zu Gewalttätigkeiten gegenüber GewerkschaftsführerInnen (bis hin zu Morden, was jedoch in der Bewegung höchst umstritten war). ArbeiterInnen machten massenhaft Erfahrungen mit neuen Kampfformen, wie Fabrikbesetzungen mit Geiselnahme, und mit Basisdemokratie. In den Abteilungen wurde diskutiert, für Delegierte galt das Rotationsprinzip, für Entscheidungen sind Versammlungen zuständig.
Eine besondere Radikalisierung erlebten die gelben FIAT-Gewerkschaften SITRAC (bei FIAT Concord, 2500 Mitglieder) und SITRAM (bei FIAT Materfer, 1200 Mitglieder). Beide wurden 1965 gegründet, um die Auto- und Metallgewerkschaften SMATA und UOM zu schwächen und an der Organisierung in diesen Betrieben zu hindern. Der Plan der unternehmertreuen Betriebsgewerkschaft ging zunächst auf. Aber als im März 1970 der Generalsekretär von SITRAC darauf bestand, einen Tarifvertrag zu unterschreiben, der von drei Vollversammlungen abgelehnt worden war, entstand eine Basisbewegung für seine Absetzung; sie besetzt die Fabrik, um saubere Wahlen zu erzwingen. Ein ähnlicher Prozess fand gleichzeitig bei SITRAM statt. Beide Gewerkschaften funktionierten mit den neuen Delegierten nach basisdemokratischen Prinzipien, mit ständigen Versammlungen. Sie traten mit der Parole auf: „Weder Staatsstreich, noch Wahlen – Revolution!“ Ähnliche Tendenzen von clasismo, von revolutionär- klassenkämpferischer Haltung, breiteten sich in vielen Betrieben und Gewerkschaftsorganisationen aus.
Im Juni 1970 wurde Onganía von Militärs zum Rücktritt aufgefordert und abgesetzt, als er sich weigerte. Im März 1971 erlebte Córdoba einen weiteren Aufstand, den Viborazo (der Biss der Viper – nachdem der Gouverneur die Bewegung als Schlange bezeichnet hatte, der er den Kopf abschlagen würde). Im Gegensatz zum Cordobazo spielten die FIAT-ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaften diesmal eine wichtige Rolle. Ein halbes Jahr später wurden SITRAC und SITRAM mit Gewalt und Verhaftungen aufgelöst. Die Firma bedankte sich für diese Operation beim Militär mit einem großzügigen Geldgeschenk.
1972 war das ganze Land in Aufruhr. Wegen der vielen Universitätsbesetzungen berieten die Rektoren, ob sie das Semester vorzeitig für beendet erklären sollen. Die klassenkämpferischen ArbeiterInnen veranstalteten ihren ersten landesweiten Kongress. Neben den Gewerkschaften entstanden ArbeiterInnenkoordinationen. Verschiedene Guerillagruppen führten bewaffnete Aktionen durch.
In dieser Herrschaftskrise versuchte der Staat 1973, die Situation durch Neuwahlen unter Kontrolle zu bekommen und seinen alten Trumpf auszuspielen: Perón wurde aus dem Exil zurückgeholt. Der „Sozialpakt“ stärkte die Gewerkschaftsführungen und beschert den ArbeiterInnen Reallohnverluste. Es kam zu neuen Kämpfen und Betriebsbesetzungen mit Geiselnahmen, bei der auch die Anerkennung der aus den Kämpfen entstandenen Betriebsräte und Basisorganisationen gefordert wurde. Noch unter Perón begann der Schmutzige Krieg gegen die Bewegungen. Die Todesschwadrone AAA (Antikommunistische argentinische Allianz) mordeten im Regierungsauftrag. Viele Linke mussten die Fabriken verlassen und in den Untergrund gehen, wenn sie nicht ihr Leben aufs Spiel setzen wollten. Im März 1976 putschte sich in Argentinien die nächste Diktatur an die Regierung. In sieben Jahren wird sie 30 000 Menschen verschwinden lassen. Mit diesem unbeschreiblichen Terror wird der Kampfzyklus vorläufig beendet sein.
Der Cordobazo und seine Folgen in Argentinien waren Teil eines weltweiten Aufbruchs. Dieselben Elemente finden sich in Bewegungen quer über den Planeten wieder: alles in Frage stellen, alles selber machen, Selbstermächtigung statt herkömmlicher Führerschaft, Basisdemokratie statt Repräsentanz, Selbstverwaltung statt Regierung. Damals waren die Bewegungen nicht zusammengekommen, sie blieben zeitlich und örtlich getrennt. Die „globale Revolution“ ist steckengeblieben – und wartet auf ihre Vollendung. Im Dezember 2001 explodierte der Argentinazo, der landesweite Aufstand gegen die Krise. Monatelang beherrschten Basisdemokratie und Antistaatlichkeit die Szenerie: „Sie sollen alle abhauen!“ In besetzten Betrieben und auf den Straßen, überall fanden Versammlungen statt. Manche compañero/as versuchten bewusst, an den clasismo der 70er Jahre und seinen Organisationsformen anzuknüpfen. Aber auch ohne ihr Zutun setzten sich Elemente von „1968“ durch. Der Aufstand von 2001 hatte nicht die revolutionäre Tragweite der Bewegungen der 70er Jahre und er ist längst wieder von staatlicher Vermittlung eingeholt worden. Aber dieser Aufstand hat im kleinen nationalen Rahmen gezeigt, welche Energien und Dynamiken freigesetzt werden können, wenn Geldwirtschaft und Alltagsroutine zusammenbrechen.
Zur derzeitigen Krise der kapitalistischen Wirtschaft kommt eine verschärfte Krise der Repräsentanz. Das Vertrauen der Menschen in Staaten und Regierungen nähert sich dem Nullpunkt. ManagerInnen gelten als geldgierige IdiotInnen. Die Idee, dass wir unser Leben selbst viel besser organisieren könnten, breitet sich aus. In den umliegenden Ländern finden ArbeiterInnen wieder Gefallen an direkten Aktionen, und selbst im ruhigen Deutschland machen sich besorgte VerwalterInnen Gedanken über mögliche soziale Aufstände. Wenn die Krise nicht mehr nur einzelne Länder betrifft, könnte durch die Gleichzeitigkeit von Krisen und Kämpfen eine ganz andere Dynamik entstehen, als 2001 im isolierten Argentinien.
Der Bruch von 1968 wird heute dort wieder spürbar, wo Menschen in Bewegung kommen. Ob in El Alto in Bolivien oder Oaxaca in Mexiko, in zugespitzten Situationen bringt die Kreativität der Massen neue Formen von Selbstverwaltung hervor, die eine vage Idee davon vermitteln, wie ein Leben aussehen könnte, dass wir mit Milliarden Menschen auf dieser Welt von unten organisieren. Von daher ist es keinesfalls nur von historischem Interesse, wenn wir uns die Erfahrungen im argentinischen „Labor“ von 2001 nochmal genauer ansehen, und ebenso die Fäden von 1968/69 wieder aufnehmen – auch wenn die Subjekte heute anders aussehen als die damaligen Kolonnen von FabrikarbeiterInnen. In diesem Sinne: Die Phantasie an die Macht!