Mit dem „neuen Mann“ ist es in Nicaragua heutzutage nicht weit her. Die Hälfte der Mütter in Nicaragua sind alleinerziehend, die durchschnittliche Kinderzahl beträgt fünf Kinder (häufig auch von unterschiedlichen Partnern), wobei diese Zahl in den letzten Jahren leicht zurückgegangen ist. Nicaragua ist das zentralamerikanische Land mit der höchsten Schwangerschaftsrate unter Minderjährigen, ein Viertel der Mädchen unter 18 wird schon früh schwanger. Grund dafür sind von Missbrauch und Gewalt geprägter Sex gepaart mit mangelnder Aufklärung. Junge Mädchen heiraten früh, um der Kontrolle ihrer Eltern zu entkommen. Sie werden schwanger, brechen die Schule ab, leiden unter Gewalt oder Untreue ihres Partners und finden sich allzu oft als alleinerziehende Mütter wieder. Ein Teufelskreis aus Abhängigkeit und Gewalt hält sie gefangen.
Seit den 1990er-Jahren hat die Gewalt gegen Frauen zugenommen. So wurden allein im Jahr 2007 33 535 Anzeigen wegen innerfamiliärer Gewalt und sexuellem Missbrauch erstattet, wobei die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sein dürfte. Häufig kommt es erst gar nicht zur Anzeige, weil den Frauen die (Mit-)Schuld am Missbrauch gegeben wird und die Strafen für die Männer ohnehin lächerlich gering ausfallen würden. Tagtäglich werden durchschnittlich 13 Fälle von sexuellem Missbrauch registriert, das Institut für Gerichtsmedizin (IML) hat dazu eine weitere erschütternde Zahl veröffentlicht: 85 Prozent der Opfer von sexuellem Missbrauch sind jünger als 13 Jahre. Luz Marina Torrez vom Colectivo 8 de Marzo aus Managua bezeichnet die Gewalt gegen Frauen in Nicaragua als „Pandemie“, die aufgrund der herrschenden Straflosigkeit immer noch zu selten und häufig erst nach geraumer Zeit vor Gericht gebracht wird: „Wenn die Frauen die Gewalt anzeigen, haben sie bereits eine lange Geschichte aus Schweigen, Unglauben, Angst, Folter, Verletzungen und Raub hinter sich.“
Auch in Nicaragua werden Feminizide verübt, im Jahr 2013 belaufen sich die offiziellen Zahlen auf 65 Fälle. Die ermordeten Frauen waren zwischen 20 und 40 Jahre alt, besonders stark sind indigene und afrikanischstämmige Frauen betroffen. Auch in der Hauptstadt Managua ist die Mordrate sehr hoch. Gewalt gegen Frauen, sei sie häuslich oder im öffentlichen Raum, ist also eines der wichtigsten Themen für alle, die sich für die Rechte der Frauen in Nicaragua stark machen.
In den letzten Jahren mischt sich die katholische Kirche immer stärker in die Politik ein, woran auch Präsidentengattin Rosario Murillo ihren Anteil hat. Das geht mitunter soweit, dass einige Apotheken selbst gängige Verhütungsmittel nicht mehr verkaufen oder junge Mädchen moralisch zu beeinflussen versuchen. Geni Gómez vom Red de Mujeres de Matagalpa stöhnt über den wachsenden Einfluss der katholischen Kirche: „Politiker und Beamte verhalten sich wie Pfarrer und predigen den lieben langen Tag. Dabei verbreiten sie die konservativsten Werte überhaupt, vor allem im Hinblick auf Frauen, ihre Sexualität und ihre Entscheidungsfreiheit.“
Im Jahr 2006 erschütterte ein schwerer Schlag die feministische Szene Nicaraguas: Abtreibungen wurden komplett verboten, selbst die bis dahin legale sogenannte therapeutische Abtreibung bei Gefahr von Schädigung für Fötus oder Mutter. Die Zahl der Todesfälle von schwangeren Frauen ist seither merklich angestiegen. Selbst Schwangerschaften von minderjährigen Mädchen, die durch Vergewaltigungen zustande gekommen sind, müssen ausgetragen werden. Die Zahl der schwangeren Teenager, die Selbstmord begehen, hat sich deshalb in den letzten Jahren erhöht.
