Lateinamerikas Städte sind kulturelle Hybride, in denen präkolumbianische, koloniale, merkantilistische, industrielle und postindustrielle Gesellschaften neben- und miteinander existieren. Stadtbewohner*innen sind in den Arbeitsmarkt auf unterschiedliche Weise integriert, dabei spielen Eigeninitiative und Informalität eine große Rolle.

Der Neoliberalismus wurde erstmals in Chile durchgesetzt, 1973 nach einem US-gestützten Militärputsch und dann 1982 in Mexiko als Teil des finanziellen „Rettungs“pakets. Danach wurde ein Land nach dem anderen den Auflagen der internationalen Finanzinstitutionen unterworfen, die unter anderem die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und der Daseinsvorsorge, die Flexibilisierung des Arbeitsrechts und den Abbau staatlicher Leistungen im Sozial- und Bildungswesen verlangten. Um neue Anleihen zu bekommen oder bestehende Verpflichtungen zu bedienen, ließen sich die Regierungen darauf ein. Diese von außen auferlegte neoliberale Schocktherapie führte dazu, dass auch die Städte eine mehr oder weniger große Umstrukturierung durchliefen. Regulierung und Privatisierung spielten den Türöffner für spekulative Transaktionen, vor allem in den Finanz- und Geldmärkten. Wie im Norden wurde Raum zum begehrten Spekulationsobjekt. Im Wohnungsmarkt wurde vor allem in Projekte für die Mittel- und Oberklasse investiert (abgeschlossene Wohnviertel, zu denen nur die BewohnerInnnen und deren Gäste Zutritt haben, Bürogebäude, Tourismus, Shoppingzentren, private Kultur- und Freizeitanlagen), die Städte wurden weiter kommerzialisiert und in den globalen Schaltkreis, wenn auch auf unterschiedlicher Ebene, integriert. Anders als im Norden wurde der innerstädtische Machtwechsel jedoch durch verschiedene Faktoren gebremst: die Komplexität der Eigentumsverhältnisse, die Tätigkeit vieler Menschen, oft der Mehrheit, im informellen Sektor, Selbsthilfe, politische Mobilisierungen und eine eingeschränkte Marktmacht.

Für Gentrifizierung sind folgende Ausgangsbedingungen entscheidend: ein Gebiet in der Nähe der zentralen Geschäfts- und Dienstleistungsviertel, ein Potenzial gut verdienender Menschen, die höhere Mieten zahlen oder Eigentumswohnungen kaufen können, das Interesse der lokalen Immobilienwirtschaft und die architektonische Substanz, dass die bestehenden Immobilien und Standorte umgewandelt werden können.

Da diese Bedingungen in Lateinamerika nicht vollständig erfüllt sind, ist die Gentrifizierung dort noch offen. Die Innenstädte in Lateinamerika sind noch nicht zu globalisierten Zentren mit den überall gleichen Markenläden und Einrichtungen geworden, stattdessen haben sie ihre alte Funktion als Einkaufs- und Dienstleistungszentren für breite Bevölkerungsgruppen behalten.

Zunächst errichtet für die kolonialen und postkolonialen Eliten, sind die Stadtzentren zu hybriden Gebilden geworden. Die unteren Klassen siedelten sich dort an, als die alten Eliten auszogen, Individuen oder kleine Geschäfte mieteten sich in oft illegal geteilten Gebäuden ein oder besetzten diese und bildeten so eine dichte Umgebung von informellen, legalen, extralegalen oder sogar verbotenen Einkommen generierenden Unternehmen. Diese Gebilde sind sowohl Fluch als auch Segen für die Armen. Sie ermöglichen ihnen das Überleben am Rand des Marktes, allerdings unter prekären Bedingungen. Es waren „eigene Lösungen“, die Menschen mit geringen Einkommen erschwingliche Güter und Dienstleistungen an leicht zugänglichen Orten anboten. Die lokalen Autoritäten schwanken gegenüber der informellen Ökonomie zwischen Erlauben und Feindseligkeit. Das verringert für potenzielle Investoren die Attraktivität und Möglichkeiten der Umnutzung. Denn die erfordert viel Kapital und öffentliche und private Entschlossenheit. Oft wurden/werden weniger die historischen Stadtzentren oder Geschäftsviertel übernommen und transformiert, sondern die Globalisierung schafft sich neue Orte. Oft zersplittert und außerhalb werden elegante Wohnungen und Shoppingcenter errichtet, kleine „Immobilieninseln“ entstehen aber auch mitten in den Stadtvierteln.

