Dub Version

Dub Version nennt man in Jamaica die Rückseite einer (45er) Reggaeplatte, auf der die Musik der Vorderseite, zerlegt in ihre Strukturelemente, wiederholt wird.“ (Rainer Epp) So kann hier jeder, der über einen Verstärker und ein Mikrophon verfügt, eine neue eigene Version des Hits mit neuen, eigenen Texten singen und im Sprechgesang vortragen, was hier DJen heiß,: denn der europäische Diskjockey heißt hier selekta, weil er die Platten nur aussucht und vorstellt. Auf diese Weise wurde die jamaikanische Popmusik zum „Diskurs der Massen“. Im Hit wird eine These vorgetragen, etwas behauptet und jeder Mann und jede Frau kann diese Behauptung abwandeln – oder ihr widersprechen. Lehnt etwa der Weltstar Shaggy die Verantwortung (etwa für von ihm gezeugte Kinder) ab: „It wasn’t me“, kommt eine Woche später eine Platte von Lady Saw auf den Markt, auf dem sie auf demselben Riddim reitet und Shaggy „a son of a bitch“ nennt wegen dessen Verantwortungslosigkeit. Ja, es kann geschehen, dass in vierzehn Tagen von zehn Platten in den Hitparaden acht die gleiche Musik benutzen, sie dubben, und auf diese Weise wird eine enorme Bandbreite der öffentlichen Kulturherstellung geschaffen. Wie in der Gospelmusik, im Jazz, im Blues, im Rythm’n Blues herrschen Call & Response, herrscht der ungemein zeitnahe Dialog in Musikform. Dies ist der Gegensatz zu dem in Japan und Europa so beliebten Karaoke, bei dem der Hit unverwandelt nachgesungen oder -geplappert wird. Die Kultur der Dub Version basiert auf Clash, auf Wettstreit und Widerspruch. Das macht sie so lebendig. Jamaica ist, wie einer meiner besten Freunde, zum ersten Mal auf der Insel (the rock), sagte: „Ein Vulkan von Talenten!“

Zur Kehrseite des von der Tourismusbehörde verbreiteten Jamaicabildes von Rum, Marihuana, Sandstrand mit Palmen und Reggae à la „Don’t worry, be happy“ gehören Musik und Literatur als Formen des Widerstands. Gegen Babylon. Dies ist eine Metapher für das shitstem (Peter Tosh), das System mit seiner Mengenlage aus „weißen und schwarzen Unterdrückern und Ausbeutern“, Multis und Polizei sowie das Banken- und Finanzgeflecht. Kaum hatte der erste Schwarze aus Afrika – in Ketten – diese Insel betreten, begann der schwarze Widerstand; und schon ein Jahr nachdem Cromwells Soldaten und Marines Jamaica den Spaniern entrungen hatten, 1656, klagte der Generalgouverneur, diese wenigen fortgelaufenen Sklaven, Maroons (Wilde) genannt, hätten sich „zum Dorn im Fleische Englands“ entwickelt. Diese Linie des Widerstands zeichnet sich bis heute ab. In Rebellionen, etwa der von 1999, als Jamaica drei Tage von der Umwelt abgeschnitten war, kein Flugzeug, kein Schiff hinaus- oder hereinkommen konnte, ein Sachschaden in Höhe von 14 Milliarden Jamaica-Dollar (1 Euro/64 J$) entstand und 69 Prozent der wahlfähigen Bevölkerung das richtig fanden. Das größte Trauma der jüngsten Geschichte war der Wahlkampf im Jahre 1980, in dem die Jamaica Labour Party (entspricht den Christ- ) und die People’s National Party (entspricht den Sozialdemokraten) ihre bewaffneten Arme von der Leine ließen, sie mit Waffen und Crack-Kokain scharf machten, was zu 800 Toten führte.

