Knapp zwei Jahre nach dem Triumph bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen spürt die uruguayische Rechtsregierung erstmals heftigen Gegenwind. Entsprechend einsilbig fielen die ersten Kommentare von offizieller Seite angesichts der erfolgreichen Referendumsinitiative aus. Dabei hätte sie gewarnt sein müssen. Eine solide parlamentarische Mehrheit reicht in Uruguay nicht immer aus, um „durchregieren“ zu können. Die Verfassung des Landes enthält zwei machtvolle Instrumente der direkten Demokratie – das Referendum und das Plebiszit –, die der Bevölkerung erlauben, in den Gesetzgebungsprozess einzugreifen. Mittels Plebiszit ist es möglich, eigene Gesetzesvorhaben am Parlament vorbei durchzusetzen. Über ein Referendum können bestehende Gesetze annulliert werden. Auch der Vater des aktuellen Präsidenten Lacalle Pou, Luis Alberto Lacalle Herrera, der Anfang der 90er-Jahre Staatschef war, musste seine Privatisierungspläne rückgängig machen, nachdem die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum dagegen votiert hatte.
So mächtig diese Instrumente der direkten Demokratie sind, so hoch sind auch die Hürden, um auf sie zugreifen zu können. Um ein Referendum anzuberaumen, bedarf es der Unterschriften von einem Viertel der Wahlberechtigten (momentan rund 675 000 Personen), die spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten der kritisierten Gesetze bei der Wahlbehörde zur Überprüfung eingereicht werden müssen. Eine Vorgabe, an denen die meisten Initiativen in der Vergangenheit scheiterten. Für viele grenzte es daher an ein kleines Wunder, als am 7. Juli, ein Tag vor Ablauf der Frist, der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT Fernando Pereira in einer Pressekonferenz erklärte, dass das Quorum deutlich überschritten worden sei. Trotzdem wurden auch am letzten Tag weitere Unterschriften gesammelt, um ein möglichst großes „Polster“ zu schaffen, da erfahrungsgemäß ein bestimmter Prozentsatz der Unterschriften wegen unklarer, fehlerhafter oder fehlender Angaben von der Wahlbehörde nicht akzeptiert wird. Angesichts eines Überschusses von mehr als 100 000 Unterschriften zweifelt indes niemand mehr an dem Erfolg.
Dabei hatte es noch Mitte Juni so ausgesehen, als würde das Quorum verfehlt werden. Das Bündnis, das die Unterschriftenkampagne initiierte – neben der PIT-CNT umfasste es unter anderem die Wohnungsbaugenossenschaft FUCVAM und den Zusammenschluss „Intersocial Feminista“ –, hatte von Beginn an erhebliche Schwierigkeiten, die Bevölkerung für das Referendum zu mobilisieren. Zunächst lag das am Gegenstand selbst. In der Vergangenheit wandten sich ähnliche Initiativen gegen explizitere, leicht greifbare Vorhaben der Regierenden: gegen Privatisierungen, gegen die Straffreiheit von Verbrechen der Diktatur und so weiter. Jetzt ging es jedoch gegen ein komplexes Gesetzespaket, das in seiner Gesamtheit kaum jemandem bekannt war.
Das Paket war kurz nach dem Regierungswechsel im Schnelldurchgang durch das Parlament gebracht worden. Die Regierung bediente sich dabei einer Ausnahmeregelung, die es erlaubt, zu Beginn einer Legislaturperiode dringende Gesetzesvorhaben in einem beschleunigten Verfahren zu verabschieden. Auch in der Vergangenheit war dieser Mechanismus des Ley de Urgente Consideración (kurz: LUC) angewendet worden, allerdings nur in wenigen, zumeist gut begründeten Sonderfällen. Schließlich bedeutet es nicht nur eine Einschränkung der Oppositionsrechte im Gesetzgebungsprozess, vor allem verhindert der enge Zeitrahmen, dass sich vor der Verabschiedung der Gesetze eine breite, öffentliche Debatte entwickeln kann. Es war ein Novum in der Geschichte Uruguays, dass die Regierung im letzten Jahr diesen Hebel benutzte, um ein umfassendes Gesetzespaket verabschieden zu lassen, das mit über 400 Einzelgesetzen grundlegende Veränderungen in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens vorantrieb.