Die Existenz von Gentrifiers, also der Leute, die in „hippe“ Stadtviertel drängen, sind eine Folge gut bezahlter Servicejobs in Geschäfts- und Bankenvierteln sowie der Einbettung der Städte in die aktuell dominierenden Akkumulationsmodelle. Obwohl ihre Anzahl in lateinamerikanischen Städten in Brasilien, Mexiko, Argentinien, Chile und Kolumbien wächst, ist die Zahl und der Verdienst in diesen Jobs viel geringer als im Norden und die schicken Viertel liegen oft nicht in den alten Stadtkernen. Nach wie vor zeigt Lateinamerika eine der ungleichsten Einkommensverteilungen der Welt, der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung liegt um die 30 Prozent (Weltbank 2012) und ist ebenso hoch wie derjenige unterhalb der Armutsgrenze. Es fehlt also an potenziellen Gentrifizierern. Außerdem wohnt die reiche Klasse in Lateinamerika lieber außerhalb der Städte in luxuriösen, teuren, exklusiven, eingezäunten und bewachten Wohnvierteln (gated communities). Diejenigen, die von renovierten alten Stadtzentren angezogen werden, sind Studierende, unkonventionelle Haushalte mit moderaten Einkommen, Intellektuelle und Künstler*innen. Während in Europa und Nordamerika diese „Szene“ die Türöffner der Gentrifizierung darstellt, die dafür sorgt, dass Viertel plötzlich als „angesagt“ gelten und dann Hipster und Besserverdienende (und damit Langeweile) anziehen, verläuft dieser Prozess in Lateinamerika nicht so eindeutig.

Mit der Hilfe oder unter dem Einfluss internationaler Geldgeber versucht Lateinamerika seit den 90er-Jahren verstärkt, einen Markt für Gentrifizierung zu schaffen und die Städte in Wohlstand produzierende Maschinen zu verwandeln. In Ermangelung anderer Geldgeber hat die öffentliche Hand fast immer die Kosten dafür übernommen und den Widerstand dagegen bekämpft. Nach dem Beispiel von Barcelona und Bilbao und unterstützt von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB), wurde strategische Stadtplanung auf die Agenda der lateinamerikanischen Städte gesetzt, mit der „Wiederentwicklung“ zentraler Orte, vor allem kultureller und historischer Zentren, Vertikalisierung und „Neubevölkerung“.

Um die „Wiederentwicklung“ anzustoßen, organisierte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bereits 1977 eine Konferenz in Quito. Dabei verständigen sich die Länder auf eine Agenda, in der die Umwandlung von historischen Stadtzentren in Kulturtourismuszentren angestrebt wird. Die Internationale Entwicklungsbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Weltbank drängten die Regierungen, in städtische Erneuerung und Renovierung zu investieren. Zusammen mit der Finanz- und Immobilienindustrie schnürten sie Pakete für eine Stadt nach der anderen. Die Finanzierungsangebote fokussierten sich vor allem auf Investitionen in heruntergekommene, oft historische Stadtgebiete, um daraus Kulturtourismuszentren zu machen, unter anderem in Mexiko-Stadt, Puebla, Salvador de Bahia, São Paulo, Buenos Aires, Santiago de Chile, Guayaquil, Lima, Bogotá, Cartagena. Aber trotz aller Anstrengungen erreichten sie nicht den angestrebten Bevölkerungsaustausch und die Rückkehr der Eliten in die historischen Zentren; allerdings schufen sie einen kommerziellen Kulturtourismus.

