Das Prinzip „Dub“ ist so alt wie die jamaicanische Musikindustrie. Deren Anfang datiert auf das Jahr 1949, als Ken Khouri (1917-2003) eine in Miami erstandene Disc-Cutting-Maschine auf die Insel brachte. Damit begann er, Musik aufzunehmen und den Verkauf eigener Schallplatten zu organisieren. Noch bevor er 1961 im Gründerboom der anstehenden Unabhängigkeit in Kingston die Firma „Federal Records Ltd.“ errichtete, ein All-Inclusive-Imperium mit Recording- und Masteringstudio, Schallplattenpresswerk und Vertrieb, presste Khouri auf seiner Cutting-Maschine bereits einzelne Acetate (Dub Plates), die ausschließlich für Soundsystems gefertigt wurden.
Soundsystems waren Outdoor Discotheken, die in den 50er-Jahren in Downtown Kingston als Alternative zu den Uptown Lustbarkeiten entstanden. Sie waren das Vergnügen der GhettobewohnerInnen, die kein Geld für teure Clubs hatten. Tonanlagen und Plattenspieler wurden im Freien aufgebaut und es dauerte nicht lange, da war jeder Sound darauf erpicht ,etwas zu haben, was die anderen nicht hatten, sei es der ausgefeiltere Klang, die größere Reichweite, die virtuoseren Discjockeys, die in Jamaica Selector heißen, oder die schillerndsten Animateure, die man als MC, als Master Of Ceremony, tituliert. Vor allem aber ging es um die seltenere, noch besser, exklusive Musikauswahl. Also fertigte man Schallplattenunikate, Exemplare, die nur einmal und nur für ein einziges Soundsystem gepresst wurden und die am Anfang aufgrund ihres weichen Materials den Namen „Soft Wax“ trugen.
Im Frühstadium der Entwicklung war es nicht ungewöhnlich, dass Sänger durch derartige Einzelstücke zu Heroen des Publikums avancierten, ohne dass es von ihnen Schallplatten zu kaufen gab. Parallel dazu konzentrierte sich das Interesse auf Instrumentalversionen bekannter Songs. Denn schon bald legten die Soundsystems nicht mehr nur Platten auf, zu ihrem Unterhaltungsprogramm gehörten jetzt auch Showauftritte von Vokalartisten. Daher bestand Bedarf an Playbacks, die aus Versatzstücken erfolgreicher Hits gewonnen wurden. Mit Fortschreiten der studiotechnischen Möglichkeiten entwickelten sich aus ursprünglich reinen Instrumentalstücken eigenwillige Rhythmusreduktionen, nackte Beats von Bass und Schlagzeug, angereichert mit Hall- oder Echoeffekten, durchsetzt von Vokaleinblendungen oder Melodiefetzen – geschaffen von den Toningenieuren der Studios, deren speziellen Mixe „Dub“ genannt wurden. Ursprünglich und per definitionem war Dub die in seine Bestandteile zerlegte Bearbeitung eines existierenden Musiktitels zur exklusiven Verwendung bei Soundsystems. Dub wurde das Vehikel, auf dem Deejays und SängerInnen fortan durch die jamaicanische Dancehall cruisten.
Die Frage ist: Wer hat’s erfunden? Durch die Dubromantik geistert seit den 90er-Jahren eine Geschichte, nach der im Jahr 1968 im Kingstoner Treasure Isle Studio durch einen technischen Fehler eine Aufnahme ohne Gesang gepresst wurde und King Tubby (1941-1989) bei dieser Gelegenheit auf die Dubidee gekommen sei. Tausendfache copy-n-paste-Wiederholungen belegen nicht den Wahrheitsgehalt dieser Legende. Tubby war nicht der Erfinder des Dub. Als er in den Dubzug stieg, hatte der seine Fahrt längst aufgenommen. Allerdings hat der Mann, den sie nicht ohne Grund „King“ nannten, ihn richtig auf Geschwindigkeit gebracht.
Der Ursprung des Dub liegt in dem Wunsch der Soundsystems nach Exklusivität. Um dies mit einem alternativen Mix zu erreichen, bedurfte es bestimmter technischer Voraussetzungen. Solange in den jamaicanischen Studios maximal zwei Spuren zur Verfügung standen, waren die Möglichkeiten begrenzt. Sylvan Morris ( geb. 1946), einer der angesehensten Toningenieure der Insel, der im Studio One den Klang einer ganzen Epoche geprägt und später die ersten Island Alben von Bob Marley aufgenommen hat, sagt, dass Dub nicht die Idee der Studiotechniker, sondern ein Begehr der Soundleute war: „Die haben uns verrückt gemacht. Die wollten immer was Besonderes. Das hat uns, die Engineers, genötigt zu überlegen, was man anders machen könnte. Jeder wollte denselben Tune, aber alle wollten ihn anders. Also hab ich hier was eingeblendet, da was ausgeblendet. Ich musste mein ganzes Know-How einsetzten und hab jede Version unterschiedlich gefiltert. Ich hab alles Mögliche versucht. Waren da vier Leute, musste ich vier Varianten aus einem Song rausholen.“ Das alles war nur machbar, weil man mit zwei 2-Spur-Maschinen im Pingpongverfahren aufgenommen hatte und auf Zwischenstadien zurückgreifen konnte. Richtig Dub wurde es jedoch erst mit dem nächsten Schritt.
