Im ersten Halbjahr 2014 haben sich die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen unweigerlich in den Alltag der KolumbianerInnen gedrängt.[fn]Zu den Parlamentswahlen siehe Beitrag in ila 374 (April 2014)[/fn] Gar nicht so sehr wegen derjenigen, die sich zur Wahl gestellt hatten, sondern wegen der parallelen Geschichten, die im Zusammenhang mit den Wahlen ans Licht kamen. Man könnte meinen, es hätte sich um einen Wettstreit à la Big Brother gehandelt, oder um eine dieser Veranstaltungen, bei denen ein neuer Sänger oder Sängerin gekürt wird. Oder vielleicht um eine rührselige lateinamerikanische Telenovela oder einen Roman des jüngst verstorbenen kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez, geprägt vom magischen Realismus, mit gelben Blumen und einer Einsamkeit, die länger als hundert Jahre andauert.
Noch besser, vielleicht war es ja eine Mischung aus all dem zusammen, wie bei einem der Eintöpfe, die in Kolumbien sancocho genannt werden und bei denen je nach Landstrich Hühnchen, Schweine- oder Rindfleisch zusammen mit Kartoffeln, Maniok und Kochbananen gegart werden. Mit einem solchen sancocho werden schließlich viele Stimmen gekauft, eine Stimme kann in Kolumbien ungefähr zwei Teller Suppe kosten. Es ist zu bedauern, aber in Kolumbien gibt es keine politische Kultur. Bei der Stimmabgabe wird in letzter Minute das „kleinere Übel“ ausgewählt.
Das „größte Übel“ derzeit ist Senator und war letztendlich der große Gewinner bei den Wahlen in diesem Jahr. Wir sprechen von Álvaro Uribe Vélez, der zweimal Präsident und acht Jahre an der Regierung war, von 2002 bis 2010 (aus den acht Jahren wären fast zwölf geworden, hätte das Verfassungsgericht nicht die Möglichkeit einer erneuten Wiederwahl untersagt). Als Uribe an der Macht war, wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Menschenrechtsverletzungen verübt. Aber die Jahre im Amt waren für den Rechtsaußen nicht genug. Als Senator der neuen Partei Centro Democrático – sie heißt „Demokratisches Zentrum“, ist in Wirklichkeit aber ultrarechts – versucht er nun, die Aufgabe, die er halb unerledigt ließ und ihm zum Teil aus den Händen geglitten ist, zu Ende zu bringen. Letzteres liegt an Juan Manuel Santos, seinem Nachfolger im Präsidentenamt, der die „Mission“ nicht nach der Regieanweisung von Uribe erfüllt und sich augenscheinlich gegen ihn gestellt hat. Folge davon waren Beleidigungen, öffentlich vorgetragene Diffamierungen, haltlose Anschuldigungen bis hin zum Verrat – wie in einem Mafiafilm.
Bei seiner Wahlkampagne 2010 und seiner Rede zum Amtsantritt hatte sich Juan Manuel Santos noch mit Danksagungen und Lobreden auf seinen Vorgänger bezogen, er bezeichnete ihn als „den besten Präsidenten Kolumbiens“. Von ihm erhielt er die Flagge und die Macht, das Land zu verwalten. Im Kabinett von Álvaro Uribe Vélez war Santos Verteidigungsminister gewesen, mit ihm zusammen führte er den Krieg, der ihn an die Regierung brachte. Aber später entwickelte sich eine Feindschaft, die über die Medien ausgetragen wurde. Botschaften wurden hin- und hergeschickt, bis sie die sozialen Netzwerke überfrachteten. Ex-Präsident Uribe wurde zu einem professionellen Twitterer. Er hatte Gelüste, an der Macht zu bleiben, und wollte weiterhin über die „Viehfarm“ bestimmen, die die Paramilitärs in Ordnung gebracht hatten, damit der Patron dort mit seinen 300 Bodyguards und gepanzerten Fahrzeugen herumspazieren konnte (mit der „Viehfarm“ ist eigentlich Kolumbien gemeint. – d. Übers.). Die sozialen Netzwerke wurden seine besten Verbündeten, um gegen seinen Nachfolger „Opposition“ zu machen. Nie zuvor war ein Ex-Präsident so beständig in den Medien präsent wie Álvaro Uribe.
Aus der U-Partei (Partido de la U), der Alianza de Unidad, dem „Einheitsbündnis“, das seine Initialen trug, ging seine jetzige abtrünnige Partei hervor, das Centro Democrático. Fast wäre sie zu Uribe Centro Democrático geworden. Aber da das nicht glückte, wurden seine Konturen ins Logo gesetzt, mit der rechten Hand auf der Brust, eine Brust, die eigentlich vor Hass glüht, und ein Herz, das mit dem Blut Unschuldiger besudelt ist. Eine lange Serie schlimmer Ereignisse begleitet das Leben dieser düsteren Gestalt. Wie bei einem gefährlichen Cocktail waren Bündnisse mit Rauschgifthändlern und Paramilitärs vermischt und Korruption ein Alltagsgeschäft. Beredtes Beispiel für letzteres sind seine zwei Söhne Tomás und Jerónimo. Mit beachtlichem Wirtschaftskapital ausgestattet gehören sie heute zur potenten Gruppe der „neuen Reichen“ in Kolumbien.
