Die Worte des kleinen Vorsitzenden

Pepe Mujica ist allen, die sich mit Lateinamerika beschäftigen, ein Begriff. Der Tupamaro-Guerillero, der während der uruguayischen Diktatur 13 Jahre in Einzelhaft saß, war von 2010-2015 Staatspräsident seines Landes, dabei gibt der Eintrag über ihn bei Wikipedia als Beruf immer noch „Blumenzüchter“ an. Es ist klar, dass eine solche Persönlichkeit Menschen beeindruckt, und das hat bei Joachim Schäfer vom Nomen-Verlag in Frankfurt dazu geführt, dass er unbedingt eine deutsche Ausgabe der schon 2015 auf Spanisch erschienenen „Worte des ärmsten Präsidenten der Welt“ realisieren wollte. Sie erschien erstmals 2018, in 2. Auflage 2019. Die historische Anspielung auf die in den siebziger Jahre vielgelesenen „Worte des Vorsitzenden Mao Tse Tung“, meist als „Mao-Bibel“ bezeichnet, ist offensichtlich und gewollt, nicht nur im Titel, sondern auch in der optischen Gestaltung.

Nachdem klargestellt ist, dass Mujica sich selbst nicht als „arm“ betrachtet, weil er glücklich ist und zum Leben genug hat, werden die Zitate sechs inhaltlichen Rubriken zugeordnet: Persönliches, Politik und Wirtschaft, Südamerika und die Welt, Materialismus und Kapitalismus, die eine Welt und eine bessere Zukunft. Eine erneute Zusammenstellung von Zitaten, die der Herausgeber für besonders markant hält, und eine Kurzbiografie runden das Büchlein ab.

Wer ein wenig aufmerksam die Entwicklung Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, wird zwar keine tieferen neuen Erkenntnisse gewinnen, aber es wird doch deutlich, wie Mujica denkt und was ihn umtreibt. Es mag nicht erstaunen, dass der Guerillero über sich selbst sagt, er sei „nicht zum Helden berufen“, aber wer würde vom Marxisten erwarten, dass er sich veranlasst sieht, „für die Familie und gegen die Klassenunterschiede zu kämpfen“? Schließlich wisse er, „dass die Menschheit zu mehr als 90 Prozent ihrer Geschichte in Familien und kleinen geschwisterlichen Sippen gelebt hat“ (S. 26f). In Europa hielt man in diesen politischen Zusammenhängen die Familie immer eher für die Keimzelle des bürgerlichen Staats.

Weniger erstaunlich ist da der Appell an die individuelle Verantwortung, war es doch genau eine solche Haltung, die viele junge Menschen in den 60er-Jahren in die diversen Guerillas geführt hatte. Dieses Gefühl, auch selbst verantwortlich zu sein für das, was in der Welt passiert, hat Mujica sich erhalten: „Ich (mache) mir Sorgen um eine Zukunft, die ich selbst nicht mehr erleben werde, der gegenüber ich mich aber dennoch verantwortlich fühle“ (S. 30). Und: „Heutzutage stehen wir vor einem Dilemma: Jeder einzelne muss stark und selbstbeherrscht auftreten, damit ihn die Kräfte, die unsere Zivilisation geschaffen hat, nicht zugrunde richten“ (S. 41).

Es ist sicher nicht nur dem Format einer Zitatensammlung geschuldet, dass „Pepes“ Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls häufig eine individualistische Schlagseite hat und weniger von systemischen Bedingungen die Rede ist, auch wenn die nicht völlig fehlen. Treu mit Marx begreift der „die materielle Welt“ als „ungeheures und vielfältiges Angebot“ (Marx spricht von einer ungeheuren Warensammlung), „das der Kapitalismus geschaffen“ und das „eine Kultur hervorgebracht“ hat, „die uns alle beeinflusst“. Das „führt dazu, dass die Armen von heute auf Raten lieber ein Auto als ein Haus kaufen oder einen modernen Fernseher, statt das Dach zu reparieren. Das gleiche machen ganze Länder. Statt das wirklich Wichtige zu tun, vergeuden wir unsere wirtschaftlichen Kapazitäten und unsere Anstrengungen an einen grauenhaften Konsum, der unsere Einnahmen übersteigt“ (S. 85). Die meisten Leser*innen werden schon tiefergehende ökonomische Analysen gelesen haben.

Mujica hat trotzdem eine sehr klare Vorstellung von den weltweiten Machtverhältnissen. Auch wenn es ein wenig sonderbar klingen mag, wenn der (Ex-)Präsident einer der ältesten Republiken der Welt (die Republik Uruguay wurde 1825 proklamiert und 1828 international anerkannt), sie als „junges Land“ bezeichnet, so drückt sich darin doch eine Haltung aus, die manche Autor*innen als „Drittweltismus“ bezeichnen. In Mujicas Fall steht dahinter die Überzeugung, dass Armut und schlechtere Lebensbedingungen „nicht nur ein Problem Afrikas oder Südamerikas, sondern der ganzen Menschheit“ sind. „In der globalisierten Welt muss die Menschheit dafür arbeiten, dass jeder in Würde leben kann“ (S. 106). Wenn das hängen bleibt, lohnt es sich, das Büchlein zu lesen.