Von den Schalmeienklängen über „Frieden und Liebe“, von „Dialog“, „Konsens“ und dem Aufruf zur „Rückkehr in die argentinische Familie“ im Wahlkampf und bei der Amtseinführung ist wenige Wochen nach der Amtsübergabe kaum etwas übrig geblieben.
Schon ist die Rede von einem staatsstreichähnlichen Vorgehen (A. Borón) oder dem Führerprinzip (H. Verbitsky) der Regierung Macri, die die Ferien und die Abwesenheit von Abgeordneten und Senatoren dazu nutzt, mit Notstandsdekreten zu regieren und diese auf gültige Gesetze, im Amt befindliche Funktionsträger und legale Institutionen auszuweiten, was eigentlich nur durch Mehrheitsbeschlüsse der legitimen Instanzen außer Kraft gesetzt werden könnte. Sogar aus den Reihen seines Wahlbündnisses Cambiemos gab es Kritik, als Macri zwei Richter des Obersten Gerichts berufen wollte, ohne die dafür notwendige Zustimmung des Senats (wo er keine Mehrheit hat) abzuwarten.
Die Freigabe des Wechselkurses hat zu einer Abwertung des Peso um ca. 40 Prozent und entsprechenden Preissteigerungen geführt, eine Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommensbezieher (vor allem im Exportbereich) ist in vollem Gange. Verstärkt wird diese durch die Abschaffung bzw. Reduktion der Exportsteuern, die den Sozialhaushalt der Kirchner-Regierungen wesentlich finanziert hatten. Die Streichung von Subventionen bei den Tarifen für öffentliche Güter und Dienstleistungen (Wasser, Gas, Elektrizität, Verkehrsmittel etc.) hat bereits begonnen. Gehalts- und Weihnachtsgeldkürzungen sowie Stellenabbau bei den Staatsbeschäftigten hat zu Protesten der Gewerkschaften geführt, aber auch schon zu gewaltsamer Repression, wie sie gegenüber Arbeiterprotesten seit über einem Jahrzehnt nicht mehr vorgekommen sind; ansonsten fehlt der Gegenwehr noch Breite und Durchschlagskraft, was aber neben dem Überraschungseffekt auch auf die Ferien zurückzuführen ist.
Das Mediengesetz aus der Ära Cristina Kirchners, eine der größten Errungenschaften für die Demokratisierung der Medienlandschaft, wird per Dekret von mehreren Seiten außer Kraft gesetzt; der Leiter der staatlichen Medienaufsichtsbehörde wurde mittels Polizeieinsatz aus seinem Büro geschafft, da er auf seinen bis Ende 2017 laufenden Vertrag pochend nicht weichen wollte.
Es scheint, als ob Macri und seine Berater nicht nur die Fibeln des Neoliberalismus studiert haben, sondern auch Machiavelli, der bekanntlich den an die Regierung gelangten Fürsten riet, mit den ärgsten Grausamkeiten bei den angestrebten Veränderungen möglichst früh und rücksichtslos zu beginnen.
Der Wahlerfolg eines liberal-konservativen Politikers in Argentinien kommt trotz des mit 51,4 Prozent knappen Sieges in mehrerer Hinsicht einer „politischen Revolution“ (Carlos H. Acuña) gleich. Es ist der erste einen Regierungswechsel auslösende Wahlsieg über eine Linksregierung in Lateinamerika seit 17 Jahren, als Hugo Chávez erstmals die Präsidentschaftswahlen gewann. Es ist zweitens in Argentinien erstmals ein Wahlsieg einer konservativen Partei (oder eines konservativen Parteienbündnisses) mit voller demokratischer Legitimation. Bislang konnten seit mehr als hundert Jahren die Konservativen in Argentinien nur mittels Militärdiktatur oder durch massiven Wahlbetrug (beziehungsweise Ausschluss der Peronististen vom Wahlprozess) an die Regierung gelangen.
