Ein bisschen Frieden

Ein Zug aus Eis und Feuer. Mit Mano Negra durch Kolumbien

Am Anfang stand ein irrsinniger Traum. „Letztes Jahr bin ich viel in Kolumbien herumgefahren. Überall sah ich Schienen, aber nirgends Züge. Hunderte von Dörfern, in denen die Züge vorher Halt gemacht hatten, waren seitdem abgeschnitten und wurden gleichzeitig von der Armee, den Drogenhändlern und der Guerilla erpresst. Ich dachte, man müsste etwas tun“, erzählt der französische Straßenkünstler Coco. So entsteht die Idee, mit einem aus Schrott zusammengebastelten Zug durch die kolumbianische Provinz zu reisen und in leerstehenden Bahnhöfen Shows zu veranstalten.

„Damit von etwas anderem als dem Terror in Kolumbien gesprochen wird, habe ich mir diesen Zug als Bühne vorgestellt, auf der sich die Erzfeinde Feuer und Eis versöhnen.“ Zugpferd dieses Wanderzirkusses ist die Band, die als Begründerin des Mestizo-sounds bezeichnet werden kann: Mano Negra. Die gibt’s zwar schon lange nicht mehr, aber das Ganze hat sich ja auch 1993 zugetragen. Nun ist die deutsche Übersetzung des Reisetagebuchs erschienen. Chronist ist Ramón Chao, Vater des heutigen Superstars Manu Chao. Der Sohn stellt dem Vater am Anfang der sechswöchigen Reise einige Bedingungen. Er will auf keinen Fall im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Außerdem: „Dein Text muss für alle verständlich sein. Du darfst nicht zu viele literarische Anspielungen machen.“ Letzteres kann sich der Autor zwar nicht verkneifen – wir begegnen vor allem den Personen aus 100 Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez – im Übrigen berichtet Ramón Chao ganz uneitel und symphatisch selbstironisch von der über 1000 Kilometer langen Reise durch Kolumbiens gefährlichste Gebiete.

Am Anfang stand auch die Angst: Werden die bewaffneten Akteure die tätowierten Hippies überall durchfahren und auftreten lassen? Doch der Glaube an ihren friedlichen, und wie die KünstlerInnen selber sagen „unpolitischen“ Traum obsiegt, denn: „Was für eine Publicity kann das für eine Befreiungsbewegung sein, wenn sie auf Clowns schießt?“ Sie sind Träumer und weit davon entfernt, als „Kulturbotschafter“ vereinnahmt zu werden. Für alle Beteiligten steht die Begegnung mit der Bevölkerung in den abgeschiedensten Gegenden Kolumbiens an erster Stelle. Manch „Wahnsinnsempfang“ lässt über die Strapazen der Reise – fehlende Verpflegung, Wasserknappheit, Krankheiten und prekäre Finanzlage des Projekts – hinweg sehen: „Man empfängt uns mit Schreien, Knallfröschen und Glockengeläut. Eine Vallenato-Band leiert näselnden Singsang herunter. Ein Kinderchor fängt an, die Marseillaise zu singen – auf französisch.“ 

Die Shows, eine Mischung aus Jahrmarkt und Konzert, verlaufen zunächst etwas chaotisch, doch das Publikum ist höchst zufrieden, für sie zählt etwas anderes als technische Perfektion: „Das ist das erste Mal, sagt uns der Bahnhofsvorsteher, dass sich so viele verschiedene Leute auf diesem Platz versammeln, ohne dass es Tote gibt.“ Der Zug wird zum Symbol: „Er bringt ihnen einen Grund zu feiern, ein bisschen Freude und Frieden, etwas, das in den Gebieten fehlt, durch die wir fahren.“ 

Auf halber Strecke droht das Projekt aufgrund von internen Streitigkeiten zusammenzubrechen. Immerhin hat die bunte Truppe keinen Chef, aber Kollektivität ist nicht jedermanns Ding und muss erst mühsam erprobt werden. „Jeder von euch ist klasse, aber zusammen seid ihr beschissen“, stöhnt Tourmanagerin Cati auf einer der Krisensitzungen. Zum Glück kann das Steuer noch einmal rumgerissen werden, nicht zuletzt dank der Intervention der kolumbianischen Eisenbahnarbeiter, die den Zug begleiten. „Vom Süden lernen“ könnte die Überschrift dieser Tagebucheintragung lauten. 

Im Verlauf des Berichts lernen wir eine Menge über das kolumbianische Bahnwesen, bekommen Unterricht in Musik-, Kolonial- und Regionalgeschichte, erfahren interessante Details über Naturkatastrophen, den Zweiparteienstaat, Bestattungskultur, Landverteilung, autochthone Heilmethoden, die mittelalterliche Unterwelt von Bogotá, Drogenkartelle etc. und natürlich immer wieder Informationen über den Bürgerkrieg und die bewaffneten Akteure. Ramón Chao flicht Wissenshäppchen in Form von Exkursen, Anekdoten und Witzen ein. Der Mann war mal beim Radio, oh ja. Mit der eigenen Position hält er nicht hinterm Berg, Chao kommentiert die grausamsten und absurdesten Begebenheiten mit lakonischem Humor und empathischer Ironie.

Die Dynamik des Ganzen ist am Anfang noch etwas träge und verwirrend zugleich. Da spiegelt der Reisebericht vielleicht das Geschehen direkt wider, der Lesbarkeit ist damit jedoch nicht gedient. Die vielen Namen der Beteiligten – zu Beginn der Reise immerhin 99 Personen – führen dazu, dass man wie bei García Márquez gut aufpassen und am Ball bleiben muss.

Doch spätestens nachdem die eigentliche Tour von der kolumbianischen Karibikküste aus beginnt, ist auch der Erzählfluss ins Rollen gekommen. Eine herzerwärmende Anekdote löst die andere ab. Für Fans von Mano Negra mag die Lektüre vielleicht insofern enttäuschend sein, da sowohl Manu Chao als auch seine Ex-Band nur als Teil des kollektiven Experiments auftauchen. Dafür lernen sie aber eine Menge über Kolumbien, dieses brutal schöne Land. Und für Kolumbienfans bietet das Reisetagebuch eine mal ganz andere Annäherung an die komplexe Wirklichkeit der Region. Ein ideales Geburtstagsgeschenk für Fans. Oder ein Sommergeschenk für sich selbst, für Strand oder Baggersee, wo sich Hitze und Eis ein Stelldichein geben. 

Ramón Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer. Mit Mano Negra durch Kolumbien, Edition Nautilus 2008, 219 S., 14,90 Euro