Herr Arce, Sie sind seit acht Jahren Wirtschaftsminister im Kabinett von Staatspräsident Evo Morales, wo sehen Sie die zentralen Erfolge dieser Regierungszeit?
Erstens denke ich, dass wir die ökonomische Souveränität zurückerlangt haben. Wir hängen von keiner internationalen Wirtschaftsorganisation, keiner externen Regierung ab, sondern definieren unsere Wirtschaftspolitik eigenständig. Zweitens haben wir eine soziale, produktive und kommunitäre Wirtschaftspolitik implementiert, die letztlich die Antithese des alten neoliberalen Wirtschaftsmodells ist. Heute planen wir Interventionen des Staates, wo früher das freie Spiel der Kräfte des Marktes galt. Die Lokomotive der Entwicklung in Bolivien ist heute der Staat und nicht die Privatwirtschaft, die es aber sehr wohl gibt. Es sind die öffentlichen Investitionen, die heute die zentrale Rolle spielen.
Was sind die Charakteristika des bolivianischen Modells?
Wir haben in Bolivien ein Modell geschaffen, das darauf abzielt, Wachstum zu generieren. Die Basis dafür liefern die Rohstoffvorkommen Boliviens, die wir erschließen. Dabei widerlegen wir aus meiner Perspektive auch die alte neoliberale These, dass rohstoffreiche Staaten diese nicht für die eigene Entwicklung einsetzen können. In Bolivien verteilt der Staat die Überschüsse. Wir haben ein Verteilungsmodell, das darauf abzielt, die Ungleichheiten in Bolivien abzubauen und die Armut zu eliminieren.
Dabei haben wir gute Resultate vorzuweisen, denn es herrscht Wachstum, obwohl die Preise für Mineralien oder auch für Energieträger fielen. So zum Beispiel 2008, als die Preise für Erdöl und Erdgas nachgaben und Boliviens Wirtschaft trotzdem wuchs, und zwar erstmals stärker als in allen Nachbarländern in der Region. 2011, 2012, 2013 waren schlechte Jahre für Bergbauprodukte und trotzdem wuchs unsere Wirtschaft. 2013 immerhin um 6,8 Prozent.
Unser Modell hängt also nicht allein von den Rohstoffpreisen ab, auch wenn uns die Neustrukturierung vieler Verträge Investitionskapital in die Hände gegeben hat, sondern auch von der Binnennachfrage. Es ist bemerkenswert, dass die Binnennachfrage soviel Dynamik entfaltet, dass eine Krise bei den Nachbarn, ob Kolumbien oder Brasilien, bei uns nicht mehr so stark ins Gewicht fällt. Es ist unser eigenes Entwicklungsmodell, das Resultate zeitigt und uns zuversichtlich in die Zukunft schauen lässt.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die nächsten fünf Jahre? Man kann ja davon ausgehen, dass die Regierung bei den Wahlen am 12. Oktober im Amt bestätigt wird, oder?
Ich denke, dass die bolivianische Bevölkerung unsere Arbeit schätzt und anerkennt und wir sie fortsetzen werden. Dabei verfolgen wir ein einfaches Ziel: die Konsolidierung unseres Industrialisierungsmodells. Da haben wir viel Geld investiert. Im September 2015 wird unsere Harnstofffabrik eingeweiht werden, wir planen, mittelfristig unsere eigenen Plastikprodukte auf Gasbasis zu produzieren, und wir wollen auch unsere Bergbauprodukte im Land weiterverarbeiten, veredeln und nicht mehr als Rohstoffe exportieren. Beginnen werden wir mit Zinn und in Karachipampa haben wir große Bleivorkommen. Schritt für Schritt werden wir die Industrialisierung unserer anderen Metalle beginnen. Das wird uns größere Einnahmen bescheren.
