Sechs Jahre sind es nun her, dass in Bolivien eine neue Regierung gewählt wurde und 13 Jahre seit dem Wasserkrieg um 2000. Seither ist es in dem Land zu einigen radikalen Änderungen gekommen, und diese Änderungen werden natürlich journalistisch und wissenschaftlich begleitet. Schlägt man die wissenschaftlichen Artikel zu Bolivien nach, so kann man sehen, dass international sehr viel publiziert wird, aber ein Großteil von Autoren aus dem Norden. Die Deutung der Ereignisse bleibt somit wieder einmal denjenigen vorbehalten, die den einfachsten Zugang zu den großen wissenschaftlichen Zeitschriften haben und deren Stimmen strukturell am lautesten sind, weil sie auf Englisch publizieren oder einer renommierten Uni angehören.
Nun ist die Postkoloniale Kritik an den Strukturen der Wissenschaft nicht ganz neu, und von kritischen Personen wird viel Aufwand betrieben, auch Stimmen aus Lateinamerika in den Diskurs einzubringen. In diesem Zusammenhang ist auch der Sammelband „Plurinationale Demokratie in Bolivien. Gesellschaftliche und staatliche Transformationen“ zu sehen. Ulrich Brand, Isabella Radhuber und Almut Schilling-Vacaflor fungieren als Herausgeber und haben viele verschiedene Sichten (die meisten Beiträge stammen aus Lateinamerika) auf den Transformationsprozess in Bolivien zusammengetragen – und ins Deutsche übersetzt. Dadurch ist es auch für Menschen ohne Spanischkenntnisse möglich, die Diskurse der bolivianischen wissenschaftlichen Debatte zu verfolgen. Dort haben viele Intellektuelle den aktuellen Veränderungsprozess in Bolivien von Anfang an kritisch-solidarisch begleitet. So gab es etwa die akademische Gruppe La Comuna, deren prominentestes Mitglied der heutige Vizepräsident Alvaro García Linera ist. Neben Linera kommen auch seine früheren Mitstreiter in diesem Buch zu Wort, wie Raúl Prada, der auch für die MAS der verfassunggebenden Versammlung angehörte, oder Oscar Vega und Luis Tapia.
Der Sammelband deckt dabei eine Themenbreite ab, die neben historischen Aufsätzen über die Ursachen heutiger Konflikte, ökonomische Analysen, auch feministische und postkoloniale Kritiken beinhaltet. Einige Artikel bieten grundlegende Einführung, etwa in die Geschichte der Aufstände der sozialen Bewegungen oder über die strukturellen Eigenschaften der bolivianische Ökonomie; andere Artikel legen den Fokus auf bestimmte Teilaspekte und schaffen es, beliebte Vorurteile zu widerlegen. So macht Alison Spedding Pallet in ihrem sehr umfangreichen Artikel „Der Fünfte Horizont. Perspektiven und Kontinuitäten bolivianischer Geschichtsschreibung und das Fehlen einer feministischen Perspektive“ nicht davor halt, auch indigene Ansichten einer fundamentalen Kritik zu unterziehen. Die sonst gerne gelobte indigene Tradition der gemeinsamen Amtsausübung von Mann und Frau, genannt Chachawarmi, empfindet sie als Produkt „kolonialer Prägung“, da Frauen in der Aufteilung nur im Hintergrund politischen Einfluss nehmen können.
Ähnlich interessant ist die historische Analyse des bolivianischen Haushalts von Rossana Barragán und José Peres Cajías mit dem Titel „Achsen der hegemonialen Herrschaft: Budgetpolitik in Bolivien von 1825 bis 1952 und die Beziehung zwischen Zentralstaat und Regionen“. Die Autoren zeichnen nach, welche der bolivianischen Departements (Bundesstaaten) welche finanziellen Überweisungen erhalten haben. Damals waren vor allem die Tributzahlungen der indigenen Bevölkerung die Einnahmequelle des bolivianischen Staates. Da diese vor allem im bevölkerungsreichen Westen erfolgten, nahmen diese Departements am meisten ein, und ein Großteil der Einnahmen wurde an den Osten weitergeleitet. So verfügte La Paz im Jahr 1883 zwar über 30 Prozent der Bevölkerung, aber nur über 12 Prozent des Budgets.
Dies änderte sich mit der Entdeckung von Erdgas in den östlichen Departements. Seiner strategischen Bedeutung bewusst investierte der bolivianische Zentralstaat in großem Maße in Santa Cruz. So floss zunächst auch ein Teil der Einnahmen aus dem Erdgas an die Departements selber. (Anders als bei den Bergbaueinnahmen, die immer wie nationale Einnahmen behandelt wurden.) Daher schlussfolgern die Autoren: „Wenn es also eine Politik gab, die Kontinuität im Laufe der Zeit aufwies, und zwar über diverse ideologische Regime und Regierungen hinweg, dann war es jene, die einen konstanten Investitions- und Kapitalfluss nach Santa Cruz gestattete.“ Dieses Ergebnis ist so wichtig, da es den Mythos des „reichen Ostens gegen den armen Westen“ widerlegt, der so gerne von den separatistischen Eliten in Santa Cruz gepflegt wird.
Leider würde es den Rahmen dieser Besprechung überschreiten, weitere Beiträge ausführlich darzustellen. Hervorheben möchte ich aber noch Oscar Vegas Reflexionen über kritische Theorie als Praxis, der mir persönlich besonders gefallen hat.
Als einziger Kritikpunkt an dem Buch soll angemerkt werden, dass viele der Texte etwas älter sind. So sind die neuen Ereignisse (vor allem zum Straßenbauprojekt durch den TIPNIS-Naturpark und dem Bruch zwischen dem Vizepräsidenten und seinen ehemaligen akademischen Mitstreitern) noch nicht in die Analysen eingeflossen, was schade ist, da gerade hier eine akademische Auseinandersetzung (auf Deutsch) noch fehlt. Dass die Texte teilweise älter sind, liegt sicherlich auch an den großen Hürden, die die Veröffentlichung eines solchen Buches mit sich bringt. Umso schöner, dass nun auch auf Deutsch ein bolivianischer Blick auf Bolivien erhältlich ist.
Ulrich Brand, Isabella Radhuber, Almut Schilling Vacaflor (Hrsg.): Plurinationale Demokratie in Bolivien: Gesellschaftliche und staatliche Transformationen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2012, 388 Seiten, 34,90 Euro