Hier kommen wir zu der eigentlichen Debatte, die dieses Wahl-Schaustück umhüllt, nämlich die über die historischen Eliten Kolumbiens. Sie teilen sich auf in diejenigen, die von der Santos-Kaste repräsentiert werden, und in die Gruppe der „neuen Reichen“, von Mafiosi und Paramilitärs, die von Uribe und Company angeführt werden. Konkret geht es dabei auch um die Partei Centro Democrático und deren Präsidentschaftskandidaten Oscar Iván Zuluaga. Dieser ist seit seiner Zeit als Bürgermeister der Stadt Pensilvania im Departement Caldas dem Paramilitarismus verpflichtet. Die kolumbianische Presse berichtete über Gerüchte, dass ein Berater des Präsidentschaftsanwärters ein Büro mit „Don Berna“, dem Kopf des Paramilitarismus, teile. Des Weiteren soll Zuluaga Informatikexperten unter Vertrag genommen haben, um seinen Gegnern im Wahlkampf einen „schmutzigen Krieg“ zu liefern. Er ließ Beteiligte an den Friedensgesprächen in Havanna abhören, was in einem Video, das die Zeitschrift Semana öffentlich machte, belegt wird. Zuluaga sagte zu diesen Vorfällen zunächst, dass er den beteiligten Hacker gar nicht kennen würde, danach, dass dieser nur fünf Minuten in seinem Büro gewesen sei, und nachdem das genannte Video seines Besuchs beim Hacker bekannt geworden war, bezeichnete er dieses als eine Fälschung. Trotz oder dank der Skandale schaffte er es bis zur Stichwahl, bei der am 15. Juni über den wichtigsten politischen Posten in Kolumbien entschieden wurde.
Beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 25. Mai waren Kandidaten und Kandidatinnen mehrerer Parteien aufgestellt. Die Konservative Partei belegte mit ihrer Anwärterin Martha Lucía Ramírez hinter Santos und Zuluaga den dritten Rang. Im Bündnis mit Zuluaga gewannen die Konservativen für die zweite Wahlrunde an Kraft, im Kongress sind beide zusammen die stärkste Kraft. Die Linksparteien Unión Patriótica und Polo Democrático erzielten im Bündnis fast zwei Millionen Stimmen. Sie hatten Clara López (Polo) und Aída Abella (UP) als Gespann für das Amt des Präsidenten respektive Vizepräsidenten aufgestellt. Relativ schnell kündigten sie ihre Unterstützung von Santos bei der Stichwahl an. Die Grüne Partei hatte für die Präsidentschaftswahlen einen ehemaligen Bürgermeister von Bogotá, den polemischen Enrique Peñalosa, ins Rennen geschickt. Sie gaben ihren AnhängerInnen kein Votum für die Stichwahl vor. Alle genannten AnwärterInnen für das Präsidentenamt blieben weit abgeschlagen. Die Kandidaten, die genug Stimmen für die zweite Runde erhielten, waren letztendlich Oscar Iván Zuluaga und Juan Manuel Santos.
Beide sind vormalige Minister der Uribe-Regierung. Öffentlich präsentieren sie sich zwar als politische Gegner, aber im Grunde waren sie nur zwei Gegenkandidaten bei einem lächerlichen Wettstreit, bei dem keine politischen Programme präsentiert, sondern nur andauernd Beleidigungen vorgebracht wurden. Lächerlich ist dieser Wettstreit auch zu nennen, da die Wahlenthaltung bei über 50 Prozent lag, zuzüglich der bewusst nicht ausgefüllten Wahlscheine und der vielen annullierten Stimmen. All das ist ein Indikator für die Bedeutung dieser Wahlen, die immerhin 900 Millionen kolumbianische Pesos, umgerechnet ca. 350 Millionen Euro, gekostet haben. Acht Millionen WählerInnen, das heißt, nur 25 Prozent der 32 Millionen Wahlberechtigten, haben darüber entschieden, wer in den kommenden vier Jahren über die Geschicke von 42 Millionen KolumbianerInnen bestimmen wird.
Die Debatte der letzten Tage vor der Stichwahl am 15. Juni kreiste um den Frieden. Bei einer Wiederwahl von Juan Manuel Santos würden die Gespräche mit der Guerillagruppe FARC weitergeführt werden, ausgehend von den Punkten, über die schon Einigung erzielt wurde, einschließlich dem bezüglich der Opfer. Eine Woche vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen erkannten Santos und die FARC an, dass die Kriegsopfer Rechte haben, und kamen überein, sie in die Friedensgespräche einzubeziehen. Das war der vorletzte Schachzug für die Wiederwahl von Santos. Denn in einem Land mit circa sechs Millionen Binnenflüchtlingen stellen die Opfer einen beachtlichen Anteil potenzieller WählerInnen.
Der andere wichtige Schachzug war die Ankündigung des Friedensprozesses mit der ELN, einer anderen Guerillagruppe, die über 2000 KämpferInnen stellt und über 40 Jahre in den Bergen auf dem Buckel hat. Eine lange Liste von Intellektuellen schloss sich der Kampagne von Santos an. SchriftstellerInnen, JournalistInnen, sogar das „Breite Bündnis für den Frieden“ (Frente Amplio por la Paz), in dem sich über 100 Gemeinden, linke Parteien und soziale AktivistInnen vereint haben, verlautbarte seinen Rückhalt für Santos, mit dem Ziel, die Friedensgespräche zu unterstützen und mit dem dunklen Kapitel des Kriegs in Kolumbien abzuschließen. So wurde der aktuelle Präsident für eine weitere Amtszeit von vier Jahren gewählt. Dafür verpflichtete er sich, den Friedensvertrag mit der FARC zu unterzeichnen. Aber warten wir ab, was wirklich passiert. Zunächst geht die Show weiter und der Krieg fordert immer noch Opfer.