Dieser Einschnitt, der sich in Zukunft möglicherweise als Wegmarke auch für Lateinamerika insgesamt erweisen könnte (Stichwort: Neue politische Rechte auf dem Subkontinent)[fn]Siehe hierzu zuletzt: José Natanson: Die neue Rechte in Lateinamerika, in: Le Monde diplomatique, dt. Ausgabe, Januar 2016, Seite 3[/fn], war im Vorfeld der Wahlen nicht scharf genug ins Blickfeld gerückt worden. Der Hinweis darauf, dass beide Hauptkandidaten, Daniel Scioli von der kirchneristischen Frente para la Victoria (Front für den Sieg) und Mauricio Macri vom konservativen Parteienbündnis Cambiemos (Lasst uns ändern), nicht nur aus demselben großbürgerlichen Milieu stammen, seit langer Zeit befreundet sind und beide primäre Aktivitäten im Bereich des Sports hinter sich gebracht hatten, sondern auch der Umstand, dass ihre programmatischen Äußerungen über ihre zukünftige Politik vage und relativ ähnlich schienen, hat den Blick für die auch symbolisch hohe Bedeutung dieses Wahlentscheids getrübt.
Denn trotz dieser Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild waren das Wählerklientel und somit die mit den Kandidaten verbundenen Erwartungen doch recht unterschiedlich. Während Scioli für die Fortsetzung des Projekts Kirchner stehen sollte (also einen sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus mit menschlichem Antlitz), war Macri klar als der Repräsentant dominanter bürgerlicher Kräfte aufgetreten, die für weitgehende freie Marktwirtschaft, die Nähe zu den USA, gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit und für Distanz zum Mercosur und den Linksregierungen in Lateinamerika eingetreten sind.
Gleichwohl verstand Macri, seinem Wahlkampf einen bunteren und modernen Event- und Partyanstrich zu verleihen; er war kaum auf die Vergangenheit gerichtet (Militärdiktatur und Menschenrechte waren kein Thema, ebenso wenig das neoliberale Desaster der 90er-Jahre), sondern auf eine glänzende Zukunft orientiert. So gelang es ihm wohl besser, eine gewisse Aufbruchstimmung, Optimismus und Vertrauen in eine neue Gestaltungskraft zu verbreiten, während der gelegentlich griesgrämig wirkende Scioli außer einem Weiter-so und Vielleicht-noch-besser wenig Zukunftsgewissheit auszustrahlen vermochte.
Gerade bezüglich der Unterschiede im Auftreten und der Inszenierungsvarianten konnte Macri bei der jungen Generation aus dem unteren und dem arrivierten Teil der Mittelschichten als der modernere und offenere Kandidat punkten. Die vor kurzer Zeit eingeführte zusätzliche Besteuerung unterer, lohnabhängiger Mittelschichtssegmente sowie die auch Kleinsparer aus den Mittelschichten besonders betreffenden Restriktionen beim Dollarerwerb in den letzten Jahren haben mit Sicherheit auch zur teilweisen Abwendung von Cristina Kirchner bzw. der FPV geführt. Schließlich hat offenbar der Hyperpersonalismus und der auf Dauerkonfrontation angelegte Politikstil der scheidenden Präsidentin selbst bei durch die Kirchnerregierung Begünstigten zunehmend eine Distanz zu ihr entstehen lassen.[fn]Siehe zu diesen und anderen erklärenden Momenten für das Wahldesaster der Kirchner-Peronisten die ausgezeichnete Analyse von Atilio Borón in der digitalen Zeitschrift: http://www.rebelion.org/noticia.php?id=207117&titular=el-poder-de-la-cr%EDtica-y-la-cr%EDtica-del-poder- vom 23.12.2015.[/fn]
Zudem hatte Scioli die volle Kritik an den negativen Seiten der Kirchner-Ära zu ertragen: prominente Korruptionsfälle, Nepotismus bei der Ämtervergabe, Manipulation statistischer Daten, gelegentlich ignorantes Auftreten höchster Amtsträger (zum Beispiel bei der Frage nach der Armutsquote im Land), zudem seit mehr als drei Jahren erheblich gewachsene ökonomische Probleme (Inflationstempo, Haushaltsdefizit, negative Handelsbilanzen und besorgniserregender Devisenschwund etc.). Gleichzeitig war Macri so geschickt, die Pluspunkte des Kirchnerismus nicht in Frage zu stellen (allgemeines Kindergeld, Re-Verstaatlichung der Alterssicherung, die Übernahme einiger Unternehmen unter staatlicher Kontrolle wie zum Beispiel die Fluglinie Aerolineas Argentinas, die nationale Erdölgesellschaft YFP, die deutliche Verbesserung der Bildungs- und Universitätssituation u.a.). Die geballte Medienmacht der Privatwirtschaft und die kirchnerkritischen Stimmen hochrangiger „westlicher Politiker“ sowie der entsprechenden Wirtschafts- und Finanzrepräsentanten nationaler und internationaler Couleur hatten ebenfalls ihre Wirkung.
