Mit Tränen in den Augen verläßt Ronald Reagan am 20. Januar 1989 das Weiße Haus. Acht Jahre lang hat er nicht nur in den USA das Schicksal vieler Leute umgelenkt, sondern auch außerhalb der Staatsgrenzen die Geschicke ganzer Länder, vor allem in Zentralamerika, durch seine Politik bestimmt. Doch sein größter Wunsch bleibt unerfüllt. Trotz aller offenen und geheimen Winkelzüge gelang es ihm nicht, die Revolutionsregierung der Sandinisten in Nicaragua zu stürzen.
In der Stunde seines Abgangs wurden in Managua Freudenfeiern veranstaltet. Fast ein Jahrzehnt hatte man nun den Angriffen der von den USA ausgerüsteten Contra widerstanden und sie im Verlauf der letzten zwei Jahre militärisch und politisch ins Abseits manövriert. Und das gegen einen Gegner, der von der größten Militärmacht der Welt beraten, unterstützt, mit modernsten Waffen versorgt und vor den Augen der Weltöffentlichkeit als legitime Oppositionspartei dargestellt wurde.
Der Weg bis hierhin war jedoch mit vielen Opfern gepflastert. Der Schmerz und das Leid einer vom Krieg erschütterten Bevölkerung lassen sich in Ziffern nicht ausdrücken. Wohl aber Schäden an Einrichtungen, Einbußen in der Wirtschaft oder Verluste im Produktionsbereich. Den Anlaß für eine detaillierte Bezifferung der nicaraguanischen Kriegsfolgeschäden liefert ein Gerichtsverfahren.
Die Anklage
Dazu muß man bis ins Jahr 1984 zurückblättern. Damals waren in geheimer Mission von der CIA, dem nordamerikanischen Geheimdienst, die wichtigsten Häfen Nicaraguas vermint worden und damit der seit dem ersten Tag des Amtsantritts von Ronald Reagan gestartete Krieg der USA gegen Nicaragua entscheidend verschärft worden. Die nicaraguanische Regierung zog vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag – und bekam in einer ersten Stellungnahme am 10. Mai 1984 Recht. Die USA wurden verurteilt, die gegen die Souveränität und Unabhängigkeit Nicaraguas gerichteten Aktionen, wie die Verminung der Häfen und die Unterstützung der Contra, unverzüglich einzustellen. Aber nichts geschah, die Kämpfe im Land und außerhalb gingen weiter, die USA nahmen sich das Recht heraus, die Zuständigkeit des Haager Gerichtshofes einfach nicht anzuerkennen und den Urteilsspruch zu ignorieren.
In der Folgezeit wurden die Anklagepunkte erweitert und eine umfassende Untersuchung eingeleitet. Die nicaraguanische Regierung berief sich dabei u.a. auf die Charta der Vereinten Nationen, in der die Unterzeichnerstaaten garantieren, in ihren internationalen Beziehungen von der Androhung beziehungsweise Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates abzusehen. Ferner gelte das Prinzip der Nichteinmischung, das das Recht jedes souveränen Staates umfaßt, seine Angelegenheiten ohne Einmischung von außen zu regeln. Dabei schließt das Konzept der Souveränität im internationalen Gewohnheitsrecht die Binnen- und Küstengewässer eines Staates sowie den Luftraum über dessen Hoheitsgebiet ein. Unter Verletzung dieser Rechtsnormen und freiwilligen Verpflichtungen hätten die Vereinigten Staaten Bürger Nicaraguas getötet, verwundet und verschleppt, was eine Verletzung der internationalen Menschenrechte darstelle.
Umfangreiches Beweismaterial wurde eingebracht, um die Anschuldigungen detailliert zu belegen. Das ging beispielsweise von individuellen Zeuegenaussagen zu einem einzelnen Contra.Überfall bis zur Aufdeckung der geheimen Verbindungen zwischen der Contra und dem CIA bzw. der US-Armee durch Enttarnung von versteckten Landeplätzen, Trainingslagern u.ä. im Grenzgebiet zu Honduras.
Das Urteil
Durch den Druck der USA verzögerte sich das Verfahren um einige Monate, doch gelang es nicht, den unabhängigen Schiedsspruch der 15 internationalen Richter ganz zu unterbinden. Zwei Tage, nachdem der US-Kongreß einem von Reagan beantragten sogenannten Hilfspaket für die Contra in Höhe von 100. Mio. Dollar zugestimmt hatte, am 27. Juni 1986, verkündete der Haager Gerichtshof das Urteil: Die USA werden zur Einstellung der Aggression und zum finanziellen Ausgleich für die verursachten Schäden verurteilt. Ein gerechtes und mutiges Urteil, das in Nicaragua mit Jubel zur Kenntnis genommen wurde.
Im einzelnen befand das Gericht, daß das Verminen nicaraguanischer Häfen zu Beginn des Jahres 1984 sowie bestimmte Angriffe auf nicaraguanische Häfen, Ölförderanlagen und Marinestützpunkte Verstöße gegen das Prinzip der Nichtanwendung von Gewalt darstelle.
Und gegen dasselbe Prinzip verstoße auch die Bewaffnung und Ausbildung der Contra. Dagegen teile das Gericht nicht die Meinung, daß die Manöver der USA in der Nähe der nicaraguanischen Grenze oder die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Contra als Gewaltanwendung betrachtet werden können.