Allerdings gibt es durchaus auch Defizite. Ddie Straße von La Paz in die Sud Yungas ist immer noch nicht fertig. Ein Hindernis für den Transport von Kakao, Kaffee und Früchten aus der Region…
Aber wir asphaltieren doch dort die Strecke. Es ist ja nicht nur eine touristisch relevante Strecke, sondern auch eine produktive Region. Die soll besser angebunden werden und dort sollen produktive Projekte wie zum Beispiel Fruchtsaftfabriken entstehen. In der Vergangenheit hat es immer wieder Probleme mit dem Transport der Früchte gegeben, deshalb ist es besser, wenn die Fabriken zu den Früchten kommen…
Die Fabrik der Kakaobauern aus Sapecho steht aber in El Alto. Sie warten genauso wie die Kaffeebauern aus Caranavi auf bessere Transportbedingungen und die Unterschiede zwischen 2008 und 2014 sind marginal. Es ist eine sandige, in der Regenzeit schlammige Piste, die immer wieder von Gerölllawinen unpassierbar gemacht wird…
Aber noch einmal, es wird an der Straße doch gearbeitet…
Lassen Sie uns zum Teleférico kommen, der Seilbahn, die La Paz ein neues Gesicht gibt. Soll das Netz von derzeit drei Linien erweitert werden?
Ja, aber zu erst einmal haben wir die Firma aus Österreich unter Vertrag genommen, um die drei Basislinien in Betrieb zu nehmen, die rote Linie, die das Zentrum der Stadt mit El Alto verbindet, die gelbe, die weiter südlich verläuft und einen anderen Teil El Altos mit dem etwas weiter südlich gelegenen Zentrum verbindet, und die Grüne Linie, die den Süden La Paz’ mit dem Norden verbindet. Aber es gibt Pläne, weitere Stadtteile mit der Seilbahn zu erschließen: Villa Fatima, Chuco a Huilo, das ist der Norden der Stadt, von wo der Weg in die Yungas führt, aber auch die Strecke via Copacabana, San Antonio, Pampa Hascas, wo viele Menschen leben, die rund 40 bis 45 Minuten bis ins Zentrum brauchen. Mit dem Teleférico könnten es sieben Minuten werden. An diesen Projekten wird gearbeitet, es wird geplant und mit interessierten Unternehmen verhandelt und das gehört zu unseren Planungen für 2015-2020.
Kolumbien hat viel Erfahrung mit Seilbahnen gesammelt, sie erst bauen lassen, mittlerweile wird selbst gebaut. Wird Bolivien diesem Beispiel folgen?
Zuerst einmal müssen wir lernen, mit den Teleféricos umzugehen, und bis dahin werden diese Linien von internationalen Unternehmen gebaut werden müssen. Da sind wir nicht weit genug. Im Inneren des Landes gibt es weitere Ideen für Seilbahnprojekte, im Falle Oruros oder Potosís, aber da steckt auch ein touristischer Anreiz dahinter. In dieser ersten Etappe ziehen wir es vor, mit erfahrenen internationalen Unternehmen zu arbeiten wie Doppelmayr aus Österreich.
Bolivien wird in den Ausbau der Stromproduktion investieren. Welche Rolle spielen dabei alternative Energien?
Bolivien hat eine Strategie und es gibt eine Energiekrise in der Welt, denn der Erdölausstoß wird sinken, und auch bei den Nahrungsmitteln nimmt die Zahl der Krisen zu. Bolivien bereitet sich auf diese Krisen vor und wir wollen zu einem energetischen Zentrum für Lateinamerika werden. Wir haben Flüsse, Wasserfälle, wo weitere Wasserkraftwerke entstehen können, es gibt ein Windenergiepotenzial, wir haben geothermisch überaus attraktive Zonen. Zudem ist in vielen Landesteilen die Solarenergie eine vielversprechende Alternative und wir können mit den Lithiumbatterien, die wir entwickeln, auch Energie speichern.
Kurzum, wir können zu einem energetischen Player werden, denn Brasilien benötigt Energie, auch Argentinien und Chile sind auf der Suche nach Energiequellen und wir können liefern, denn schon heute produzieren wir mehr als wir verbrauchen. Wir haben derzeit eine Energiereserve von 39 Prozent der nationalen Produktion und wir haben gute Perspektiven, diese Energie zu exportieren, die Kabel zu installieren und Energie zu verkaufen. Wir sind im energiepolitischen Vergleich ein jungfräuliches Land und natürlich müssen wir investieren. Da kalkulieren wir mit Kosten von rund 2,8 Milliarden US-Dollar und dafür brauchen wir einen strategischen Partner, aber die Perspektiven sprechen für sich.