In den Achtzigern strampelten sich die Offiziere dieser Parteiarmeen frei, in Ruhe ihren Kokain- und Schutzgebürengeschäften nachgehen zu können. Die Zauberlehrlinge (Politiker) hatten keine Kontrolle mehr über jene Kräfte, die sie geschaffen hatten. So machte der 1992 an die Macht gekommene Premierminister P.J. Patterson, 1991 von Michael Manley wegen Korruption gefeuert, nicht nur seine Drohung war „I shall return“, sondern auch sehr geschickt das Polizeicorps mit seinen Todesschwadronen zum bewaffneten Arm der Partei. In der Nacht vom Freitag, dem 6. Juli 2001, auf Samstag wird die perfide Strategie der herrschenden PNP unter Patterson, ein für alle Mal mit dem Feind, den Labourities, in dessen Hochburg Tivoli in West-Kingston aufzuräumen, jedem klar. Die Revolverschwinger der PNP erschießen Menschen in Stadtteilen, welche die Frechheit besitzen, die Opposition zu wählen, fackeln ganze Häuserzüge ab und richten nun, in strategisch guter Position, ihre Kalaschnikows und Handfeuerwaffen auf die Heimstätten der JLP, Denham Town und Tivoli. Unterstützt werden sie schnell von der geballten Feuerkraft von Teilen der Armee und Polizei, die vorgeben, Razzien in Tivoli durchführen zu müssen (das hatten sie Tage zuvor mit herzlich wenig Erfolg bereits getan). Geschickt aber nutzten die Gunmen der Labourities Hochhausdächer, Mauern, Unterschlüpfe und schießen zurück. Wie 1997 ist der Versuch, Tivoli auszuräuchern, gescheitert.

Am 12. Juli 2001 berichtet die älteste und recht konservative Tageszeitung The Daily Cleaner: 25 tote Zivilisten, 41 im Zentralkrankenhaus behandelte Schwerstverletzte. Mit kleinen Sternchen markiert die Redaktion die Namen jener Leichen, die mit hundertprozentiger Sicherheit von den „Sicherheitskräften“ ermordet wurden. Von zehn Kadavern, die erst drei Tage später, von Maden befallen und Hunden angebissen, vom heißen Asphalt der Straßen und Bürgersteige Westkingstons abgekratzt werden konnten, tragen acht diese Sternchen. Der einfussreiche Verband der Privatwirtschaft, vom Oppositionsführer Seaga um Hilfe gebeten und samt Medien zu den Stätten des Schreckens und des Elends geführt, besteht entgegen den Wünschen der Polizei, die Leichen umgehend zu bestatten, auf einer forensischen Untersuchung. Den Unternehmern – den wahren Herrschern der Insel – kann dann nicht mehr vorgeflunkert werden, Sternchen Nr. 1 eine bekannte Stadtstreicherin, Nr. 2 ein Schwarzer Sheriff auf dem Weg zur Arbeit, Nr. 3 ein alter Mann, Nr. 4 ein Handkarrenmann vom nahegelegenen Markt, Nr. 5 ein Mann mit dem Spitznamen Rumkopf usw. seien Gunmen aus Tivoli Gardens, die „nach Feuergefechten mit Armee und Polizei ihren Wunden erlagen“, wie es offiziell heißt. Die äußerst beherzten jamaikanischen Menschenrechtsorganisationen schalten sich nun ein. Sie versuchen seit Jahren den Massakern der Polizei entgegenzutreten. Jamaica steht an fünfter Stelle der Morde pro 100 000 EinwohnerInnen und in Relation zur Gesamtbevölkerung an einsamer Spitze der von der Polizei umgebrachten Menschen – 140 pro Jahr laut Amnesty International.

