Gustavo, eine Anstellung an der Universität hat dich kurzzeitig in eine Gegend geführt, die Menschen aus mehreren Welten zusammenbringt. Wie war es, als du ankamst: hattest du den Eindruck, dich in einem Land zu befinden oder gleich in mehreren?
Die so genannte Triple Frontera, das Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, ist ein Raum, in dem Menschen aus verschiedenen soziokulturellen Welten und Zusammenhängen leben. Wie heutzutage in jeder Stadt haben die Bewohner*innen ihre kulturellen Wurzeln nicht nur im Umland und den Nachbarländern, sondern auch in weit entfernten und sehr verschiedenen Regionen. In Foz do Iguazú existiert beispielsweise eine starke arabisch-palästinensische Gemeinde, wie auch eine italienische und eine deutsche. Mein erster Eindruck in Foz do Iguaçu, wo die Universität für die lateinamerikanische Integration UNILA angesiedelt ist, war, mich in einer Stadt zu befinden, die versucht, sich über ein Projekt der höheren Bildung – besagte Universität – ein Profil als zweisprachiger, bikultureller und internationaler Raum zu geben. Und die vor allem interkulturell sein will.
Hattest du tatsächlich den Eindruck, auf ein Amalgam von Kulturen zu treffen, oder eher auf Kulturen, die getrennt in den jeweiligen Gemeinschaften existierten?
Ich fand, dass wegen der besonderen sozialen Dynamiken in Lateinamerika – die Foz do Iguaçu natürlich nicht verschont lassen – die größten Barrieren sozialer und nicht kultureller Natur waren. Mit sozial meine ich soziale Klasse, wegen der Armut. Abgesehen von der Anwesenheit von indigenen Gruppen in der Stadt, konnte ich keine ethnischen Ghettos erkennen. Was spezifisch den kulturellen Bereich angeht, war mein Eindruck eher, mich in einer Stadt zu befinden, wo Kulturen existieren, die relativ reibungslos interagieren, wo aber dennoch die nationale Kultur Brasiliens Vorrangstellung hat.
Auf welche Weise kam das vor, was man unter „Tradition“ versteht? Hatte jede*r die jeweils eigene? Gab es neu entstandene oder entstehende Sitten und Gebräuche?
Wie in jeder Stadt passt jede Gruppe die eigene Tradition den besonderen Bedingungen sowie der Beziehung mit der jeweiligen Gegenwart (die multikulturell ist) und der Vergangenheit (die vermutlich monokulturell war) an. In diesem Sinne findet sich ein klares Beispiel für Kultur in ständiger Bewegung im linguistischen Verhalten. Das so genannte Portuñol – die Mischung aus Portugiesisch und Spanisch – ist im Alltag der Stadt Foz do Iguaçu gang und gäbe.
Ich fand es sehr auffällig, dass vor allem an der Grenze zu Argentinien Angehörige der Guaraní-Ethnie sehr sichtbar im Elend lebten. Sie trugen weiterhin die Kleidung, die sie zuvor in einer Urwaldumgebung getragen hatten und sprachen weiterhin ihr Guaraní, das anders ist als das offizielle Guaraní, die zweite Amtssprache Paraguays. Auch wenn sie in der Stadt arbeiteten, um Geld zu verdienen, lebten sie weit draußen,
Gab es deines Erachtens eine Art Hierarchie zwischen den Herkunftsländern? Wurden bestimmte Arbeiten hauptsächlich von den Angehörigen wiederum bestimmter Nationalitäten gemacht?
Hier ist interessant zu erwähnen, dass das Bildungsprojekt der Universität für die lateinamerikanische Integration UNILA gerade auf das Bestreben zurückgeht, die nationalen Hierarchien abzuschaffen. Das heißt, es geht um die Konstruktion einer spezifisch lateinamerikanischen Staatsbürgerschaft, in der unter gleichen Bedingungen alle nationalen und kulturellen Eigenheiten des Subkontinents zusammenfließen können. So bestand etwa der Lehrkörper aus Dozent*innen, die aus den verschiedenen Ländern der Region stammten (hauptsächlich Argentinien, Peru, Bolivien und Kolumbien), während die Studierenden wortwörtlich aus allen Ländern Lateinamerikas kamen (von Mexiko bis Patagonien).
Mochten die Bewohner*innen aus deiner Sicht den Ort? Oder hattest du das Gefühl, sie wollten lieber so schnell wie möglich wieder weg?
Es kam mir so vor, als seien die Leute in dieser Stadt seit vielen Jahrzehnten an dieses „Grenzgefühl“ gewöhnt. Deswegen spürte ich in Foz do Iguaçu vor allem dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Grenzgemeinschaft.
