Es ist möglich, ohne den Staat zu leben, und es ist wichtig, mit dem Staat zu leben.“ (S. 123) Auf diese prägnante Formel bringt der argentinische Aktivist Gipi Fernández den Widerspruch zwischen den sozialreformerischen Programmen linker lateinamerikanischer Regierungen und ihrer extraktivistischen Wirtschaftspolitik. Denn aus der Perspektive der sozialen und ökologischen Bewegungen, die sich gegen die kapitalistische Ausbeutung der Ressourcen und für soziale Gerechtigkeit einsetzen, besteht an diesem Widerspruch kein Zweifel. Fernández ist Koordinator der Unión de Trabajadores Desocupados (UTD – Vereinigung erwerbsloser ArbeiterInnen). Das Interview mit ihm gehört zum kürzlich erschienenen und von Julia Roth herausgegebenen Sammelband „Lateinamerikas koloniales Gedächtnis. Vom Ende der Ressourcen, so wie wir sie kennen“. Der Band entstand im Rahmen des gleichnamigen Symposiums, das anlässlich der Bicentenario-Jubiläen vieler lateinamerikanischer Staaten 2010 in Berlin stattfand.
In zweierlei Hinsicht ist diese Veröffentlichung begrüßenswert. Einerseits gibt es zu diesem Komplex kaum deutschsprachige Publikationen. Andererseits haben die AutorInnen trotz der wissenschaftlichen Ausrichtung einen klar erkennbaren emanzipatorischen Anspruch, was bei solchen Publikationen längst nicht mehr üblich ist. Die acht AutorInnen nehmen die fortwährende Ungleichheit zwischen den ehemals kolonisierten lateinamerikanischen Ländern und den Industrieländern des Nordens unter die Lupe. Im Fokus steht die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch multinationale Konzerne sowie der staatliche und gesellschaftliche Widerstand gegen alte und neue Abhängigkeiten, Umweltzerstörung und Ressourcenausverkauf. Die euro- und anglozentristischen Modelle von Entwicklung und Fortschritt werden inzwischen in Lateinamerika von einer Reihe von AkteurInnen angefochten und abgelehnt. Deshalb untersuchen die AutorInnen vor allem alternative Konzepte wie das Buen Vivir, das die Natur als eigenes Rechtssubjekt betrachtet, aber auch andere Zusammenschlüsse von unten und indigene Widerstandsbewegungen, die sich für die Würde von Mensch und Natur einsetzen.
Der schmale Band ist in drei Teile untergliedert. Teil I widmet sich den Konzepten und Utopien der Widerständigen. Im zweiten Teil kommen in Interviews und Erfahrungsberichten die ProtagonistInnen der sozialen Bewegungen selbst zu Wort. Der dritte Teil bietet den theoretischen Background zur (Re-)Produktion der ungleichen Ressourcenausbeutung. Insbesondere das Verhältnis und die Wechselwirkungen zwischen Regierungen und sozialen Bewegungen finden die Aufmerksamkeit der AutorInnen. Bei fast allen Themenbereichen steht die spannende Frage im Vordergrund, worin sie sich fundamental in Forderungen und Umsetzung unterscheiden.
Nach den einleitenden Worten der Herausgeberin macht der 2011 verstorbene Anthropologe Fernando Coronil den Anfang, eine Koryphäe auf dem Gebiet des Postkolonialismus. Coronils Aufsatz „Die fragliche Zukunft“ nimmt die ersten 40 Seiten des Bandes ein. Er untersucht darin, wie sich sowohl staatliche als auch nichtstaatliche linke AkteurInnen die Zukunft Lateinamerikas vorstellen. Dabei geht er davon aus, dass sich der Neoliberalismus, der sich spätestens seit dem Ende der Militärdiktaturen in allen lateinamerikanischen Staaten durchsetzte, gegenwärtig in der öffentlichen Wahrnehmung in einer Krise befindet. Gleichzeitig bieten die sozialistischen Utopien des 20. Jahrhunderts keine befriedigende Antwort mehr auf die Frage, wie eine gerechtere Gesellschaft organisiert werden kann. Was aber heißt das für die linken AkteurInnen und ihre Zukunftsvorstellungen? Coronil stellt fest: Zwar lehnten und lehnen alle linken Regierungen langfristig das kapitalistische Wirtschaftsmodell ab, kurzfristig agieren sie jedoch im Sinne der Kapitalakkumulation und handeln nach den Gesetzen des Marktes, insbesondere was die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Kontinents anbelangt. Die sozialen Bewegungen wiederum – hier nennt er vor allem Zapatistas, MST und Piqueteros – richten ihre Politik stärker an den akuten Problemen aus. Weniger konkret seien hingegen die Utopien, die sie entwerfen. „Ohne sichtliche Erlösung außerhalb oder innerhalb des Kapitalismus sind utopische Träume nicht verschwunden, sondern sie haben vielmehr die Form einer eher vagen Hoffnung auf eine ferne Zukunft angenommen.“ (S. 35)