Die Konsequenzen der neuen Paragraphen lassen sich am deutlichsten im Bereich der Sicherheitspolitik illustrieren. So sehen die neuen Gesetze höhere Mindeststrafen für eine Vielzahl von Delikten vor, bei gleichzeitiger Beschränkung einer vorzeitigen Entlassung aus den Strafanstalten. Darüber hinaus wurden sowohl neue Straftatbestände, beispielsweise im Bereich des sogenannten „Widerstands“ gegen die Sicherheitsorgane, definiert als auch die Befugnisse der Polizei ausgeweitet: um unter anderem gewalttätig gegen soziale Proteste vorzugehen, Personen „verdachtsunabhängig“ zu kontrollieren und Obdachlose aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Auch die Ausweitung des Begriffs der „Notwehr“ ist besorgniserregend. Während dieser bislang auf die unmittelbare Bedrohung von Leben und Gesundheit beschränkt blieb, reicht es nun zur Legitimierung von Gewaltanwendung aus, dass – so wörtlich – „seltsame Personen“ in ein Grundstück oder Gebäude eindringen. Dass dabei explizit auch Gewerberäume und -flächen mit einbezogen werden, nährt den Verdacht, dass hier der „Schutz des Eigentums“ über den „Schutz des Lebens“ gestellt wird. Kaum minder problematisch dürfte ein Gesetz sein, das pensionierten Angehörigen der Sicherheitsorgane nicht nur das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit erlaubt, sondern sie rechtlich den aktiven Polizeikräften gleichstellt, falls sie im Rahmen einer mutmaßlichen Verbrechensbekämpfung davon Gebrauch machen.
Aber auch jenseits der Sicherheitsgesetze beinhaltet das LUC eine Vielzahl von kritikwürdigen Vorgaben, die in vielen Bereichen mit tendenziell progressiven Rechtsauffassungen brechen. Exemplarisch seien die neuen Paragraphen erwähnt, die Zwangsräumungen erleichtern (angesichts der mit der Pandemie einhergehenden sozialen Krise ein hochaktuelles Thema), sowie Gesetze zur Einschränkung des Streik- und Demonstrationsrechts, die Aufweichung der Schulpflicht, die Annullierung der Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten im öffentlichen Bildungssektor, das Zurückfahren der Maßnahmen gegen Geldwäsche, Änderungen bei der Förderung kleinbäuerlicher Existenzgründungen und Vorgaben, die die Position öffentlicher Unternehmen gegenüber der privaten Konkurrenz schwächen.
