Dem Massaker im Morgengrauen des 16. November 1989 vorausgegangen war eine Medienkampagne gegen diese Jesuitenpatres und Intellektuellen. Alle Untersuchungsberichte zu den Ereignisse heben hervor, dass der Rundfunksender der Streitkräfte seine HörerInnen aufforderte, sich zur Offensive der FMLN, die wenige Tage zuvor, am 11. November, begonnen hatte, zu äußern. Da gab es Stimmen, die den Tod der Jesuiten, vor allem des damaligen Rektors der UCA, Pater Ignacio Ellacuría, forderten. „Ellacuría ist ein Guerillero. Schlagt ihm den Kopf ab!“ oder „Holt Ellacuría raus und spießt ihn auf!“, war zu hören. In dem Sender wurde auch behauptet, dass die Guerilla mit Zustimmung der Leitung in der Jesuitenuniversität UCA Waffen versteckt habe.
Aber es war nicht das erste Mal, dass Mitglieder der Gesellschaft Jesu in El Salvador Hass und politischer Gewalt begegneten. Zwischen März und Juni 1872 gab es in den Straßen von San Salvador eine ganz ähnliche Agitation. In der Nacht des 1. März 1872 versammelte sich ein von Parlamentsabgeordneten, Regierungsmitgliedern und Journalisten aufgestachelter Mob vor dem Haus der Jesuitenpatres (es waren nur zwei damals) und forderte, sie sofort des Landes zu verweisen. Die Proteste waren so laut, dass der damalige Bischof von San Salvador die Patres bat, in seine Residenz zu kommen, „bevor sie Opfer der brutalen Wut“ würden. In der Nacht des 3. März gab es wieder einen Massenauflauf und die Menge schrie: „Tod den Jesuiten, Tod dem Ignacio de Loyola!“ Ein paar Tage später forderte der Bischof die Regierung auf, die Demonstrationen zu stoppen, aber unternahm nichts. So würde es auch hundert Jahre später wieder sein. Glücklicherweise endete die Agitation von 1872 nicht mit der Ermordung der Jesuiten, sie wurden lediglich am 6. Juni des Jahres vertrieben.
Das war just drei Wochen, bevor in Deutschland ähnliche Maßnahmen ergriffen wurden, und zwar mit derselben Begründung wie in El Salvador. Im Kulturkampf wollte Reichskanzler Otto von Bismarck die Einheit Deutschlands und die Säkularisierung des Staates vorantreiben. Er wollte eine klare Trennung von Staat und Kirche und führte die Zivilehe, die Scheidung und die staatlich finanzierten, laizistischen Schulen ohne Religionsunterricht ein. In Gestalt der Bismarck-Regierung definierte sich der Staat offiziell als laizistisch. Genau wie in El Salvador machte die deutsche Regierung den Erfolg dieser revolutionären Veränderungen der Staatsstrukturen in hohem Maße abhängig von der Vertreibung der Jesuiten. Um aber auf den 6. Juni 1872 in El Salvador zurückzukommen: Eine Militäreskorte holte die beiden Jesuiten in der Bischofsresidenz ab und fuhr sie direkt zum Hafen von Acajutla und auf das Schiff, das sie wegbringen sollte.
Während die beiden Patres auf die Abfahrt des Schiffes warteten, schrieben sie einen Protestbrief und bestätigten den streng religiösen Charakter ihrer Mission in El Salvador, wohin sie erst Anfang desselben Jahres gekommen waren: „Wir protestieren gegen die Verleumdungen und Beleidigungen gegen uns, die die Regierung zugelassen hat… Bekanntlich widmen wir uns ganz und gar unserem seelsorgerischen Auftrag, völlig unabhängig von jeglicher politischen Couleur… Was für eine unglaubliche Ironie: im Namen der Freiheit beraubt man uns der unsrigen! Im Namen der Demokratie werden wir mitten in der Nacht deportiert. Deshalb protestieren wir im Namen dieses Volkes, das wir lieben und das uns geliebt hat und das man mit schrecklichen Lügen über uns hinters Licht zu führen versucht hat – ohne Erfolg…“ Dieselben Worte hätten von den sechs Jesuitenpriestern geschrieben sein können, die 117 Jahre nach der Vertreibung ihrer Brüder ermordet wurden.