Auch die nicht allzu große Begeisterung der links- und jungperonistischen Organisationen, sich für den schwachen und als opportunistisch eingeschätzten Multimillionär Scioli in die Bresche zu schlagen und größere Massenmobilisierungen zu organisieren, trug zum desaströsen Wahlausgang bei. Noch wenige Wochen vor dem ersten Wahlgang gingen viele Umfragen davon aus, dass Scioli über 40 Prozent und einen 10-Prozent-Vorsprung erreichen könnte (womit er gewählt gewesen wäre). Allerdings tat die scheidende Präsidentin alles, um Scioli als schwachen und ungeliebten Kandidaten erscheinen zu lassen. Die Spekulation, dass trotz alledem der Wahlsieg ein Spaziergang sein würde, resultierte aus notorischer Selbstüberschätzung und einer gewissen Scheuklappenmentalität (A. Borón). Der Kirchner-Kandidat für den Gouverneursposten für die Provinz Buenos Aires war sich so siegessicher, dass er von einer „bloßen Form- und Routinesache“ sprach. Die wahrscheinlich größte Überraschung war, dass diese jahrzehntelange Hochburg des Peronismus verloren ging.
Der Aufruf der „Linksfront der Arbeiter“, die bei der ersten Runde der Wahlen auf 3,3 Prozent Stimmen kamen, und der Spitzenkandidatin der Linksliberalen, die auf 2,2 Prozent kamen, für ein voto blanco (weißen Stimmzettel), um damit den Protest gegen beide Kandidaten auszudrücken und gleichzeitig eine neue Sammlungsbewegung der Linken anzustoßen, lief völlig ins Leere. Die ungültigen Stimmen kamen zusammen auf nur 2,4 Prozent in der Stichwahl und blieben damit weit hinter den Ergebnissen im ersten Wahlgang zurück. Damit wurde gleichzeitig der Sieg Macris erleichtert. Die Einschätzungen der Linken hatten sich offenbar ziemlich weit von den realen Stimmungen entfernt.
Inwieweit Macri seinen auf klaren Kurswechsel abstellenden Diskurs wirklich auch weiterhin einlösen kann, steht auf einem anderen Blatt. In der Abgeordnetenkammer hat der Kirchner-Block mit 114 Abgeordneten die einfache Mehrheit (nicht mehr, wie zuvor, die absolute). Das Rechts-Mitte-Bündnis des Präsidenten stellt 93 Abgeordnete. Im Senat verfügen die Kirchneristen mit 38 Sitzen sogar über die absolute Mehrheit.
Viel wird von den Entwicklungen innerhalb des Peronismus abhängen. Deutliche Wirkungen der Zersplitterung der Peronisten waren schon für den Wahlausgang entscheidend. Ohne die (mehr oder minder deutlichen) Wahlaufrufe von Rechtsperonisten für Macri (wie zum Beispiel von Sergio Massa, der im ersten Wahlgang über 20 Prozent der Stimmen erreichte, und des Gouverneurs der Provinz Córdoba José Manuel de la Sota) wäre es kaum zu diesem Ergebnis gekommen. Es bleibt abzuwarten, ob sich der tendenziell linksperonistische Kirchnerismus von dieser Schlappe erholen und seine frühere Mobilisierungskraft wieder gewinnen kann.
Wie immer sich realiter die Veränderungen in Argentinien ausprägen werden, eine klare Rechtswendung des Landes ist absehbar, und vom Wahlausgang geht ein deutliches Signal für ganz Lateinamerika aus. Dass und ob die anderen Linksregierungen aus den vielfältigen Defiziten ihrer Politik vorwärtsgewandte Schlussfolgerungen ziehen können, kann keineswegs als die wahrscheinlichste Fernwirkung dieses „politischen Erdbebens“ (The Wall Street Journal Europe 24. 11. 2015) im wichtigsten Land des Südkegels Lateinamerikas angenommen werden.