Zurück zur Sprache. In Foz do Iguaçu existieren mindestens zwei Hauptsprachen, dazu das Guaraní, das in Paraguay sehr viel gesprochen wird und zweite Landessprache ist. Entsteht daraus nicht so etwas wie eine neue Sprache aus allen drei Elementen?
Die multikulturelle Wirklichkeit dieser Stadt drückt sich klar im linguistischen Phänomen des „portuñol“ aus. In der Praxis entsteht eine neue Sprache, die sich ebenso aus dem Spanischen wie aus dem Portugiesischen speist. Der Einfluss des Guaraní ist auf der brasilianischen Seite minimal, aber es gibt ihn im „portuñol“.
Wie sieht es beim Essen aus? Merkt man eine Vermischung der Arten, Speisen zuzubereiten und zu essen? Oder essen die Leute sehr Unterschiedliches je nach Herkunft?
Natürlich drücken sich in der Gastronomie die unterschiedlichen kulturellen und Umwelteinflüsse aus. Im Fall von Foz do Iguaçu sah ich allerdings, dass alle dort vertretenen Kulturen einem gemeinsamen Muster folgen, das sich aus den wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Aktivitäten dort erklärt, Gegrilltes, das in Argentinien/Brasilien Parrilla oder Churasco heißt, sowie Bananen, Yucca und Bohnen.
Findest du, dass die Stadtverwaltung adäquat auf die Anwesenheit so vieler „Fremder“ reagiert? Verfolgt sie eine aktive Politik des Zusammenlebens? Oder ist sie einer nationalen Gruppe zu Diensten und gegen die anderen? Spürt man eine erhöhte Präsenz der Sicherheitskräfte, die etwa mit einer vermeintlichen „Gefahr“, die von Migrant*innen ausginge, gerechtfertigt wird, oder nicht?
2012, als ich eine Zeit vor Ort verbrachte, gab es keine größeren „transnationalen“ Spannungen, wie sie heute zu beobachten sind, vor allem aufgrund massiver Migrationsbewegungen venezolanischer Bürger*innen in Richtung der angrenzenden Länder in Lateinamerika. Mein Eindruck ist, dass das wichtige – und bis zu einem gewissen Maß „dominante“ – Projekt der zweisprachigen und interkulturellen Universität das Projekt des Zusammenlebens in einer Grenzstadt positiv verändert. Nur die Zeit wird zeigen, ob das Projekt der Universität – nämlich interkulturell zu sein – die aktuellen, die Nationalismen bestärkenden Tendenzen wirksam verhindern kann, welche ja auch im Rahmen der Globalisierung immer mehr in den Vordergrund treten.
Wie sind Bildung und Erziehung insgesamt organisiert? Ist das Ziel, eine „neue Gesellschaft“ zu schaffen? Oder spielt diese Idee nur auf die Universität beschränkt eine Rolle?
Das Projekt der UNILA zielt tatsächlich auf die Schaffung einer „neuen Gesellschaft“. Meines Erachtens ist es in Lateinamerika beispiellos. Es ist ein Projekt im Aufbau, im Werden, und es ist einzigartig im Vergleich etwa mit europäischen Erfahrungen – ich denke an Erasmus oder an den Akademikeraustausch, wo auch eine „europäische Staatsbürgerschaft“ entwickelt werden soll. Die UNILA, die am Ende des ersten Mandats von Lula ins Leben gerufen wurde, will gerade entsprechend eine lateinamerikanische Staatsbürgerschaft. Das Neuartige dieses Falles ist allerdings der „interkulturelle“ Aspekt von UNILA.
Was ist dir in diesem Zusammenhang am meisten aufgefallen?
Wie von Seiten diverser Dozent*innen und Studierender angemerkt wurde, ist die UNILA zweisprachig – bilingual, aber sie müsste tatsächlich vielsprachig – plurilingual – sein. Es ist eine Universität, aber wie schon Catherine Walsh gesagt hat, müssten wir aufhören, sie als „Uni“versität zu bezeichnen, und anfangen, sie „Pluri“versität zu nennen. „Pluriversitäten“ oder „Interversitäten“ wären demzufolge Räume des politischen und epistemischen Aufstands, auf der Grundlage einer Daseinserfahrung, die dekoloniale Horizonte öffnet. Hier läge der Ausgangspunkt für eine pädagogische Praxis der Begleitung und des Engagements zugunsten eines Brückenbaus, bei dem es um ganz andere Brücken geht als die, die lediglich den Warenhandel erleichtern (und in geringerem Ausmaß auch den Menschenhandel).