„Der wahre Dub beginnt mit vier Spuren“, sagt der bis heute aktive Dubengineer King Jammy (geb. 1947). 1970 wurde eine derart ausgelegte Tonbandmaschine für das Uptown gelegene Dynamic Sounds Studio angeschafft. Die einzelnen Elemente einer Aufnahme lagen nun nebeneinander: Schlagzeug und Bass auf der ersten Spur, Orgel, Klavier und Gitarren auf der zweiten, auf der dritten waren die Bläser, auf der vierten der Gesang. Jede Spur konnte individuell zusammengestellt und bearbeitet werden. Im gleichen Jahr produzierte Clancy Eccles auf dieser, eine neue Epoche einleitenden Multitrack-Wundermaschine mit dem Deejay King Stitt die Single „Herb Man“. Direkt im Anschluss ließ er sich eine Version des Titels mischen, bei der einzelne Instrumente ein- und ausgeblendet wurden. Eccles nannte diesen Mix „Phantom“ und veröffentlichte ihn als Instrumentalsingle unter dem Namen „The Dynamites“ – es war einer der ersten in Vinyl gepressten Dubs von einer 4-Spur-Bandmaschine. Kurz darauf installierte auch das Downtown gelegene Randy’s Studio ein derartiges Tonbandgerät und Toningenieur Errol Thompson begann, zusammen mit dem 17-jährigen Studiogeschäftsführer Clive Chin, die neuen technischen Möglichkeiten auszuloten. Daraus resultierte 1973 das Album Java Java Java Java, das als die erste Dub-LP der Geschichte angesehen werden darf.
Ab jetzt ging es sehr schnell. Weil man in England die Absatzmöglichkeiten des ungewöhnlichen Studioextrakts im Albumformat erkannt hatte, produzierten die jamaicanischen Studios Dub am Fließband. Zwei bis vier Stunden und das nächste Dubalbum war fertig. Die Kingstoner Studios und ihre Engineers wurden zu international verehrten Stars, ohne dass man in Jamaica davon Notiz nahm. Einige Hundert Alben erschienen in den kommenden Jahren, mit denen Engineers wie King Tubby, Prince Jammy, Lee Perry, Scientist und viele andere der Welt eine eigenständige, psychedelisch angehauchte Sounderfahrung gaben, die in ihrem Ursprungsland weiterhin nur eine exklusive Ausdrucksform für den Einsatz bei Soundsystems blieb.
Als sich Jamaica in den 90ern im Zuge der digitalen Wende musikalisch umorientierte, versiegte der Nachschub. Zuhause obsolet, setzte der Dub nun, herausgelöst aus seinem kulturellen Umfeld, zu einem weltumspannenden Triumphzug an. Vier Dekaden nach seiner Inkarnierung tobt eine degenerierte Dubkakophonie, in der nicht mehr erkennbar ist, was Dub ist, geschweige denn sein wollte. Eine englische Studie aus dem Jahr 2006 stellt fest: „Die meisten derer, die sich heute an Dub bedienen, sind wohlsituierte Mittelständler mit gesichertem Auskommen. Dies ist der grundlegende Unterschied zu der Kultur, in der Dub entstanden ist.“ Jeder musikalische Minimalismus und jedes als Stilmittel freigesetzte Echo läuft heutzutage Gefahr, als Dub vereinnahmt zu werden. Dub wird eingepfercht in Effekthascherei über subsonischen Tiefbässen und verortet in abstrakten Räumen intellektueller Dekonstruktion, in denen das durch spekulative Lesart permanent Bärendienst leistende Feuilleton noch im Jahr 2011 zeigte, wohin die Auslegung ging, indem es die „bekifft glücklich gemeinten Leerstellen des Dub“[fn]Diedrich Diedrichsen in der Süddeutschen Zeitung vom 29./30.1.2011[/fn] beschwor.
Im selben Jahr entdeckt ein junger Produzent aus Kingston die alte Tradition seiner Heimat neu. Don Corleon (geb. 1978), erfolgreicher Schattenmann hinter Künstlern wie Vybz Kartell, Protoje, Gentleman oder Rihanna, beginnt plötzlich auf die gleiche Art zu dubben wie es in den analogen Jahren praktiziert wurde. Sein Album „HD In Dub“ macht den Anfang einer Rückbesinnung in der jamaicanischen Musik, zu der auch das 2012 von dem Deejay Busy Signal veröffentlichte Album „Reggae Music Again“ gehört, in dem es heißt: „It’s been a long long time, we no have no vibes like this“. Parallel dazu – und so etwas hatte es in Jamaika seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben – kam eine Vinyl-LP mit Dubversionen auf den Markt. Junge Artists wie Dubtonic Kru, Protoje oder Chronixx nennen ihre Livemusik heutzutage „Dub“, auch wenn sie dabei statt auf Reduktion auf Improvisation und Effektaddition setzen. Aktuelle Dubplates aus diesem Umfeld sind tatsächlich wieder „Dub“(!)-Plates, während die Poetin Jah9 mit ihrem Album „New Name“ auf einem dubbigem Klangteppich agiert. Jamaica liefert gegenwärtig den Beweis, dass die Zukunft des Dub in der eigenen Vergangenheit liegt, nicht in dem, was woanders daraus gemacht wurde.