Ein argentinischer Roman

Der Bildband „D10S – Maradona. Ein Leben zwischen Himmel und Hölle“

Bisher war es vor allem ein Dokumentarfilm aus dem Jahre 2019 von Asif Kapadia mit dem schlichten Namen „Diego Maradona“, der auf einzigartige Weise genau das in Bilder packt, was die einzige Autorin des besprochenen Bandes, Mara Pfeiffer, einfordert. Sie fände es nämlich mutlos, den Mythos des Fußballers zu beschreiben, „ohne Raum zu schaffen für die Konflikte des Menschen“. Darin stecke „die Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen, ob und warum wir eigentlich Helden brauchen – und was wir jenen antun, die wir mit diesem Stempel versehen“. Kapadia schnitt bisher unveröffentlichtes Bildmaterial aus Maradonas Zeit in Neapel zusammen, dem fußballerischen Höhepunkt des grandiosen Sportlers, gleichzeitig einer Zeit des exzessiven Kokainkonsums, der Nähe zur Camorra und der Beginn seines sich über Jahrzehnte hinziehenden Abstiegs.

Diese Periode beschreibt auch Oliver Birkner in seinem Beitrag „Wie der Goldjunge Neapel zur Explosion brachte“. Die beigefügten Fotos von Graffiti zeugen bis heute von dieser Begeisterung der Stadt im Süden Italiens, die 1987 mit und wegen Diego Maradona erstmals die italienische Meisterschaft gewann und es damit den reichen Clubs aus dem Norden mal so richtig zeigte.

Auch wenn Arnd Zeigler im Buch James Dean und Elvis Presley als Vergleichsgrößen bemüht, der Rezensent hält es eher mit dem im Band zitierten Soziologen Pablo Alabarces: „Maradona ist die Evita der 1990er-Jahre. Einer der geliebten Proleten, ein Habenichts in Versace.“ Tomás Eloy Martínez, der argentinische Schriftsteller, schrieb in den 1990er-Jahren einen großartigen Roman über Eva Perón, „Santa Evita“. Ein Roman, der die ganze Verrücktheit der argentinischen Gesellschaft, ihre Leidenschaft und ihre Verirrungen illustriert, in dem er nicht nur vom Leben und Sterben von Eva Perón erzählt, sondern auch die spätere Odyssee ihres Leichnams und ihr Weiterleben als Legende.
Eva Perón und Diego Maradona verbindet eine fundamentale politische Überzeugung: „Die Armen gegen alle zu verteidigen, die sie zu beleidigen wagen.“ War Santa Evita nur eine Heilige, handelt es sich bei Diego Maradona um nichts weniger als den Gott (DIOS bzw. D10S in Anspielung auf die Rückennummer 10, die er als Spieler trug), von dem wir ohne Zweifel noch viele unglaubliche Geschichten lesen werden. Man wünschte sich von dem inzwischen verstorbenen Eloy Martínez einen Roman über Diego Maradona.

An derart hohen Maßstäben darf man den dankenswert schnell produzierten und reich bebilderten Band von Grüne & Schulze-Marmeling zwar nicht messen. Aber Dietrich Schulze-Marmeling, der wohl wichtigste linke deutsche Fußballkritiker, und andere Experten plus Mara Pfeiffer haben es geschafft, in kurzen sachlichen Kapiteln die wesentlichen Stationen und Aspekte von Maradonas Leben aufzuzeigen. Auch argentinische Stimmen wie der Illustrator Diegolan (Diego Lankes) sowie Diegos Mannschaftskamerad, der spätere Publizist Jorge Valdano, kommen zu Wort.

Das Buch fragt auch, etwa bei Rudi Völler, nach, ob Maradona wirklich der Jahrhundertfußballer war, ob er der Beste war, ob er oder Pelé diesen Status verdienen. Aber diese zweifelsohne wichtige Frage, die man mit dem Selbststudium der unzähligen YouTube-Videos mit seinen Tricks, aber auch den unglaublich brutalen Fouls an ihm verbinden kann, verblassen hinter der Frage, was eigentlich das Phänomen Diego Maradona und seine Faszination für die ganze Welt, vor allem aber für die argentinische Gesellschaft, ausmachte.

Gert Eisenbürger fragt, ob Diego Maradona ein Linker war. Für diejenigen, die sich nicht so gut auskennen, ist Eisenbürgers Beitrag mit großen Fotos der Begegnungen Maradonas mit Fidel Castro, Hugo Chávez sowie dem Fußballer und Präsidenten Evo Morales bebildert. Eisenbürgers Antwort auf die eingangs gestellte Frage könnte man lapidar so zusammenfassen: Maradona war so links wie es eben Peronisten in Argentinien sein können. Zu Recht hebt Eisenbürger die Sensibilität Maradonas für die sozialen Verhältnisse, das typische argentinische Aufbegehren gegen die Mächtigen und die Tatsache hervor, dass Diego Maradona, „einfach nur nie vergessen [hat], wo er herkam“.

Damit ist auch neben der fußballerischen Kunst und seiner Genialität einer der Gründe benannt, warum so viele Menschen in Argentinien und Neapel sowie der ganzen Welt ihn derart verehrten: Er lebte uns vor, wie man – von ganz unten kommend – nicht nur seinen eigenen, sondern, stellvertretend für uns alle, den Traum eines schönen und zugleich gerechten Lebens leben und dabei scheitern kann – ohne dabei diesen Traum zu diskreditieren.