42 Jahre später, 1914, wurde der Jesuitenorden in El Salvador wieder zugelassen. Eine neue Generation von Patres fand in der salvadorianischen Hauptstadt Zuflucht, nachdem sie im Kontext der Revolution und der Säkularisierungswelle aus Mexiko vertrieben worden waren. 63 Jahre nach dieser zweiten Rückkehr wurde im März 1977 der Jesuitenpater Rutilio Grande von Todesschwadronen ermordet. Er war Pfarrer in einer sehr armen ländlichen Pfarrgemeinde inmitten sehr reicher Zuckerrohrplantagen. Sein einziges Vergehen bestand darin, in seinen Gläubigen und im Lichte des Evangeliums ein Bewusstsein zu fördern von der großen Ungerechtigkeit, die sie umgab – einer Ungerechtigkeit, wie Gott sie nicht mochte.
Wie kann man diesen Hass gegen die Jesuiten in El Salvador, der ihnen im 19. und auch im 20. Jahrhundert entgegenschlug, erklären? Wenn wir das Massaker von 1989 betrachten, scheint klar zu sein, dass die Jesuiten der UCA im Auftrag mächtiger, reaktionärer Kreise ermordet wurden, die die fortschrittliche Arbeit dieser Ordensleute zugunsten der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit hassten. Im Gegensatz dazu wurden 1872 die Proteste und schließlich die Vertreibung der Jesuitenpater von liberalen Kreisen betrieben, die in den Jesuiten die reinste Verkörperung eines ranzigen Konservativismus sahen. Wie kann man diesen Widerspruch erklären? Als die ila mich gebeten hat, eine kurze Geschichte der Jesuiten in El Salvador zu schreiben, hielt ich es für erforderlich, das hier skizzierte Paradox zu beschreiben und zu erklären: warum wurden die Jesuiten im 19. Jahrhundert von den Liberalen gehasst, und im 20. von den Konservativen? Der Hass der Konservativen kann als Ergebnis eines Verrates gedeutet werden. Diese konservativen Kreise, vor allem die katholischen, fühlten sich von den Jesuiten verraten, hatten sie doch aus ihrer Sicht den Treuebund des 19. Jahrhunderts gebrochen. Zusammen hatten sie damals ein politisches Projekt gefördert, das gegen jegliche Erneuerung, jegliche soziale Veränderung, jegliche Säkularisierung in El Salvador stand. Und bekanntlich ist ein Verräter viel schlimmer als ein einfacher Feind.
Um diese These besser zu verstehen, wollen wir auf ein kleines, aber wichtiges Detail in der Geschichte der Gesellschaft Jesu aufmerksam machen, auf die Gründe, weshalb Papst Clemens XIV. den Orden 1773 auflöste, und auf die Gründe, weshalb Papst Pius VII. den Orden 1814 wieder zuließ. 2014 jährt sich zum zweihundertsten Mal die Wiederzulassung der Gesellschaft Jesu. Aus diesem Anlass sind jesuitische Historiker der Geschichte noch einmal nachgegangen und haben herausgefunden, dass das Dokument, mit dem der Orden 1773 aufgelöst wurde, „die Jesuiten in Wirklichkeit nicht konkret eines Vergehens beschuldigte, sondern eher von der Möglichkeit sprach, sich der ständigen Quertreibereien des Ordens in theologischen Fragen, der Einmischung in die Politik und des mangelnden Gehorsams gegenüber der römischen Obrigkeit zu entledigen.“
Im Vatikan war man wohl der Meinung, die Auflösung des Ordens könnte die Säkularisierung und die Trennung von Staat und Kirche aufhalten. Vor der Auflösung hatten einige prominente Jesuiten öffentlich Sympathien für den Säkularisierungsprozess gezeigt. Die Diskussion unter den Historikern ist allerdings noch nicht abgeschlossen. 41 Jahre später, als Papst Pius VII. den Orden 1814 wieder zuließ, hatte sich der Kontext völlig verändert, war viel bedrohlicher für die Kirche geworden. In der Zwischenzeit waren die Französische Revolution, die napoleonischen Kriege geschehen und hatten die Unabhängigkeitsprozesse in den Amerikas begonnen. Die Zeiten waren viel besser geworden für liberale Ideen. „Der Frühling der Völker”, die Revolutionen von 1848, stand vor der Tür. Die wieder zugelassene Gesellschaft Jesu bekam, wenn auch nicht explizit, zur Hauptaufgabe, das monarchische, katholische Ancien Régime zu verteidigen.
