Kardinal Lorscheider ist in Lateinamerika zu einer Symbolfigur geworden für ein neues Verständnis von Kirche und kirchlichem Amt. Er hat am II. Vatikanischen Konzil (11.10.1962 – 08.12.1965) und allen nachfolgenden Bischofssynoden teilgenommen. Er war sogar ernsthafter Papstkandidat (1978, als Karol Woytila gewählt wurde – die Red.). Als langjähriger Präsident der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) und des lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) hat er große Verdienste erworben um die Umsetzung des Konzils in die Ortskirche Lateinamerikas. Beobachter schreiben es vor allem seiner herausragenden Autorität und theologischen Kompetenz zu, dass die Dritte Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Puebla (1979) die in Medellín (1968) begonnene „befreiende Evangelisierung“ und „vorrangige Entscheidung für die Armen“ bestätigt und vertieft hat. Er war ein souveräner Theologe, ein von den Armen inspirierter, geduldiger Pastor, ein unerschrockener Prophet, wenn es um die Rechte und Würde der Menschen ging, aber er war vor allem ein authentischer Franziskaner, der sich immer am Beispiel des Franz von Assisi orientierte.
Es war der arme Jesus, der sich seiner Gottheit „entäußerte“, der das Leben des Poverello von Assisi bestimmte. „Entäußerung“ nach dem Vorbild Jesu ist auch für Lorscheider ein Schlüsselwort. Dies geschieht im Zuhören und im „Wechsel des sozialen Standortes“. „Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, mit welchen Leuten Jesus zusammen war“, sagte er immer wieder. „Die Armen haben mich bekehrt“, bekennt er freimütig. Sie haben mein Verhalten als Bischof und Theologe verändert. So konnte er z.B. einen ganzen Tag lang in einer Basisgemeinde nur dabei sein und zuhören, ohne sich einmal zu Wort zu melden. Das Glaubensgespür der Armen nennt er eine „Quelle der Wahrheit“. „Wenn ich wissen will, was Gott von mir erwartet und mir sagen will, ist es wichtiger, einen Tag beim armen Volk zu sein und zuzuhören, als den Denzinger (das Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen) zu lesen.“ Dem großen Bischof und Theologen Lorscheider war alles Abgehobene zutiefst zuwider. Und wenn sein Amtskollege Dom Pedro Casadaliga von ihm als „Patriarch von Amerika“ und „neuem Kirchenvater“ spricht, sah er sich selbst einfach nur als „Bruder der Armen“.
Dass das kein taktisches Spiel war, sondern tiefe Überzeugung und Lebenshaltung, zeigte Dom Aloisio nach seiner Emeritierung als Bischof von Aparecida. Er kehrte zurück in seine Provinz in Porto Alegre und wohnte fortan im dortigen Provinzialat, in einem einfachen Zimmer, ohne alle Privilegien. Er integrierte sich voll in die Gemeinschaft der Brüder, ließ sich vom Guardián für seelsorgliche Dienste einteilen und übernahm auch die Wochendienste in der Hauskapelle und beim Chorgebet. Was wäre, wenn sich ein solches Amtsverständnis überall herumsprechen würde in der Kirche und wenn zumindest wir Franziskaner und Franziskanerinnen das im Jubiläumsjahr (2008 feiert die franziskanische Familie das Geburtsjahr des franziskanischen Charismas vor 800 Jahren) wieder verinnerlichen würden? Mir scheint, dass wir dann keine Sorge mehr haben müssten um die Akzeptanz der befreienden Botschaft des Jesus von Nazareth.