Die zwei Seiten einer Medaille

Die südamerikanischen Kamele kann man heutzutage in „Nutztiere“ (Lamas und Alpakas) und „freilebende Tiere“ (Vikunjas und Guanakos) untergliedern. Eine Paarung zwischen all diesen Arten ist möglich, ohne dass diese dabei die Fertilität verlieren. Diese Kreuzungen kommen aber nicht auf natürlichem Wege ohne den Eingriff der Menschen zustande. Der Boom der Kamelzucht verlief zeitgleich mit der Entfaltung der Inkakultur. Aus dieser Zeit weiß man, dass die Tiere gezähmt wurden und der Inkastaat selber ihre Zucht übernommen hatte. Dabei wurden die Tiere nach Eigenschaft und Farbe in Gruppen gefasst bzw. selektiert.

Das Lama wird heute am häufigsten zur Kreuzung verwendet, die meistens mit Alpakas und seltener auch mit Vikunjas stattfindet. Der natürliche Lebensraum der Kamele sind die trockenen Gebiete der Hochgebirge. Vor allem das Lama und das Guanako finden sich aber auch in etwas feuchterem Klima und flacheren Gegenden zurecht. So werden sie mittlerweile auch in Departements wie Cochabamba, Chuquisaca und Tarija (im Durchschnitt 2500-3000 Meter über NN) gehalten, also nicht mehr ausschließlich in den für die Lamazucht typischen Hochlanddepartements La Paz, Oruro und Potosí (meist um die 4000 Meter über NN).

Das Besondere an diesen Tieren ist, dass sie sich von schlecht verdaulichen Pflanzen mit nur geringem Nährwert ernähren, von denen andere Wiederkäuer kaum überleben könnten. Ein ausgewachsenes Tier benötigt zwischen 1,5 und zwei Kilogramm Trockenfutter und ein trächtiges Lama braucht zum Ende der Tragzeit und bis zum Beginn der Stillzeit drei Kilo Trockenfutter. Der Kameltierbetreiberverband der Region Cochabamba (Adepco) schätzt den Bestand in Bolivien auf 3,3 Millionen Tiere, mit einer nationalen Durchschnittsproduktion von jährlich 1,5 Mio. Kilogramm Wolle (Lama, Alpaka und Vikunja), 12 800 Tonnen Fleisch (frisch und gedörrt) und 320 000 Stück Fell. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass man nicht weiß, welche Anteile davon innerhalb des Landes gehandelt und wie viele in den Export gehen, da es zu diesem noch jungen Bereich der Produktion und Vermarktung keine Statistiken gibt.

International ist die Nachfrage nach Lamafleisch in den letzten Jahren gestiegen, mit fortschreitender Tendenz in den USA, Europa (Deutschland, Belgien und der Schweiz) und Asien (Japan). Die dortigen Märkte schätzen den hohen Nährgehalt im Vergleich zu anderen Fleischsorten. So liegt der Proteingehalt bei 24,82 Prozent gegenüber 21,01 Prozent bei Rindfleisch, 18,91 Prozent bei Schaffleisch, 19,37 Prozent bei Schweinefleisch, 21,87 Prozent bei Hühnerfleisch und 20,65 Prozent bei Ziegenfleisch. Noch größere Wettbewerbsvorteile weist das Lamafleisch jedoch im Bezug auf den Gehalt von Fett und Cholesterin auf, der mit 3,69 Prozent im Vergleich zu anderen Fleischprodukten sehr niedrig ist. So kann das Lamafleisch durchaus Eingang in eine fett- und cholesterinarme Ernährung finden. Abgesehen davon ist die Herstellung von Natur aus umweltverträglich und fügt sich damit perfekt ein in die Liste der Bio- und vor allem der light-Produkte. Seit 2004 haben die bolivianische Behörde für Nahrungsmittelsicherheit SENASAG und der schweizerische Entwicklungsdienst den amtlichen Export konkretisiert, insbesondere was die Einhaltung der international geforderten Voraussetzungen für den Lebensmittelverkauf anbelangt, wie Gesundheitszeugnisse und die Registrierung und Zertifizierung durch einen eigens für die Herstellung von Kamelfleisch eingerichteten Schlachthof.

Man geht davon aus, dass nur 20 Prozent der gesamten Lamafleischproduktion in Bolivien verbleibt und 80 Prozent ins Ausland gelangt, mehrheitlich auf Schmugglerpfaden nach Peru und von dort nach Europa und Asien. Nachdem das Gebiet, in dem die Lamas in Bolivien gezüchtet werden, für maul- und klauenseuchenfrei erklärt wurde, wird die Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) als weltweit für diese Fragen zuständige Behörde die offizielle Exportgenehmigung erteilen, so dass ein Teil des Fleisches künftig direkt aus Bolivien nach Übersee exportiert wird.