Mit einer nostalgischen Rhetorik wird die Vergangenheit beschworen, die es zu „retten“ gilt, indem die alten Zentren renoviert und die dort informell arbeitenden Bewohner*innen vertrieben werden. In Puebla wurde so angeblich eine „verlorene städtische Landschaft“ zurückgewonnen, in Quito sei das alte Zentrum „wiedergeboren“ worden und in Perus Hauptstadt hieß es, das „koloniale Lima leuchte wieder“.

Diese symbolische Konstruktion ist ein wichtiger Teil der Gentrifizierung, sie verleiht den Orten Exklusivität, sie „schafft Plätze“, beschreibt Neuentwicklung als einen Prozess der Wiederaneignung eines Viertels durch die „richtigen“ Kräfte. Aber sie fordern auch gegenhegemoniale Antworten vonseiten der bedrohen Bewohner*innen heraus. Gentrifizierung ist ebenso ein Kampf um Plätze wie auch um Diskurse. Die Bewohner*innen nennen die angebliche Rückgewinnung gewaltsame Vertreibung, Kolonisierung, Klassenmacht, Revanchismus. Ein Straßenhändler in Mexiko trug bei einer Demonstration ein Schild mit dem Aufdruck: „Das Zentrum ist kein Zentrum ohne Straßenhändler.“ In Lima lautete das Motto der organisierten Bewohner*innen „Städtische Sanierung ohne Vertreibung“ oder „Wir sind Teil des historischen Erbes!“ In Kolumbien gaben Gentrifizierungsgegner*innen dem Büro für städtische Entwicklung den Namen „Büro für städtische Vertreibung“.

Der langanhaltende Widerstand der Straßenhändler*innen gegen die Gentrifizierung des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt wurde mehrfach wissenschaftlich untersucht. Sie gründeten eigene Organisationen, verbündeten sich mit politischen Parteien, Nichtregierungsorganisationen und ebenfalls von Vertreibung bedrohten kleinen Einzelhändler*innen. Mit deren Unterstützung wurden „gerettete“ Orte erneut besetzt. Trotz der drastischen Verlautbarungen und Aktionen der Städte hat der Widerstand die Renovierungen und Übernahme deutlich verlangsamt und zugleich den Anspruch der Stadtoberen auf ein kulturelles Erbe infrage gestellt, das ohne die aktuellen Bewohner*innen vielleicht gar nicht mehr existieren würde. So lautete ein Plakat bei einer der Protestaktionen: „Straßenverkauf gab es schon vor der Ankunft der Spanier. Wir sind Teil der Geschichte dieses Gebiets. Wenn ihr uns verdrängt, löscht ihr Geschichte aus.“

Der Widerstand ist auch in den gewachsenen Strukturen der Innenstädte begründet. Die Rhetorik der Renovierung, die verspricht, Arbeitsplätze zu schaffen und Entwicklung zu fördern, steht im Kontrast zu dem Ergebnis, nämlich Arbeitsplätze, Wohnmöglichkeiten und Gelegenheitsjobs für die unteren Schichten zu vernichten. Straßenverkäufer*innen in feste mercados zu verlegen funktioniert nicht, weil es die Vorteile des Straßenverkaufs (Sichtbarkeit, reger Publikumsverkehr, keine oder geringe Standmieten und Abgaben, flexible und ausgedehnte Arbeitszeiten, geringe Regulierungen) nicht bietet und deshalb für Straßenhändler*innen unattraktiv ist. Deshalb hat die Umsetzung zu massiven Polizeieinsätzen geführt, einmal um sie durchzusetzen, aber auch um sie aufrechtzuerhalten.

Die Renovierung hat nicht dazu geführt, höhere Klassen anzusiedeln und höherwertige Jobs zu schaffen. In Quito wurde versucht, Hausbesitzer*innen mit großzügigen Fördergeldern dazu zu bringen, die Häuser zu renovieren und dann zu vermieten, es gab auch Hilfsprogramme für Investoren, die alte Gebäude kaufen, renovieren und verkaufen sollten. Doch der Erfolg war gering, es gelang den Hauseigentümer*innen nicht, zahlungskräftige Mieter*innen zu finden, und die derzeitigen Bewohner*innen haben nicht die Mittel, um Eigentum zu kaufen.