Als im März 2001 eine Todesschwadron sieben Jugendliche in einer Schlafstadt westlich von Kingston massakrierte, wenden sich die Menschenrechtsgruppen Jamaicaner für Gerechtigkeit und Familien gegen Staatsterrorismus an Amnesty. Das schickte zunächst einen dänischen Pathologen zur Autopsie und später seinen Vorsitzenden. Sein Resumeé im Internet: Mord in sieben Fällen. Um dieser Kritik aus dem „feindlichen Ausland“ vorzubeugen stellte der Verantwortliche für das viel größere Massaker im Juli 2001 in West-Kingston, der Premier, persönlich eine handverlesene Kommission auf die Beine (Al Capone als Untersuchungsrichter des Massakers am Valentinstag…). Das Ergebnis war vorauszusagen. Kein einziger Zivilist sagte aus. Aus Angst, als Zeuge von der Polizei umgebracht zu werden. Im August 2003 kündigte Amnesty International nun eine unabhängige Kommission an, um mit Hilfe aller Zeugen Licht auf das Massaker zu werfen. Am 7. September lauteten die Schlagzeilen der hiesigen Zeitungen: „Justizminister Nicholson greift Amnesty heftig an!“ Der werte Herr verteidigt da etwas, was nicht zu verteidigen ist: Das Abschlachten von Zivilisten am hellen Tag in Kingston im Juli 2001. Niemand wird die Bilder im Fernsehen vergessen, die den Leiter der Todesschwadron Crime Management Unit (CMU), Senior Superintendent Reneto Adams, mit Porschesonnenbrille und Rambo-Ausstattung zeigen, wie er auf dem Dach hinter einer dicken Mauer stand und blindlings eine riesige, schwere Handfeuerwaffe auf ein auf der anderen Straßenseite befindliches Wohnhaus feuert und dabei „Jamaica wird das bitter bezahlen!“ blubbert.
Einige Waffen der Polizei waren so schwer, dass sie Betonmauern durchschießen konnten; so traf etwa eine Kugel ein Baby in der Krippe, eine andere eine junge Frau durch beide Augen (sie war auf der Straße, um Brot und Makrelen zu kaufen). Diese Bilder wurden im Fernsehen immer wieder gezeigt.
In der von den Hintermännern des Massenmordes zusammengestellten Kommission hat eine Frau, die sich Kriminologin nennt, die ungeheuerliche Meinung vertreten, die Revolverschwinger der JLP (die nie auf der Straße gesehen wurden, auch nicht von den dauernd anwesenden Medien) hätten die ermordeten Zivilisten „als menschliches Schild“ benutzt und daher die Beamten die Pflicht gehabt, auf diese Geiseln zu schießen. Eine der besten Zeitungen der Welt, der Guardian aus London, gab dem Artikel über diesen unglaublichen staatlichen Gewaltakt die Überschrift: „Leichen pflastern den Weg zu den Wahlen“. Die wurden von der PNP unter Patterson wieder gewonnen. Mit einem mehr als drei Mal so hohen Wahletat wie die Opposition: Geldern aus dem Kokaingeschäft. Seltsamerweise schwiegen Dub-Poeten und Sprechgesangskünstler zum ersten Mal seit Jahren. Sie hatten Angst, von der Polizei umgebracht zu werden.

Ende Mai 2003 fand das dritte Calabash Literaturfestival in Treasure Beach statt. Dieses Mal kamen über 2000 Menschen (gemessen an der Einwohnerzahl Deutschlands entspräche das 80 000, soviel Leute zieht dort wohl nur Bayern München an). Zwischen den Auftritten der geladenen SchriftstellerInnen und DichterInnen, als das Mikrofon für andere offen war, nutzte ich die Gelegenheit, mein Gedicht zum Massaker, als Blues gesungen, vorzutragen. Ich erhielt eine „standig ovation“ und die bekannteste Anglistin an der Uni der West Indies, Carolyn Cooper, umarmte mich: „Den hier, den PéPé, haben wir adoptiert.“
Und derweil Oppositionsführer Edward Seaga, seit Urzeiten Abgeordneter für West-Kingston, freundlichen Smalltalk mit dem Premierminister macht und dabei Champagner mit ihm trinkt, sind über drei Jahre nach dem Massaker, welches den Wahlkampf einleitete, Amnesty International und die tapferen jamaikanischen Menschenrechtsorganisationen Jamaicaner für Gerechtigkeit und Familien gegen den Staatsterrorismus immer noch am Ball. Begleitet und unterstützt von den Medien.