Das ursprüngliche Vorhaben der Referendumsinitiative, alle Paragraphen des LUC zur Abstimmung stellen zu lassen, musste bald aufgegeben werden – auf Druck des wichtigsten politischen Bündnispartners, der oppositionellen Frente Amplio. Diese hatte sich selbst in ein strategisches Dilemma gebracht. Einerseits kritisierte sie zwar, dass die Regierung das Gesetzespaket im Eilverfahren behandeln ließ, andererseits beteiligte sie sich schlussendlich doch am Gesetzgebungsverfahren und stimmte vielen, in ihren Augen unumstrittenen, Gesetzen auch zu. Danach ein Referendum zu fordern, das sich auch gegen Gesetze richten würde, die sie selbst abgenickt hatte, wäre der eigenen Klientel kaum vermittelbar gewesen. Gleichzeitig war allen Beteiligten klar, dass die Referendumsforderung ohne die Unterstützung der Frente Amplio, oder gar gegen sie, keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
In monatelangen Verhandlungen wurde ein Kompromiss gesucht. Erschwert wurde diese Suche dadurch, dass in der Frente Amplio ein Referendum nicht die oberste Priorität hatte. Der Schock der Wahlniederlage saß noch tief, und interne Flügelkämpfe beschränkten ihre Verhandlungsmöglichkeiten. Daher dauerte es bis Ende letzten Jahres, bis eine Einigung zustande kam. Nicht das gesamte LUC sollte per Referendum in Frage gestellt werden, sondern nur 135 Einzelgesetze. Der Slogan „Nein zum LUC“ blieb zwar als halbwegs griffige Losung erhalten, tatsächlich richtete er sich nur noch gegen ein knappes Drittel der neuen Vorgaben. So groß die Erleichterung über die Übereinkunft war, so problematisch waren die unmittelbaren Konsequenzen. Bis sich die Frente Amplio auf eine Unterstützung der Initiative einigen konnte, war bereits fast die Hälfte der Frist zum Sammeln der notwendigen Unterschriften verstrichen. Ferner wollten einige Gruppen, die sich dem Referendumsbündnis angeschlossen hatten, den Kompromiss nicht mittragen und starteten ihrerseits eine Referendumsinitiative gegen das gesamte LUC. Auch wenn sie letztendlich nur rund 25000 Unterschriften für ihren Vorschlag sammeln konnten, sorgte die Existenz von zwei unabhängigen Referendumsvorschlägen zumindest anfangs für beträchtliche Verwirrung.
Hinzu kam, dass nicht alle in der Frente Amplio bereit waren, die Kampagne aktiv zu unterstützen. Bekannt wurde die Aussage von Yamandú Orsi, dem Vorsitzenden der Regionalregierung von Canelones, gleichzeitig einer der wichtigsten Köpfe der Frente. Er ließ die Öffentlichkeit wissen, dass er sich nicht an der Unterschriftensammlung beteiligen werde, da er als Intendente (Vorsitzender s.o oder auch Bürgermeister)„Wichtigeres zu tun“ habe. Zwar musste Orsi nach heftiger Kritik zurückrudern, doch änderte dies nichts an der Tatsache, dass es vornehmlich die Basiskomitees der Frente Amplio waren, die aktiv für das Referendum warben, während sich die Parteiprominenz, abgesehen von einigen Ausnahmen im linken Flügel, lange Zeit bedeckt hielt.
Anfang April schien es tatsächlich so, als sei die Referendumsinitiative gescheitert. War bis dahin Uruguay noch relativ unbeschadet durch die Coronapandemie gekommen, explodierten jetzt die Infektionszahlen. Das Land war einige Wochen lang einer der schlimmsten Hotspots des Infektionsgeschehens weltweit. Angesichts eines strikten Verbots von öffentlichen Versammlungen war an eine normale Unterschriftenkampagne nicht zu denken. Gruppen, die von Tür zu Tür zogen, setzten sich einem erhöhten Risiko aus. Unter Verweis auf die sanitäre und rechtliche Situation beantragte das Referendumsbündnis eine Verlängerung der Frist für die Unterschriftensammlung. Dies wurde von der Regierung brüsk zurückgewiesen, mit durchaus hämischen Untertönen.
