Die Koordination hat die Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca und Chiapas besucht. Warum gerade diese drei?
Aus mehreren Gründen. In diesen drei Bundesstaaten arbeiten wir seit längerem mit Partnerorganisationen zusammen und haben dort gute Kontakte. Außerdem sind unsere aktuellen Arbeitsschwerpunkte auf die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Umweltrechte (WSKA-Rechte) als Bestandteil der Menschenrechte sowie die Zusammenarbeit mit indigener Bevölkerung ausgerichtet. In Guerrero, Oaxaca und Chiapas ist der Anteil der indigenen Bevölkerung besonders hoch, und es gibt dort viele symptomatische Fälle, die mit der Verletzung der WSKA-Rechte zu tun haben. Obwohl die Menschenrechtskoordination mit acht Personen noch nie so eine große Delegation wie dieses Mal nach Mexiko geschickt hat, wäre es schwer gewesen, das ganze Land abzudecken.
Könnt ihr konkrete Fälle nennen, die ihr gesehen habt?
Wir können einmal einen positiven Fall an den Anfang stellen und die Gemeinde Mini Numa im Bundesstaat Guerrero erwähnen. Die Gemeinde liegt im Landkreis Metlatónoc, lange Zeit als ärmster Landkreis ganz Mexikos bekannt. Die Bevölkerung gehört dort überwiegend zur Ethnie der Mixtecas. Die Menschen aus Mini Numa hatten früher einen Fußweg von 90 Minuten bis zur nächsten kleinen Kreisklinik zurückzulegen. Dort gab es dann oft weder Medizin noch einen Arzt, stattdessen stundenlanges vergebliches Warten vor geschlossenen Türen. Eine Durchfallerkrankung wurde so mehrfach für die Bewohner zu einem Todesurteil. In Mini Numa beschlossen die Menschen im Jahr 2007 auf Eigeninitiative, vor der mexikanischen Justiz gegenüber der Regierung ihr Recht auf Gesundheit und Leben einzuklagen. Später begleitete sie das in der Region wichtige Menschenrechtszentrum Tlachinolan, mit dem unsere Koordination seit Jahren zusammenarbeitet. Ein Richter gab den KlägerInnen recht. Der Fall erregte landesweit Aufsehen. Tatsächlich hat Mini Numa heute einen eigenen, gut eingerichteten Gesundheitsposten. Mehrmals in der Woche kommt ein Arzt aus Acapulco. Insofern ist Mini Numa beispielhaft: für die Durchsetzung eines Rechtes, aber auch für die prekäre Gesundheitssituation in großen Teilen Mexikos.
Einen anderen Besuch in Guerrero machten wir bei der Organisation des Indigenen Volkes Me Phaa (OPIM). Die OPIM setzt sich seit Jahren für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Gemeinden ein. Besonders seit sie die Vergewaltigung von zwei Me Phaa-Frauen im Jahr 2002 durch Soldaten und den noch länger zurück liegenden Fall der Zwangssterilisierung von 14 Männern aus dem Dorf El Camalote offensiv an die Öffentlichkeit gebracht haben, sehen sich die OPIM-Mitglieder ständigen Attacken, Drohungen und offenbar willkürlich ausgestellten Haftbefehlen ausgesetzt. So wurden fünf männliche OPIM-Mitglieder im April 2008 unter Mordanklage verhaftet. Während des zweitägigen Aufenthaltes in der Stadt Ayutla besuchte die Delegation diese fünf Gefangenen. Für vier von ihnen war da bereits die Freilassung anvisiert, da ihre vollständige Unschuld nachgewiesen wurde.[fn]Gegen die bevorstehende Freilassung legte ein Vertreter der Bundesstaatsanwaltschaft in letzter Minute Berufung ein. Dies bedeutet mindestens zwei weitere Monate Haft für die Betroffenen. Die Menschenrechtskoordination Mexiko ist von ihrem Partner, dem Menschenrechtszentrum Tlachinollan, gebeten worden, in dieser Angelegenheit tätig zu werden.[/fn] Die Ehefrauen der Männer berichteten uns über eine ständige Atmosphäre der Angst und Bedrohungen und eine ständige Beobachtung ihrer Aktivitäten. Dieses Gefühl, ständig beobachtet zu werden, hatten wir übrigens dort auch. Die Frauen gehen nie ohne Begleitung aus dem Haus. Diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit führt auch zu ökonomischen Problemen. Die Menschenrechtskoordination will den Fall weiterhin aufmerksam verfolgen.
In Oaxaca informierten wir uns im Dorf Santiago Xanica über die Verletzung des indigenen Wahlgewohnheitsrechtes sowie über Beschwerden der Bewohner bezüglich der unrechtmäßigen Festnahme eines Dorfmitgliedes, das seit fast vier Jahren ohne Verurteilung in Haft sitzt. Auch der negative Einfluss von Tourismusprojekten auf die Lebensgewohnheiten der indigenen Gemeinden kam zur Sprache. Ein anderes Thema war der jahrelange Widerstand in Capulalpam de Méndez in der Sierra Norte gegen eine Gold- und Silbermine. Mehrfach sprachen wir mit Organisationen über willkürliche Festnahmen von Mitgliedern sozialer Bewegungen. Unter anderem im Kontext der Erhebung der Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) gegen den Gouverneur. Nicht nur in Oaxaca, sondern auch in den anderen von uns besuchten Bundesstaaten wurde immer wieder die Kriminalisierung sozialer Bewegungen zur Sprache gebracht.
In einer Presseerklärung kommt die Delegation dennoch zu dem Schluss, dass positive Schritte in der Entwicklung des mexikanischen Rechtswesens zu verzeichnen sind. Woran macht ihr das fest?
Das ist sicher relativ und eine schwierige Frage. Es gibt Initiativen zur Modernisierung des Justizwesens, auch Versuche zur Sensibilisierung und Fortbildung der Justizangehörigen im Bereich der Menschenrechte. Wir informierten uns darüber beim Gerichtshof in Chilpancingo, der Hauptstadt von Guerrero. Aber diese Initiativen können auch mehr Bürokratie statt effektives Handeln bedeuten, wenn der Umsetzungswille fehlt. In Chiapas bekam die Delegation häufig zu hören, dass die Menschen sich kaum an Gerichte wenden, weil sie absolut kein Vertrauen in sie haben. Sie fürchten sich vielmehr davor, dort selbst vom Kläger zum Angeklagten zu werden, wenn sie die Justiz um Hilfe ersuchen.
Dieser Delegationsbesuch hatte nach euren Schilderungen eher einen Informations- und Austauschcharakter. Welche konkrete Bedeutung ergibt sich aus ihm für die weitere Arbeit der Menschenrechtskoordination?
Wir werden eine Dokumentation über alle Besuche und Gespräche erstellen. Die Veröffentlichung ist für Anfang 2009 vorgesehen. Sie soll unter anderem die Lobbyarbeit gegenüber ParlamentarierInnen in der EU und im Bundestag unterstützen. Am 13. Februar 2009 wird die mexikanische Regierung vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf ihren Staatenbericht zur Menschenrechtslage präsentieren. Die mexikanischen NRO haben dazu bereits die Gelegenheit genutzt, ihre Schilderung der Situation in so genannten Schattenberichten bei der UNO einzureichen. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass die offizielle Perspektive vor dem UN-Menschenrechtsrat und der deutschen Öffentlichkeit hinterfragt wird.