Anders als im Norden führte der massive Widerstand aus den gewachsenen Wohn- und Arbeitsstrukturen dazu, dass Gentrifizierung komplexer und schwieriger wurde und die angestrebten Ziele selten erreichte.

Als Beispiel für gescheiterte oder stecken gebliebene Gentrifizierung sollen hier Mexiko-Stadt, São Paulo und Buenos Aires beschrieben werden. Alle diese Städte haben eine bedeutende koloniale und postkoloniale Geschichte und sind wirtschaftliche und finanzielle Motoren für ihre Länder. Alle haben beeindruckende Innenstädte, wo sich die Eliten sowie repräsentative Institutionen und Organisationen niederließen. Obwohl die begüterteren Bewohner*innen, wichtige Unternehmen und Institutionen nach und nach aus den Zentren wegzogen, gingen die Innenstädte nicht unter, sondern wurden von den unteren Klassen belegt, die ihnen ein zweites Leben gaben, indem sie das Herz der Metropolen zum Zentrum der informellen Ökonomie machten. Alle diese Städte unternahmen in den letzten Jahrzehnten große Anstrengungen, die historischen Innenstädte zu „erneuern“, sie für den Kulturtourismus zu renovieren und die Bevölkerung auszutauschen. Die Städte erklärten architektonisch bedeutende Gebäude, Denkmäler und Plätze für gefährdet, erwarben diese und richteten sie als Museen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Hotels oder andere Touristendestinationen neu her. Wie von den Geldgebern in den internationalen Finanzinstitutionen gefordert, gehörte die Vertreibung der aktuellen Bewohner*innen, ihrer Aktivitäten und Geschäfte zum Konzept. Dabei übernahmen die Städte den Löwenanteil der Kosten, Risiken und Verantwortung für die Infrastruktur, die Ankäufe, die Sanierung der nationalen Monumente, die Vertreibungen und die Polizeieinsätze, in der Erwartung, dass dieser Einsatz und die finanziellen Anreize den privaten Sektor dazu verleiten würde, nachzuziehen und der Prozess dadurch zum Selbstläufer werde.

In Mexiko-Stadt wurde die größte Umstrukturierung in Angriff genommen, was die Zahl der Gebäude angeht (9000, von denen 1500 wegen ihres architektonischen und historischen Wertes bevorzugt wurden). Obwohl das Programm als erfolgreich evaluiert wurde und als die bisher größte Altstadterneuerung in der Region gelten kann, wurde nur ein kleiner Teil der 668 Blöcke tatsächlich „gerettet“. Etwa 10 000 von ursprünglich anvisierten 30  000 Straßenhändler*innen wurden vertrieben, viele kehrten aber zurück, die Mehrheit war ohnehin geblieben, andere kamen sogar neu ins Zentrum. Die Unterstützung der Straßenhändler*innen durch politische Parteien, Gewerkschaften und NRO, Kundgebungen, Besetzungen, neue Verkaufsstrategien (versteckter Straßenverkauf) und offene Straßenschlachten mit der Polizei machten die Vertreibungen schwierig und schreckten potenzielle private Investoren ab.

Die renovierten Gebäude wurden von kirchlichen, Bildungs- und Kultureinrichtungen übernommen oder zu Museen, Hotels, Cafés, Restaurants etc. umgebaut. Der Multimilliardär Carlos Slim hat fast 100 Gebäude erworben und sie an Künstler*innen, Politiker*innen und Studierende vermietet oder als Callcenter für seine TELMEX-Firma benutzt. Trotzdem hat sich die Zusammensetzung der Bewohner*innen des Zentrums nicht sehr verändert. Viele Gebäude stehen leer oder sind mit kleinen Geschäften und verwahrlosten kleinen Mietwohnungen völlig überbelegt. Die neuen Bildungs- und Kultureinrichtungen haben einen studentischen Zuzug bewegt, aber finanziell potente Gentrifier sind nicht eingezogen. Als traditioneller Sitz der Regierung, von Kirchen, Museen und wichtigen Institutionen war das Zentrum schon vorher ein obligatorischer Aufenthaltsort für Politiker*innen, Tourist*innen und Bürger*innen. Ein großer Teil der traditionellen Wirtschaft und Bewohner*innen lebt dort weiterhin und selbst die Programmverantwortlichen haben eingesehen, dass nicht alle Straßenhändler*innen vertrieben werden können.