Umso spannender gestaltet sich der zweite Teil „In Bewegung – Sozialer und künstlerischer Protest“. Hier kommen in Interviews und Erfahrungsberichten die tatsächlichen AkteurInnen zu Wort, allesamt auf argentinischem Territorium aktiv: eine Aktivistin aus einer Nachbarschaftsbewegung, die sich in der Provinz La Rioja gegen den Goldbergbau einsetzt; der oben erwähnte Fernández, der in der Provinz Salta gemeinsam mit anderen soziale und gesundheitliche Infrastruktur organisiert; ein politischer Referent der Mapuche und ein Künstler, der in einem Projekt das Verhältnis der ArgentinierInnen zum monokulturellen Sojaanbau untersucht. An den konkreten Beispielen werden Coronils Thesen also auf die Probe gestellt. Im Plädoyer der Aktivistin Romana heißt es abschließend: „Glauben wir daran, dass die partizipative Demokratie möglich ist! Für sie kämpfen wir, auf sie steuern wir zu.“ (S. 118) Ein solches Zitat lässt sich im Sinne Coronils lesen oder eben nicht. Tatsächlich wirkt es in keinem der Interviews so, als hätten die Bewegungen nur eine schemenhafte Idee, welches Ziel sie verfolgen. Doch anders als die staatssozialistischen Konzepte des vergangenen Jahrhunderts richten sie sich nicht mehr nach dem einen Dogma aus, das unbedingt zum Sozialismus führt. Stattdessen erproben sie in der Praxis Modelle basisdemokratischer Organisierung und Vernetzung, die gleichzeitig kleine Schritte hin zu einer gerechteren Gesellschaft repräsentieren. „Wir beobachten, dass es im Allgemeinen auf unseren Treffen viele Leute gibt, die Konzepte suchen und versuchen, es mit Worten zu erklären. Es gibt einige Dinge, bei denen das geht, aber andere Dinge in diesen Kämpfen musst du erleben und bevor du sie nicht erlebst, wirst du sie vielleicht auch nicht verstehen“, erzählt Romana (S. 111). Solche Konzepte sind nicht neu. In den antiautoritär geprägten Bewegungen wurden Theorie und Praxis schon immer enger zusammen gedacht und die praktischen Kämpfe boten Anlass, theoretische Überlegungen zu überdenken.
Mut macht, dass alle AktivistInnen auf kleinere und größere Erfolge zurückblicken können. So reorganisierte die UTD als Reaktion auf die drastischen Kürzungen von Sozialleistungen in der Kleinstadt General Mosconi das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen auf eigene Faust. Den Kürzungen war die Privatisierung der staatlichen Ölunternehmens YPF vorausgegangen, bei dem fast alle BewohnerInnen angestellt waren. Inzwischen betreibt sie Schulen, eine Volksuniversität, Metallwerkstätten, Kleiderfabriken und alternative Landwirtschaft und setzt sich zudem für den Erhalt der Ressourcen und die Wiederaufforstung ein. Die Nachbarschaftsbewegung in Chilecito wiederum konnte mit Demonstrationen und Straßenblockaden verhindern, dass das transnationale Unternehmen Barrick Gold in der Gebirgskette der Sierra Famatina Gold- und Silbererze abbaut.
In einer Frage sind sich alle AktivistInnen einig: Die peronistische Kirchner-Regierung ist keine Hilfe beim Erhalt des Ökosystems und der natürlichen Ressourcen als Gemeingüter, und erst recht nicht bei der Durchsetzung indigener Rechte: „Denn es gibt den Diskurs der Leute, die an der Macht sind, und es gibt das, was wir sind und was wir mit der Welt teilen wollen. Bestimmt werden wir für sie immer gefährlicher, allein aufgrund der Tatsache, dass wir leben wollen“, beschreibt der Mapuche-Referent Chacho Liempe diesen Widerspruch und weist darauf hin, dass in Argentinien und Chile das Anti-Terrorismus-Gesetz meist auf die Mapuche angewendet wird (S. 132). Auch Raúl Zibechi und Luis Tapia unterstreichen in ihren Aufsätzen, dass radikale Konzepte, die sich zum Teil dem westlichen Fortschritts- und Entwicklungsgedanken entziehen, mit den staatlichen Programmen meist unvereinbar sind. So zeigt Zibechi die Grenzen des Buen Vivir-Konzepts in Ecuador auf, das zwar in der Verfassung verankert ist, aber eigentlich den Nationalstaat überwinden will, um auf den Weg des Gleichgewichts zum Ursprung zurückzukehren (S. 77). Tapia verdeutlicht, dass die Regierungsprogramme der MAS in Bolivien der Errichtung eines plurinationalen Staats eigentlich entgegen wirken. Denn das exportorientierte Wirtschaftsmodell auf der Grundlage der extraktivistischen Ideologie bleibt weiter bestehen.
Die anderen vier Aufsätze sind für ein nicht-akademisches Publikum wesentlichen schwerer zu lesen, wenn auch nicht weniger interessant. In Teil III wird der „Neo-Extraktivismus“ unter soziologischen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Prämissen untersucht. Alle Aufsätze schlagen einen antikapitalistischen Ton an und unterstreichen, dass auch die linken Regierungen von Venezuela über Brasilien bis Chile nicht in der Lage sind, sich den Sachzwängen des Marktes zu entziehen. Ob sich die sozialen Bewegungen des Kontinents tatsächlich in einer Krise der Utopien befinden, ist umstritten. In jedem Fall setzen sie mehr Hoffnung auf ihre eigene Kraft als auf die ihrer Regierungen. „Denn alles, was man macht, die Gegenwart und mein Gespräch mit Ihnen ist insofern von Bedeutung, als die Welt uns kennen lernen wird“, sagt Chacho Liempe (S. 126). Dieses Anliegen setzt der Band exzellent um.