Hinter dieser schwerwiegenden Entscheidung stand ein Pakt mit der katholischen Kirche: Mit diesem „Pakt mit dem Teufel“ erkaufte sich Präsident Daniel Ortega die Gewogenheit der katholischen Kirche für seine Wiederwahl. Die nicaraguanische Frauenbewegung protestiert seitdem unermüdlich gegen diesen unerhörten Rückschritt. Im Zuge der Wahlen im Jahr 2006 übte die FSLN massiven Druck auf die Frauenbewegung aus: So wurden zum Teil Genehmigungen für Demos verweigert, Büros von Frauen-NRO durchsucht, für Frauenorganisationen bestimmte internationale Hilfsgelder einbehalten.
Heute hat sich die Situation wieder ein wenig entspannt, die Frauenorganisationen stehen jedoch auf jeden Fall unter Beobachtung. Mittlerweile sind die Aktivistinnen dazu übergegangen, sich in Netzwerken zusammenzuschließen: Somit kann zu heiklen Themen Stellung bezogen werden, ohne dass dies unmittelbar auf bestimmte Personen oder Organisationen zurückgeführt werden kann.
Am 22. Februar 2012 schien es einen bedeutenden Fortschritt zu geben mit dem Inkrafttreten des Ley 779, des „Gesetzes gegen Gewalt an Frauen“. Zustande gekommen war es auf jahrzehntelanges Betreiben der nicaraguanischen Frauenbewegung. Die Movimiento de Mujeres MEC (María Elena Cuadra) hatte bereits im Oktober 2010 einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, mit dem Rückhalt von über 12 000 Unterschriften von Frauen aus dem ganzen Land. Die Regierung, vor allem Präsident Ortegas Frau Rosario Murillo, zeigte sich in diesem Fall kooperativ. Das Gesetz schafft endlich eine umfangreiche Grundlage für die Verteidigung der Rechte der Frauen, Gewalt gegen Frauen wird erstmals als strafbar verankert, Feminizide werden als solche anerkannt und nicht mehr nur als „einfacher“ Mord abgetan. Auch psychische Gewalt in der Familie und am Arbeitsplatz kann angezeigt werden. Insgesamt bietet das Gesetz den Frauen mehr juristischen Rückhalt bei allen möglichen Formen der Gewalt und Diskriminierung. Männer, gegen die eine Anzeige vorliegt, können sofort festgenommen werden, bis der Straftatbestand geprüft wird. Eine bittere Pille für die nicaraguanischen Männer, die direkt lauthals dagegen protestierten.
Breite Teile der nicaraguanischen Frauenbewegung sind jedoch nicht zufrieden mit dem Gesetz, weil es nicht weit genug reicht bzw. dessen Anwendung nicht gewährleistet ist. Dennoch bewerten sie es insgesamt als ein fortschrittliches juristisches Instrument. Geni Gómez vom Red de Mujeres de Matagalpa bemängelt, dass es heute, zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten, immer noch an ausreichenden finanziellen Mitteln für die Umsetzung des Gesetzes mangele; auch das Personal sei ungenügend, so gebe es noch lange nicht in allen Gemeinden des Landes Staatsanwälte für die Untersuchungen.