Die Preise für den Export und die am häufigsten verlangten Stücke (Lenden, Mark und ganze Hinterläufe) variieren zwischen acht und elf US-Dollar (sechs bis acht Euro) pro Kilo. Diese Preise verlangen die Zwischenhändler. Die Züchter selbst erhalten bestenfalls zwei Euro pro Kilo Fleisch. Auf lokaler Ebene ist der Preis für Lamafrisch- und -dörrfleisch in den vergangenen Jahren von drei auf 25 Bolivianos, 0,32 Euro auf 2,79 Euro, gestiegen, also um 800 Prozent. Anders als vor 30 Jahren besteht derzeit eine ungewöhnlich große Nachfrage nach Lamafleisch, was so weit reicht, dass das Kilo Filet oder Sonderstücke genauso viel kostet wie Rindfleisch, nämlich 35 Bolivianos (3,70 Euro). Die Nachfrage und der entsprechend hohe Preis haben dazu geführt, dass Lama kaum noch in ländlichen Gebieten verzehrt wird. Einer Veröffentlichung des Zentrums zur Einschätzung der sozialen Entwicklung von Mai 2010 zufolge gelangt das beste Lamafleisch in den Export nach Europa, Nordamerika und Asien, mit einem geschätzten Umsatzvolumen von jährlich 20 bis 30 Mio. US-Dollar.

Die Vermarktung der Produkte der Kameltiere (Fleisch, Wolle und Leder) gilt in jüngerer Zeit als eine der besten Einkommensalternativen für die Familien des südlichen Hochlands. In dieser sehr armen Region liegt das Einkommen nach Angaben des staatlichen Statistikamtes bei 300 US-Dollar pro Jahr und Familie, was sehr prekäre Lebensverhältnisse und extreme Armut schafft. Die neue Einkommensalternative erfuhr 1970 bis 1980 starke finanzielle Rückendeckung seitens der internationalen Entwicklungshilfeinstitutionen wie USAID. So vergab die Weltbank 24 Millionen US-Dollar, der internationale Agrarentwicklungsfonds FIDA der italienischen Regierung sieben Millionen US-Dollar und der Andine Förderzusammenschluss Corporación Andina de Fomento drei Millionen US-Dollar. In den 90er Jahren fuhren zahlreiche NRO mit dieser Politik fort, ohne dass man Zahlen kennt. Diese NRO setzten vor allem auf den Export von Fleisch und Wolle. So entstanden auch viele private Zwischenhandelsfirmen, die sich mit diesem Exportgeschäft beschäftigen. Aufgrund des Misstrauens gegenüber der Mehrzahl der NRO und deren Mittelbewirtschaffung (60 Prozent der Ausgaben gehen meist in administrative Zwecke und nur 40 Prozent in Investitionen) haben sich mittlerweile viele Erzeuger in kleinen Unternehmen, Stiftungen oder Verbänden auf kommunaler, departementaler und nationaler Ebene zusammengeschlossen. 

Im Jahr 2009 begannen die Kamelzüchterverbände (ADEPCAS) der Departements Oruro, Potosí, Cochabamba, La Paz, Chuquisaca und Tarija, die allesamt dem nationalen Verband ANAPCA Qullasuyu angehören, gemeinsam mit der bolivianischen Regierung das Projekt „Unterstützung zur Wertschätzung der bäuerlichen Bewirtschaftung von Lama, Alpaka und Vikunja und des Ethno-Ökotourismus“ (VALE). Dieses Projekt ist mit 14 Mio. US-Dollar ausgestattet und auf sechs Jahre angelegt. Man erwartet sich einen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Nahrungsmittelknappheit über die Schaffung von neuen Einkommensmöglichkeiten, durch die die in der Kamelzucht tätigen Familien einen besseren und größeren Zugang zu Nahrung erhalten. Es ist nur zu hoffen, dass diese guten Vorsätze wahr werden, denn der Außenhandel von Bolivien und ganz Südamerika hat es nicht vermocht, die Abhängigkeit beim Export der natürlichen Ressourcen zu durchbrechen. Im Gegenteil, Faktoren wie die Wirtschafts- und Finanzkrise, die hohen Preise für Rohstoffe und der unstillbare Importdurst der reichen Länder, zuletzt besonders aus dem asiatischen Raum, verschärfen sie noch weiter. Die internationale Nachfrage ist hoch, die Preise besonders für landwirtschaftlich erzeugte Nahrungsmittel sind attraktiv und die Importeure scheren sich nicht um Armut und Hunger in unseren Ländern. Sie haben allein die satten Gewinne Im Blick, die sie aus der Befriedigung anspruchsvoller Gaumen, die Exotisches verlangen, und einer auf light food ausgerichteten Bevölkerung der reichen Länder ziehen können.