Allerdings gibt es auch Kritiker dieses Kurses, die befürchten, dass diese Projekte die Natur Boliviens aus dem Gleichgewicht bringen könnten?
Auch andere Länder haben das geschafft, ihre Investitionen zu kontrollieren, den Rahmen zu schaffen, und wir sind nicht die einzigen, die vor dieser Herausforderung stehen. Wir müssen die Auswirkungen auf die Natur regulieren, reduzieren, das ist Konsens. Die „Verteidigung der Mutter Erde“ ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik, wir wissen, dass das nicht zu 100 Prozent umsetzbar ist, aber wir wissen auch, dass wir da Verpflichtungen haben.
Gleichwohl wird auch Ihnen bescheinigt, eine konventionelle Wachstumspolitik zu verantworten, die wenig bis gar nichts mit dem Konzept des Buen Vivir zu tun habe. Wie denken Sie darüber?
Wenn Sie mit den Leuten des IWF sprechen, attestieren die uns das Gegenteil. Wenn Sie mit den Kritikern wie Rafael Puente sprechen, haben die mir noch nie einen Alternativvorschlag unterbreitet. Es handelt sich um einen Diskurs der Abgrenzung von der Regierungspolitik und nicht mehr. Das ist mir zu wenig. Da haben die Leute vom IWF mehr zu bieten, die klar fragen, wie wollen sie den Zinssatz kontrollieren, wie die Armutsquote reduzieren, wie die Bonos finanzieren.
Sie sollte man fragen, ob das, was wir hier machen, eine orthodoxe Politik ist oder nicht. Wir sind sicherlich keine neoliberale Regierung, sondern eine, die Konzepte hat und sie auch umsetzt.
Bolivien hat große Flächen Regenwald für die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Flächen freigegeben. Ein Widerspruch zum Diskurs der Regierung, der den Schutz der Mutter Erde vorsieht?
Das muss kein Widerspruch sein und es haben auch andere Länder gezeigt. Wir brauchen mehr Lebensmittel, wir können Aufforstungsmaßnahmen auch an anderen Orten vornehmen und so kompensieren. Das sind Prozesse, die auch in Bolivien vonstatten gehen können.
Allerdings gibt es auch Widerstände gegen die Erschließung von Regenwald. Das hat der Fall des Schutzgebietes Tipnis 2011 zeigt. Wie denken Sie über den Fall?
Wir bedauern, dass das Thema Tipnis derart politisiert wurde. Das Schutzgebiet war bis zu dem Zeitpunkt nahezu unbekannt, bis die Regierung eine Straße durch das Gebiet zu planen begann. Bis dahin lebten in der Region indigene Völker, um die sich kaum jemand gekümmert hatte. Die Leute lebten vom Fischfang, waren schlecht versorgt, weitgehend isoliert und daran wollten wir etwas ändern, denn schließlich liegt das Gebiet im Zentrum des Landes. Dieses Zentrum wollten wir mit anderen Regionen wie Alto Beni, Cochabamba und der zweitgrößten Stadt des Landes, Santa Cruz, verbinden.
Die Dimension, die Bedeutung dieser Straße für das Land hat damals kaum jemand begriffen und unstrittig ist, dass die Leute in der Region längst selbst mit dem Straßenbau begonnen und Verbindungen geschaffen hatten. Was fehlte, waren gerade noch 20 oder 25 Kilometer, um die beiden Teilstücke zusammenzubringen. Den Rest hatten die indigenen Gemeinden bereits gebaut, denn die Straße ist eine Notwendigkeit gewesen, und deshalb haben wir sie geplant. Diese Gemeinden brauchen diese Straße, um ihre Lebensbedingungen auch zu verbessern.
Und warum kam es zum Konflikt?
Weil es dort viele Interessen gab, zum Beispiel kleine Unternehmen, die Edelhölzer im Verborgenen exportierten – illegal. Dafür waren auch viele indigene Wortführer verantwortlich, die an den Märschen für das Reservat und gegen die Straße teilnahmen, aber nur, um ihr Treiben zu verschleiern.