In der Praxis haben sich schon schnell die ersten Probleme gezeigt: Frauen bekommen auf den Kommissariaten keine psychologische Betreuung, stattdessen werden sie gar gefragt, ob sie denn wirklich eine Anzeige machen wollten, schließlich wären dann der Mann und sein Geld erst mal weg. Zur Retraumatisierung trägt außerdem bei, dass den Frauen praktisch unterstellt wird, dass sie Mitschuld an der Gewalttat trügen. „Das wird noch jahrelang dauern, bis es genügend Personal mit entsprechender Ausbildung gibt, das dann auch die Dynamik der Gewalt versteht und angemessen auf die Frauen eingehen kann“, meint Gómez. Hinzu kommt, dass es zu wenig Gerichte gibt, um sich um die Anzeigen zu kümmern. Für Frauen, die auf dem Land leben, ist es so gut wie unmöglich, ein Kommissariat aufzusuchen, da sie die Fahrt in die Stadt bezahlen müssten, einen ganzen Tag lang nicht arbeiten könnten und auch nicht wüssten, wohin mit ihren Kindern.
Ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes hat dann Präsident Ortega eine Verfügung erlassen, die der korrekten Anwendung des Gesetzes entgegensteht. „Damit wird die Entscheidungsgewalt an die Gemeindestrukturen zurückgegeben, sogenannte ‚Familienräte’ sollen in erster Instanz die Probleme der angezeigten Gewalt lösen, um die ‚Zerstörung der Familie zu vermeiden’; je nach Ausmaß der Gewalt würden dann diese Leute – Männer und Frauen – aus dem Stadtteil oder der ländlichen Gemeinde darüber entscheiden, ob der Fall an die zuständigen Instanzen – Kommissariat, Staatsanwaltschaft, Gericht, Gerichtsmedizin – weitergeleitet wird. Damit wird der Zugang zum Rechtssystem wieder komplizierter, die Anwendung des Gesetzes 779 insgesamt schwieriger; die Gefahr einer Reviktimisierung, was das Gesetz eigentlich ausschließen wollte, wächst mit dieser Verfügung wieder“, erklärt Luz Marina Torrez.
Ende 2013 wurde dann auch noch auf Druck der Kirche und vieler Parlamentarier die sogenannte Mediation für „minder schwere Fälle“ eingeführt: Wer bei einer Mediation mitmacht, muss nicht ins Gefängnis. Damit soll laut Kirchenvertretern und Parlamentariern verhindert werden, dass „die Familien zerstört werden“. Für die Frauenbewegung ein eklatanter Rückschritt, denn in den meisten Fällen kommt es nach einer Mediation wieder zu Gewalt, bis hin zum Mord: „Die Mediation fördert Straflosigkeit, außerdem spiegelt sie die Machtverhältnisse wider, die der Gewalt gegen Frauen zugrunde liegen: Wir wissen zur Genüge, dass die meisten Tode immer dann passieren, wenn keine Bestrafung in Aussicht steht, in vielen Fällen geschehen sie dann auch nach einer stattgefundenen Mediation“, kritisiert Martha Flores von der Organisation Intipachamama. Auch Geni Gómez ist über diesen Schritt empört: „Das ist alles komplett schädlich, absurd und illegal. Deswegen haben wir bereits über 100 Beschwerden beim Verfassungsgericht dagegen eingelegt.“
Seit ihrer Einführung bringt die umstrittene Mediation die nicaraguanischen Frauen wieder verstärkt auf die Straße und in die Medien, wie Luz Marina Torres berichtet: „Wir machen Demos, Kundgebungen und sagen fast jeden Tag in den wenigen Medien, die noch nicht von der herrschenden Partei gekauft worden sind, unsere Meinung dazu. Gleichzeitig klären wir in mühseliger Kleinarbeit die Bevölkerung über ihre Rechte auf und fördern das Selbstbewusstsein der Frauen.“ So ist es heute nicht mehr das Bild der bewaffneten Milizionärin, das die Emanzipation in Nicaragua kennzeichnet, sondern eine Vielzahl von selbstbewussten Frauen, die die feministischen lila Fahnen schwenken und dem Patriarchat entgegentreten: La revolución será feminista o no será.“