An dieser Stelle ist es angebracht, kurz den Kardinal Ercole Consalvi, den Staatssekretär von Pius VII., zu zitieren: „Obwohl ich von der Bedeutung der Jesuiten überzeugt war, hielt ich es für fanatisch zu meinen, die Kirche könne nicht ohne sie auskommen… Als ich aber die Französische Revolution sah… fing ich an zu denken, dass die Kirche ohne die Jesuiten in ziemliche Bedrängnis kommen würde… Die Staatschefs entdeckten, dass die Jesuiten ihr Throne sicher machten, denn sie brachten die Religion zurück.“ Der letzte Satz ist eine Schlüsselbotschaft. Die hartnäckige Verteidigung des alten Regimes durch die Jesuiten war oft genug genau der Grund für ihre Vertreibung durch liberale Regierungen in Europa und den Amerikas. In unserem Fall hatten die beiden Jesuiten, die 1872 in El Salvador lebten, zuvor seit 1861 in Guatemala gearbeitet, wo sie eine große Gemeinschaft aus 70 Priestern, Brüdern, Novizen und Studenten geschaffen hatten.
Von Guatemala aus evangelisierten sie in El Salvador und Honduras. Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Jesuiten in Guatemala auf Bitten von Präsident Rafael Carrera (1854-1865) niederließen, der in den Augen der mittelamerikanischen Liberalen der Inbegriff des katholischen Ultrakonservativen war. Nach dem Tod von Carrera 1865 wurde einer der Jesuiten, der später aus El Salvador deportiert wurde, Pater José Telésforo Paúl, mit der Trauerpredigt beauftragt. Er beschrieb den verblichenen Präsidenten als ein vollkommenes Exemplar eines katholischen Regierungschefs, wie ihn alle Nationen der Welt haben sollten. Die Liberalen in Guatemala und El Salvador verziehen dem Pater Paúl diese Worte nie. Nach dem Sieg der Liberalen in Guatemala 1871 waren die Tage der Jesuiten in diesem Land gezählt. Am 4. September 1871 verfügte die neue liberale Regierung die Vertreibung der Jesuiten aus ihrem Land. Sie baten in El Salvador um Asyl, worauf die dortigen Liberalen sofort mit einer mächtigen Agitation reagierten. Die guatemaltekische Regierung setzte die Regierung El Salvadors ebenso unmittelbar unter Druck, den Jesuiten keinen Aufenthalt zu gewähren. Die Liberalen sahen in den Jesuiten eine Gefahr für die neue liberale Regierung in El Salvador, die Präsident Francisco Dueñas, einen prokatholischen Verbündeten von Carrera, gestürzt hatten. Nach ihrer Vertreibung aus El Salvador bekamen die Jesuiten bis 1881 eine Bleibe in Nicaragua. Aber auch von dort wurden sie schließlich vertrieben, weil die liberale nicaraguanische Regierung fand, dass sie einen konservativen und katholischen Indígena-Aufstand in Matagalpa gefördert hatten.
Als die Jesuiten 1914 in El Salvador wieder zugelassen wurden, waren sie unverändert konservativ und reaktionär. 1915 betrauten die salvadorianischen Bischöfe den Orden mit der Ausbildung der künftigen Priester. In wenigen Jahren wurde dieses Priesterseminar zu einem Sammelplatz für Priesteranwärter aus allen Diözesen Mittelamerikas. Damit wurde der Einfluss der Jesuiten auf die Kirche in Zentralamerika bestimmend. Ein wenig später,1921, gründeten die Jesuiten das private Gymnasium Externado San José, das im Laufe der Jahre zur wichtigsten Schule für die Söhne der mächtigen katholischen Familien wurde. Es sei daran erinnert, dass noch 1965, als die UCA gegründet wurde, die höhere Bildung ohne marxistische Vergiftung zum grundlegenden Ziel der Universität erklärt wurde, als Gegengewicht zur staatlichen Nationaluniversität, die nach der kubanischen Revolution von 1959 zu einem „Hort des Marxismus“ geworden war.