Im Punkt Nichteinmischung hält das Gericht es dagegen für eindeutig bewiesen, daß die Vereinigten Staaten mit ihrer Hilfe für die Contra beabsichtigten, durch Anwendung von Gewalt in Nicaragua auf Dinge Einfluß zu nehmen, die jeder Staat nach internationalem Recht frei entscheiden kann, und daß es Ziel der Contra war, die (damalige) Regierung Nicaraguas zu stürzen. Insofern komme es einer unzulässigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten gleich, wenn ein Staat zum Zwecke der Nötigung eines anderen Staates bewaffnete Banden in Form von finanziellen Mitteln, Ausbildung, Bewaffnung sowie geheimdienstlich und logistisch unterstützt. Erlaubt sei nur „humanitäre Hilfe“ im Sinne der vom Roten Kreuz festgelegten Ziele. (Unter Mißachtung dieses Grundsatzes hatte die Reagan-Administration ihre Unterstützung gerne als „humanitäre Hilfe“ getarnt.)
Zum Anklagepunkt Verletzung der internationalen Menschenrechte urteilte das Gericht, daß seiner Ansicht nach die Vereinigten Staaten gemäß den Grundprinzipien der Menschenrechte verpflichtet waren, Personen oder Gruppen, die am Konflikt in Nicaragua beteiligt waren, nicht zu Verstößen gegen Artikel 3 der vier Genfer Konventionen vom 12. August 1949 zu ermutigen. Das Handbuch „Psychologische Operationen im Guerillakampf“, für dessen Veröffentlichung und Verbreitung die Vereinigten Staaten verantwortlich sind, empfehle bestimmte Taten, die Verstöße gegen diesen Artikel darstellen.
Zusammen mit der Anklageschrift hatte Nicaragua seinen Anspruch auf Schadensersatz in noch festzusetzender Höhe geltend gemacht. Als vorläufige Entschädigung sollten 370,2 Millionen US-Dollar gezahlt werden. Das Gericht erklärte sich für eine Entscheidung zuständig und erkannte auch die spätere Festsetzung eines Betrages für zulässig an, plädierte aber angesichts der Abwesenheit einer Partei (der USA) für eine Verhandlungslösung.
In diesem Sinne erfolgte auch die abschließende Belehrung, den Konflikt friedlich beizulegen, wie dies der Artikel 33 der Charta der Vereinten Nationen vorsehe.
Der Verzicht
Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei, heißt es. Aber noch etwas anderes scheint es zu sein, wenn ein Land der Dritten Welt tatsächlich auch mal Recht bekommen hat – dann stellt sich das Problem, einen solchen Rechtsspruch wirklich einzufordern. Welche Mittel stehen da zur Verfügung, wenn der verurteilte Staat sich über Vereinbarungen und Verträge innerhalb der internationalen Völkergemeinde hinwegsetzt? Wenn es sich die USA einfach leisten, Urteile auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, an deren Zustandekommen sie selbst maßgeblich beteiligt waren und deren Einhaltung sie allenthalben vollmundig fordern, nicht zu akzeptieren und sich frech auf das Recht des Stärkeren berufen?
In der Tat blieb Nicaragua nach dem Haager Gerichtsspruch nicht viel anderes übrig, als zur Tagesordnung überzugehen, wenn auch mit dem Bewußtsein, dem Koloß im Norden gezeigt zu haben, daß es nicht gewillt ist, freiwillig die Waffen zu strecken und die Macht im Lande an die von den USA bevorzugten Kreise abzugeben. Der Erfolg in Den Haag blieb ein „nationales Besitztum“, wenigstens solange die Sandinisten in Managua regierten.
Daß sich dies mit dem Wahlsieg der von den USA massiv unterstützten Rechtskoalition der U.N.O. anders darstellen würde, lag auf der Hand. In minutiöser Auflistung hatten die Sandinisten 1987 eine Schadensersatzforderung von rund 17. Mrd. US-Dollar präsentiert und zusammen mit anderen Punkten noch kurz vor der Machtübernahme im März 1990 in ein Gesetzespaket zum Schutz der Rechte Nicaraguas, dem sogenannten Gesetz 92, eingebunden. Ein Klageverzicht sollte nur bei Bezahlung einer Mindestsumme von 12 Mrd. US-Dollar erlaubt sein.
Doch der tiefgreifende Regierungswechsel offenbarte bald die Abhängigkeit vom jetzt wieder großen Bruder im Norden. Präsidentin Chamorro wartete vergeblich auf den versprochenen Dollarregen aus den USA. In langen Verhandlungen mit der US-Regierung und internationalen Geldgebern wurde versucht, Finanzspritzen für die marode nicaraguanische Wirtschaft zu erhalten. Und in diesem Zusammenhang erinnerten sich die USA wieder an die noch schwebende Forderung Nicaraguas auf Ausgleich der von den USA verursachten Schäden während des Bürgerkriegs. Als Gegenleistung für den Verzicht wären die Vereinigten Staaten bereit, die damalige Auslandsverschuldung Nicaraguas in Höhe von 11 Mrd. US-Dollar zu übernehmen, d.h. zu Tiefstpreisen auf dem Schuldenmarkt zu erstehen. Wie groß die Spanne zwischen dem tatsächlichen Kaufpreis der Schuldscheine und dem Nominalwert bzw. gar der Schadensersatzforderungen Nicaraguas gegenüber den USA war, muß auch der Regierung Chamorro klar gewesen sein. Doch wie immer saßen die anderen am längeren Hebel. Im September 1991 wurde das Gesetz 92 von der U.N.O.-Mehrheit im Parlament mit dem Argument, jetzt „veraltete Nationalismen“ vergessen zu müssen, aufgehoben. Für die FSLN nannte ihr vorheriger Außenminister Miguel d‘Escoto dies „die beschämendste und kriecherischste Handlung in unserer Geschichte“.