Brasilien lancierte in den 80er-Jahren ein umfangreiches Kulturerbe-Renovierungsprogramm. Vor allem Städte im Nordosten wie Salvador de Bahia, Recife und São Luz wurden mit großzügigen Finanzierungsmaßnahmen bei der Erneuerung historischer Stätten unterstützt, um den Tourismus zu fördern.

Pionier der Kulturerbe-Renovierung war aber der Stadtteil Luz in São Paulo. Er grenzt im Norden an das alte Stadtzentrum an und war bis Anfang des 20. Jahrhunderts Sitz der städtischen Elite. Dann wurde das Barrio Eisenbahnknotenpunkt. In der Folge siedelte sich dort Industrie an, Immigrant*innen kamen auf der Suche nach Jobs und die Eliten verließen das Viertel. Als die Fabriken wegzogen, entstanden Mietskasernen, andere Gebäude standen leer und wurden besetzt. Straßenhändler*innen, kleine Geschäfte, Prostituierte und Bettler*innen bevölkerten die Hauptstraßen, der Drogenhandel machte angrenzende Gebiete zu Cracolândia (Crack-Land). In den 80ern und 90ern steckte die Stadt mit Unterstützung der nationalen Regierung Millionen in dieses Gebiet, zur Restaurierung historischer Gebäude, die anschließend zu Kultureinrichtungen wurden, für die Erneuerung des historischen Parks Jardim da Luz, zur Fassadenrenovierung, Verbesserung der Infrastruktur und für eine neue Beleuchtung. Zahlreiche Mietskasernen und besetzte Gebäude, vor allem in und um Cracolândia, wurden abgerissen. Das Ziel war, Luz in ein Tourismus-, Freizeit- und Kulturzentrum zu verwandeln. Durch starke Polizeieinsätze, Videoüberwachung, Zwangsräumungen, eine engmaschige Überwachung kleiner Läden und der Aktivitäten im Viertel und massive Vertreibungen wurde eine vollständige Übernahme des Viertels angestrebt.

Aber nach der Renovierung der wichtigsten Gebäude stagnierte die Entwicklung. Die gewalttätigen Vertreibungen riefen Menschenrechtsaktivist*innen und NRO auf den Plan, die nicht nur mit konstitutionellen Rechten der Bewohner*innen argumentierten, sondern auch die Rhetorik der Stadtviertelerneuerer benutzen. Diese hatten nämlich mit Pluralität und sozialer Inklusion für das Projekt geworben. Nun wurde ein Unterbringungsplan für alle vertriebenen Bewohner*innen gefordert.

Trotz der umfangreichen öffentlichen Investitionen hielt sich der private Sektor zurück, lediglich einige Geschäfte und Kaufhäuser siedelten sich aufgrund finanzieller Anreize an. Es stellte sich heraus, dass ein so dicht bevölkertes und in vielfältige wirtschaftliche Aktivitäten verästeltes Gebiet nicht so einfach übernommen werden konnte. Geräumte Flächen blieben leer, die wenigen Kaufhäuser verließen das Gebiet bald wieder, die Zusammensetzung der Bewohner*innen hat sich nicht sehr verändert, sie hängen fest an dem Ort, an dem sie ihr Überleben eingerichtet haben. Daraufhin fuhr die Stadt das Programm zurück auf Polizeiüberwachung und Erhaltung der „geretteten“ Gebäude und den Abriss weiterer Mietskasernen und besetzter Gebäude. Heute besuchen Tourist*innen die Kultureinrichtungen und verlassen danach schnell das Viertel.