Neben der Entspannung der Coronalage dürfte gerade diese Arroganz einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Kampagne ab Mitte Juni einen immensen Schub bekam. Die Überheblichkeit drückte sich nicht nur in der Ablehnung der Fristverlängerung aus, sondern begleitete die gesamte Kampagne. Die Regierung (und nahezu alle dem rechten Lager zugewandten Privatmedien) folgten dabei dem Karl Valentin‘schen Motto: „Nicht einmal ignorieren“. Die Kampagne gegen das LUC sollte möglichst keine öffentliche Erwähnung finden. Der konservative Senator Jorge Gandini formulierte indes im Nachhinein Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Strategie, da sie der Frente Amplio und der PIT-CNT argumentativ „das Feld überlassen“ hatte und deren Standpunkte unwidersprochen blieben. Zusätzlich entwickelte sich partiell auch in den eigenen Reihen Kritik an der als arrogant empfundenen Haltung. Ende Juni riefen einige lokalpolitisch engagierte Personen aus dem rechten Lager zur Unterstützung der Referendumskampagne auf. Dabei stellten sie zwar explizit nicht das LUC an sich in Frage, sahen jedoch in einem Referendum die einzig verbliebene Möglichkeit, um eine breite, für die demokratische Kultur unerlässliche Debatte über das Gesetzespaket einzufordern. Auch wenn ihre Position äußerst minoritär innerhalb der Koalitionsparteien blieb, war sie doch ein symbolisch wichtiger Bruch.
Die verbesserte sanitäre Situation bewirkte zudem, dass andere, vor allem soziale Themen wieder präsenter wurden, und somit auch die Defizite der Regierung in diesem Bereich. Erstmals seit fast 20 Jahren leidet ein großer Teil der Beschäftigten im Moment unter Reallohnverlusten, und die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben müssen, hat sich um über 100 000 erhöht. Gleichzeitig gilt Uruguay als der Staat in Südamerika, der, gemessen an der Wirtschaftsleistung, am wenigsten Mittel für die Bekämpfung der sozialen Folgen der Pandemie ausgegeben hat. Zudem brach die Regierung mit einem ihrer zentralen Wahlversprechen und erhöhte mehrmals die öffentlichen Tarife. Vor allem die staatlich festgelegten Preise für Benzin und Gas (letzteres ist in Uruguay essentiell für das Kochen und Heizen) stiegen in einem weit über die allgemeine Teuerungsrate hinausgehenden Maß. Zwar stehen diese Defizite in der Regel nicht unmittelbar mit dem LUC in Zusammenhang, doch die Referendumsinitiative bot wohl vielen ein Ventil, um ihrem Unmut über die soziale Situation und das Handeln der Regierung Ausdruck zu verleihen.
Im Moment ist es noch nicht absehbar, wann das Referendum abgehalten wird. Theoretisch hat die Wahlbehörde bis zu 150 Tage Zeit, um die Dokumente zu prüfen. Sollte sie das Erreichen des Quorums bestätigen – woran niemand zweifelt –, muss danach innerhalb von 120 Tagen die Abstimmung stattfinden. Bei Ausschöpfung aller Fristen läge der Termin Ende März 2022. Im schnellsten Fall könnte der Urnengang noch vor Jahresende anberaumt werden. Ebenso lässt sich noch kein Wahlausgang prognostizieren. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Zahlen der Referendumskampagne gab es zwar ein paar „Blitzumfragen“ zum möglichen Ergebnis der Abstimmung, mit leichten Vorteilen für das Regierungslager. Für Óscar Bottinelli, einen der angesehensten Politologen und Meinungsforscher des Landes, ist es indes momentan unmöglich, eine aussagekräftige Prognose zu erstellen. Seiner Erfahrung nach hänge der Ausgang des Referendums nicht allein von der individuellen Position zum LUC, sondern ebenso von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Stimmungen ab. Diese schon seriös vorherzusagen, sei aber nicht leistbar.
Trotz dieses unklaren Panoramas weiß das Referendumsbündnis das Momentum auf seiner Seite. Schließlich zwingt es dem Regierungslager eine Diskussion auf, die dieses unbedingt verhindern wollte. Das unerwartet gute Ergebnis der Kampagne belegt zudem, dass die Kritik am LUC und dem Handeln der Regierung eine breite gesellschaftliche Basis hat, und nährt so den Optimismus, dass dem „kleinen Wunder“ im Juli in einigen Monaten ein großes folgen könnte.