Die Werke von Anna Seghers

„Der Ausflug der toten Mädchen“ ist ein Delirium: Die erbarmungslose mexikanische Wüstenhitze verschwimmt vor den Augen der Erzählerin mit der sengenden Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Faschismus. Während sie selbst auf ihrem Ausflug in die Sierra fast verdurstet, erstehen vor ihrem inneren Auge die früheren Schulkameradinnen wieder auf – nur um dann eine nach der anderen zugrunde zu gehen: verschüttet, zerbombt, ermordet. Anna Seghers hat die nationalsozialistische Grausamkeit mit einer sezierenden Genauigkeit beschrieben. Und das, obwohl die jüdische Kommunistin bereits ab den frühen 1930er-Jahren im Exil lebte, erst in Frankreich, 1941 bis 1947 in Mexiko.

Seit ich 2016 Praktikantin bei der ila war, habe ich immer wieder den Namen Anna Seghers gehört. Gelesen habe ich sie erst jetzt. Manchmal dauert es einfach, bis der richtige Moment für ein Buch gekommen ist. Letztes Jahr lernte ich auf einer Recherchereise nach Mexiko Claudia Cabrera kennen. Sie hat Teile von Seghers Werk ins mexikanische Spanisch übersetzt und wurde dafür im August mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Man kann von diesem Preis der deutschen Hochkultur halten, was man mag, aber von Claudia halte ich sehr viel. Ich glaube, sie hat eine ähnlich feine Tiefe, wie Seghers sie gehabt haben muss. Von Claudia ließ ich mir kuratieren, in welcher Reihenfolge ich Seghers Hauptwerke lesen sollte. Ihre Antwort kam ohne Zögern: Lies erst „Der Ausflug der toten Mädchen“, dann „Das Siebte Kreuz“, dann „Transit“. Gut, dass ich ihrem Rat gefolgt bin! Die nur 30-seitige Erzählung hat mich in einen Bann gezogen, der mich die beiden längeren Romane durchstehen ließ. Seghers hatte keine Scheu, den Leser*innen die Wahrheit zuzumuten. Und die fühlt sich oft nicht an wie ein Abenteuerroman, sondern wie eine klebrige Masse aus Zeit, die zäher wird, je länger sich das Warten auf das rettende Schiff hinzieht, das die Flüchtenden von Marseille aus in die Neue Welt bringen soll. Das beschreibt Seghers im Exilroman „Transit“. Grausamkeit ist in ihren Texten alltäglich, aber alles andere als banal.

Warum es sich heute lohnt, Seghers zu lesen? Weil ihre Texte Dokumente der Menschlichkeit sind. In Zeiten von immer menschen(rechts-)feindlicheren Asyl- und Migrationsdebatten tut es einer Menge Almans vielleicht gut, sich vorzustellen, wie schnell sie auf der anderen Seite stehen könnten. Nur die, die das müssten, lesen wohl nicht die ila.