Buenos Aires setzte im globalen Wettbewerb auf Kultur. Es erklärte sich selbst zur Kulturhauptstadt Lateinamerikas. Im Jahr 1989 begann die Stadt, einige historische Viertel südlich der Innenstadt als Kulturerbe („Essenz von Buenos Aires“) zu vermarkten und instand zu setzen. San Telmo, wo die Stadt gegründet wurde und die nationale und internationale Elite bis 1900 lebte, Barracas, eine frühere Industrieregion, wo ursprünglich auch viele Industrielle wohnten, und La Boca, das frühere Hafen- und Einwandererviertel. Wie üblich begann der Prozess mit der Restaurierung historisch wertvoller Gebäude und Kreditlinien für Privatleute zum Erwerb und die Renovierung der Immobilien. In San Telmo wurde mit einer großangelegten Fassaden- und Straßenerneuerung ein nostalgisches (imaginäres) Bild des alten Buenos Aires geschaffen. In Barracas und La Boca wurde am Ufer des Riachuelo-Flusses eine Mauer errichtet. Einerseits soll sie vor Überschwemmungen schützen, zum anderen fördert die damit entstandene neue Flusspromenade die Umwandlung alter Industrieräume und Warenlager in Lofts und kommerzielle Anlagen. San Telmo wurde als Antiquitätenhauptstadt vermarktet und La Boca mit Caminito, einem touristischen „Museumssträßchen“ mit Tangovorführungen, Souvenirläden und Restaurants, als das Gesicht des Immigrantenviertels von Buenos Aires. An den Wochenenden und in den Ferien bevölkern Touristenmassen und eine nicht sehr zahlungskräftige Bohème diese Straßen. Man besucht Museen, Theater, Kunst- und Antiquitätenmessen, geht in die Tangobars, trinkt, isst und kauft Souvenirs.

Diese „Erneuerung“ hat frühere Mieter*innen und Straßenhändler*innen vertrieben, das Hauptaugenmerk war aber kommerziell und institutionell. Viele der neuen Geschäfte bezogen leerstehende Gebäude oder wurden auf freien Flächen errichtet. Nach wie vor sinkt die Einwohner*innenzahl in diesen Stadtteilen und es gibt keine Anzeichen für den Einzug von Gentrifizierern. Es gab einen gewissen Zuzug durch die Bohème, aber sie war nicht, wie im Norden, der Anfang der Gentrifizierung.

Immobilienspekulation setzte ein, die Mieten stiegen. Anstatt Hausbesetzer*innen Eigentumstitel anzubieten, wie von vielen vorgeschlagen wurde, hat die Stadt auf Vertreibung gesetzt und die Gebäude dann Entwicklungsgesellschaften zur Verfügung gestellt. Wie auch in anderen Fällen führten die gewaltsamen Räumungen zu Protesten und Solidarisierungsaktionen. Während die Stadt Straßenhändler*innen und Wiederverkäufer*innen an Orte vertreibt, wo sie für Verkehrsbehinderungen und überfüllte Plätze sorgen, sperrt sie in La Boca ganze Straßenzüge, um Feste, Straßenrestaurants, Tangoshows und Orchesterabende unter freiem Himmel zu veranstalten. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Besetzung des öffentlichen Raums, sondern um den Ausschluss der Menschen mit niedrigen Einkommen.

Währenddessen ziehen die potenziellen Gentrifiers in die Viertel der mittleren und oberen Klasse im Norden der Stadt oder näher an die Innenstadt, in Gated Communities in der Peripherie oder in die neu entwickelten Hafenviertel wie den früheren Haupthafen der Stadt, Puerto Madero. Die öffentliche Hand hat bei den Impulsen zur Gentrifizierung nicht nur die Führung übernommen, sondern vor allem die Kosten und Risiken.

Sowohl in Mexiko-Stadt als auch in São Paulo und Buenos Aires wurden mit hohen Summen aus öffentlicher Hand historisch bedeutsame Gebäude restauriert und der Weg für Gentrifizierung frei gemacht. Aber die Änderungen im Viertel sind überwiegend kommerzieller Natur, finanzkräftige Schichten siedeln sich dort kaum an: Die Gentrifizierung blieb unvollendet. In allen Fällen koexistieren der informelle Arbeitsmarkt und die armen Bewohner*innen mit den neuen Aktivitäten in einer angespannten Situation unter starkem Polizeieinsatz.

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