Im Laufe der Jahre versuchte Francia Márquez die Machtverhältnisse in einem Land zu verändern, das auf eine Geschichte von Gewalt, Ausgrenzung und Rassismus zurückblickt. Heute ist die Afrokolumbianerin Teil der Regierung und neben ihrem Amt als Vizepräsidentin auch Ministerin für Gleichberechtigung und Gleichstellung. Obwohl sie seit zwei Jahren der Exekutive angehört, hat sich ihre politische Laufbahn in einem ganz anderen Kontext entwickelt.
Francia Márquez wurde in einer Kleinstadt namens Suárez im Departement Cauca geboren. Die Gemeinde befindet sich im Westen Kolumbiens, in der Nähe der Pazifikküste. Hier wurden einige von Kolumbiens größten Siedlungen afrikanischer Nachfahren gegründet. Bis heute gibt es nur wenige Perspektiven in dieser von Armut und Gewalt geprägten Region.
Die schweren Bedingungen veranlassten Francia schon früh, sich für die Rechte ihrer Gemeinschaft einzusetzen. Sie fing schon als Jugendliche an zu arbeiten, im handwerklichen Bergbau, wo auch Familienmitglieder und andere Bewohner*innen der Gemeinde tätig waren. Bereits mit 15 Jahren war Francia Aktivistin und wehrte sich gegen den Bau eines Staudamms am Fluss Ovejas, der negative Auswirkungen auf die örtlichen Gemeinden zu haben drohte. Ihr Einsatz für die Ihren machte sie auch zu einem Hindernis für multinationale Bergbaukonzerne, die um jeden Preis versuchten, die Ressourcen der Region auszubeuten. So das Unternehmen AngloGold Ashanti, das plante, die afroindigenen Gemeinschaften aus der Region zu vertreiben. Diese Auseinandersetzungen führten dazu, dass Francia ins Fadenkreuz der in diesem Teil des Landes operierenden paramilitärischen Gruppen geriet.
Von der Aktivistin zur Vizepräsidentin
Im Jahr 2014 führte Francia den „Turbanmarsch“ an. Er dauerte zehn Tage und ging von Suárez bis nach Bogotá. Die Demonstration bestand ausschließlich aus afrokolumbianischen Frauen. Sie forderten die Einhaltung eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, das die Territorien der afrokolumbianischen Gemeinschaften vor Ausbeutung durch Bergbau schützen sollte. Außerdem verlangten sie, dass Landtitel an Frauen vergeben werden sollten. Im selben Jahr war Francia Mitglied einer Bürger*innenkommission, die nach Havanna reiste, um an den Friedensgesprächen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung des ehemaligen Präsidenten Juan Manuel Santos teilzunehmen. In ihrer Rede am Verhandlungstisch ging es um die Opferrolle, die den Gemeinschaften afrikanischer Herkunft stets aufgezwungen wurde, in einem Krieg, der das Land seit mehr als einem halben Jahrhundert ausbluten ließ.
Als Aktivistin ging es Francia aber nicht nur um die Anerkennung und Stärkung der afrokolumbianischen Gemeinschaften. Sie forderte außerdem von der Regierung, die zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen des Landes zu schützen, denn die Eskalation der Gewalt gegen Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien nahm zu.
Im Jahr 2018 wurde ihre Arbeit mit der Verleihung des Goldman-Preises, dem „Nobelpreis“ für Umweltaktivist*innen, international gewürdigt. Daraufhin begann Francia, ihren politischen Horizont in Kolumbien zu erweitern. Im selben Jahr näherte sie sich an die Partei an, die einige Jahre später das Land regieren sollte. Sie erhielt die Unterstützung von Colombia Humana, um für das Abgeordnetenhaus des kolumbianischen Kongresses zu kandidieren. Obwohl sie 2018 nicht gewählt wurde, war dies der Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit der progressiven Bewegung, die ihren Höhepunkt im Jahr 2022 erreichte, als Francia Márquez zur Vizepräsidentin Kolumbiens gewählt wurde. Damit wurde sie die erste afrokolumbianische Frau, die ein solches Amt im Land bekleidet.
Die Macht von innen verändern
Die neue Rolle als Vizepräsidentin bedeutete einen tiefen Einschnitt in ihren Werdegang. So brachte der Wechsel vom Aktivismus zur öffentlichen Figur der Regierungspartei Herausforderungen mit sich und erforderte Anpassungen. Macht verändert zuweilen, wie die Machthaber*innen auf die Bevölkerung blicken und umgekehrt. Francia Márquez war keine Ausnahme. Aus dem linken Spektrum wurde sie scharf kritisiert, sie habe sich von den Werten abgewandt, die sie als Aktivistin verteidigt hatte. Die Kritiker*innen werfen ihr vor, dass die Regierung sich mitunter auf Kompromisse mit politischen Gegner*innen einlässt und sich diesen sogar annähere, um regierungsfähig zu bleiben.
Márquez ist jedoch in den sozialen Fragen, für die sie sich immer eingesetzt hat, standhaft geblieben. Ihr Kampf für die am stärksten marginalisierten Gruppen der kolumbianischen Gesellschaft ist ungebrochen. Nicht zufällig wurde unter dieser Regierung ein Ministerium für Gleichstellung und Gleichberechtigung geschaffen, das Márquez leitet. Sie setzt sich für eine Politik ein, die die strukturellen Ursachen von Ungleichheit und Gewalt in Kolumbien adressiert. So trat sie während ihrer bisherigen Amtszeit dafür ein, das Friedensabkommen mit der FARC vollständig umzusetzen, insbesondere im Hinblick auf die Landreform und soziale Gerechtigkeit. Außerdem setzte sie sich für eine stärkere politische Beteiligung afrokolumbianischer Gemeinschaften und Frauen ein, um inklusivere und repräsentativere Entscheidungsprozesse zu fördern.
Márquez bekommt viel Gegenwind von der Opposition. Dass sie kontroverse Themen wie soziale Gerechtigkeit ansprach, stört die traditionellen politischen Sektoren. In ihrer Funktion als Amtsträgerin wurde sie schon mehrfach Ziel von Angriffen, viele davon eindeutig rassistisch und frauenfeindlich motiviert. Sie wurde nicht nur wegen ihrer Positionen, sondern auch wegen ihrer Identität angegriffen. Doch trotz der Herausforderungen, denen sie sich stellen musste, hat Márquez seit ihrem Amtsantritt unbestritten bedeutende Veränderungen im Machtapparat bewirkt. Ihre bloße Präsenz bricht mit der Tradition der überwiegend weißen und männlichen politischen Führungsschicht Kolumbiens, die aus der urbanen Elite stammt. Francias Herkunft aus einfachen Verhältnissen, ihre afrikanischen Wurzeln und ihr Geschlecht stellen Machtstrukturen infrage, die bis vor Kurzem noch unantastbar schienen, und eröffnen eine neue Perspektive darauf, was Führung in Kolumbien bedeuten kann. Ihre aktivistischen Ideale in die politische Realität umzusetzen und in einem Land, das seit jeher zugunsten persönlicher Interessen regiert wird, eine fortschrittliche Agenda voranzutreiben, ist eine der größten Herausforderungen für Márquez. Davon, wie gut ihr das gelingt, wird abhängen, was als Francias Vermächtnis in die Geschichte eingeht.