Die Jesuiten leiteten das Priesterseminar bis 1972. Der damals sehr konservative Bischof Oscar Arnulfo Romero, der Generalsekretär der salvadorianischen Bischofskonferenz war, teilte der Gesellschaft Jesu mit, dass die Bischöfe die Priesterausbildung, die die Jesuiten seit 57 Jahren betrieben, nicht länger mit Wohlwollen sahen. Die Bischöfe waren der Meinung, dass die Ausbildung zu kritisch gegenüber der konservativen Macht der Kirche und der Regierung geworden war und die Seminaristen rebellisch wurden. Im selben Jahr fingen auch die Probleme im Externado San José an. Die Eltern protestierten, weil sie fanden, dass die Studienpläne verändert worden waren und jetzt Fächer wie Soziologie gelehrt wurden. Sie bemerkten, wie ihre Söhne, Kinder der mächtigsten Familien des Landes, anfingen, mit anderen Augen auf die Wirklichkeit des Landes zu blicken, auf die Ungerechtigkeit, in der die Bevölkerungsmehrheit lebte. Man sagte, die Jesuiten indoktrinierten ihre Schüler marxistisch. Diese Ereignisse im Jahre 1972 (zur Erinnerung: genau hundert Jahre nach der Vertreibung der Jesuiten aus El Salvador) machen klar, dass sich etwas innerhalb der Gesellschaft Jesu radikal verändert hatte. Offenbar waren sie nicht mehr so ohne Weiteres bereit, die katholisch-konservative Ordnung zu verteidigen, wie sie es seit ihrer Wiederzulassung 1814 getan hatten und weshalb sie 1881 aus ganz Mittelamerika vertrieben worden waren. Der Preis, den die Jesuiten für ihren Sinneswandel bezahlen mussten, war sehr hoch: Todesdrohungen, Bombenanschläge in der UCA, Diffamierungen und schließlich das Massaker von 1989.
Wie lässt es sich erklären, dass die Jesuiten in El Salvador das Verständnis von ihrer Mission radikal veränderten? Zweifellos haben die Veränderungen in der katholischen Kirche, die von den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. und vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestoßen wurden, damals angefangen, auch in El Salvador Früchte zu tragen. Zweifellos hat auch die Wahl von Pedro Arrupe zum Generalpräfekten der Gesellschaft Jesu im Jahre 1965 dazu beigetragen, dass die Jesuiten ihre Mission überdachten. Im Fall der mittelamerikanischen Jesuiten fand dieser Prozess 1969 statt, als sämtliche Mitglieder des Ordens in der zentralamerikanischen Vizeprovinz zu einer denkwürdigen Klausur geladen wurden, die unter anderen Ignacio Ellacuría leitete.
Den Geschichtsschreibern der Gesellschaft Jesu in Zentralamerika zufolge veränderte diese Klausur den Denk- und Arbeitsstil des Ordens vollständig. Die Teilnehmer dachten über die Sünden ihres Ordens in der Region nach. Die größte Sünde, die sie in all den vergangenen Jahren begangen hatten, bestand darin, die soziale Ungerechtigkeit, die Armut und den Ausschluss, die in der Region herrschten, zu segnen, zu vertuschen, zu rechtfertigen und zu verteidigen. Diese Klausur wurde zum Wendepunkt von der konservativen zur fortschrittlichen Haltung der Jesuiten. Dazu muss klargestellt werden, dass es nicht um Fortschrittlichkeit im Stile der Liberalen des 19. Jahrhunderts ging, die für einen laizistischen Staat kämpften. Dieses Ziel war erreicht worden. Jetzt wandte sich der Blick den Armen, den Marginalisierten, den Ausgebeuteten zu. Jetzt wurde nicht mehr um den liberalen Staat gekämpft, jetzt ging es um etwas viel Riskanteres, den Kampf für die Gerechtigkeit und die Verteidigung des Glaubens.
Das wurde 1974 von der 32. Generalversammlung der Gesellschaft Jesu bestätigt. Es war nicht mehr haltbar und nicht mehr zu rechtfertigen, als Jesuiten weiter die bevorzugte Option für die Reichen und Mächtigen zu wählen. In vielerlei Hinsicht stand dieses neue Projekt der salvadorianischen Jesuiten dem Projekt der revolutionären Befreiung nahe, dass von den Sozialisten, Marxisten und Kommunisten in Lateinamerika vorangetrieben wurde. Der spektakuläre Sieg der kubanischen Revolution und die großen Fortschritte der revolutionären Bewegungen in Nicaragua (FSLN) und El Salvador (FMLN) in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts zeigten, dass es möglich war, eine gerechtere Gesellschaft für die Armen aufzubauen. Die Antwort der Liberalen, Konservativen und Katholiken lautete, die Reihen zu schließen gegen das Gespenst des Kommunismus, das nicht mehr in Europa umging, sondern in Lateinamerika, und das diese Kräfte auch mit der Gesellschaft Jesu in Verbindung brachten, mit Priestern wie Rutilio Grande oder den Jesuiten der UCA. Von nun an würden die Jesuiten keine Verbündeten der mächtigen Herren der Welt des 20. Jahrhunderts sein, sondern deren Feinde.