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Ein Leben in zwei Kulturen

Mariana Frenk-Westheim (Mexico) zum 100. Geburtstag

Zweifellos nimmt die literarische Übersetzerin, Schriftstellerin und Kunstsachverständige Mariana Frenk-Westheim mit diesen Feststellungen auch auf ihr eigenes Leben und Lebenswerk Bezug, in welchem es ihr gelang und immer noch gelingt, Mittlerin der mexicanischen und deutschen Kultur zu sein. Die Emigration begreift Mariana Frenk-Westheim auch dann als Chance, wenn – wie in ihrem Fall – das Verhältnis zum Herkunftsland belastet ist.
Mariana Frenk-Westheim wurde 1898 als Marianne Freund in Hamburg als jüngstes von vier Geschwistern einer deutsch-jüdischen Familie geboren. Ihr Vater betrieb in der kosmopolitischen Hafenstadt, „in der zu jener Zeit der Antisemitismus weniger aggressiv als in anderen deutschen Städten war“, ein Speditionsgeschäft. Zu jüdischen Traditionen hatten die Eltern ein eher lockeres Verhältnis. Durch die Zeichnung von Kriegsanleihen im 1. Weltkrieg verlor die Familie Freund den größten Teil ihres Vermögens. Marianne, die sich schon während ihrer Schulzeit für Literatur begeistert hatte, belegte nach ihrem Abitur als Gasthörerin an der Universität Kurse in Romanistik. Zeit für ein reguläres Studium hatte sie nicht, da sie für den Familienunterhalt mitarbeiten mußte. In dieser Zeit lernte sie ihren späteren Ehemann, den deutsch-jüdischen Arzt Ernst Frenk kennen. 1923 wird ihr Sohn Silvester und 1925 ihre Tochter Margit geboren. Aus beruflichen Gründen, aber auch aufgrund der zunehmenden antisemitischen Atmosphäre beschlossen Marianne und Ernst Frenk auszuwandern. Im Gegensatz zu den späteren jüdischen Flüchtlingen konnten sie sich Ende der zwanziger Jahre „mit ziemlicher Gemütsruhe“ ein Land aussuchen, in dem Ernst Frenk sofort praktizieren konnte und in welchem Spanisch gesprochen wurde.
So fiel ihre Wahl auf Mexico, wo sie im Frühjahr 1930 nach einer mehrwöchigen Schiffsreise über den Atlantik in der Hafenstadt Veracruz ankamen. „Vom ersten Augenblick an haben wir uns alle in Mexico verliebt“, sagt Mariana. Die Freiheit und die menschliche Solidarität habe sie tief beeindruckt.
In Mexico-Stadt konnte Ernst Frenk bald eine Praxis eröffnen. Viele seiner neuen PatientInnen gehörten der sogenannten deutschen Kolonie an, die ca. 6000 Personen umfaßte, welche seit dem letzten Jahrhundert einzeln oder in kleinen Gruppen nach Mexico emigriert waren.
Die Kinder wurden in die 1930 noch liberale und fortschrittliche deutsche Schule geschickt. Mariana sang in einem deutschen Chor mit, fand aber auch schnell durch ihr kulturelles Interesse am neuen Land FreundInnen und Bekannte unter den MexicanerInnen.

Die freiwillige Gleichschaltung der deutschen Kolonie

Nach 1933 änderte sich das Klima unter den Auslandsdeutschen. Viele der Deutschen leisteten der Forderung Hitlers „Jeder Auslandsdeutsche hat ein Nationalsozialist zu sein“ bereitwillig Folge. Von einem Tag auf den anderen verlor Ernst Frenk fast alle seine deutschen nichtjüdischen PatientInnen. Um einem Ausschluß zuvorzukommen, traten Mariana und zwei weitere jüdische Frauen, darunter die Chorleiterin, aus dem Chor aus. In der deutschen Schule wurden jüdische Kinder durch neue Verordnungen schikaniert und diskriminiert. Den liberalen Direktor rief man nach Deutschland zurück und ersetzte ihn durch einen Nachfolger mit NS-Gesinnung. Noch heute empört Mariana die Bereitwilligkeit, mit der die meisten Deutschen dem staatlich verordneten Antisemitismus nachkamen. Man hätte sich als Deutsche/r ohne Gefährdung von Leben und Gesundheit leicht der NSDAP wiedersetzen können, meint sie. Der Eintritt im fernen Mexico in diese Partei sei „rein aus Luxus erfolgt“.
1935 wurde Mariana und Ernst Frenk die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, womit sie, wie Mariana sagt, im nachhinein von Auswanderern zu Exilierten wurden, denn sie hätten ja nicht zurückgekonnt, wenn sie gewollt hätten. Der Zustand der Staatenlosigkeit dauerte jedoch nicht lange. 1936 bekamen Mariana und Ernst Frenk die mexicanische Staatsangehörigkeit verliehen.
Vereinzelt kamen in jenen Jahren die ersten europäischen Flüchtlinge ins nachrevolutionäre Mexico, das sich damals unter dem 1934 zum Präsidenten gewählten Lázaro Cárdenas in einer politischen Aufbruchstimmung befand und einen spezifisch mexicanischen Sozialismus zu entwickeln suchte. 1935 kam Otto Rühle, radikaler deutscher Rätedemokrat und profilierter sozialistischer Pädagoge, aus seinem Prager Exil nach Mexico, ein halbes Jahr später folgte ihm seine Frau Alice Rühle-Gerstel, bekannte Psychoanalytikerin und Frauenrechtlerin in der Weimarer Republik. 1937 fand auf Vermittlung des mexicanischen Malers Diego Rivera Leo Trotzki auf der Flucht vor seinem Todfeind Stalin ebenfalls in Mexico Asyl. Nach der Niederlage der Spanischen Republik und nach Beginn des zweiten Weltkriegs bemühte sich Mexico aktiv um die Aufnahme europäischer antifaschistischer Flüchtlinge. So gewährte zwischen 1939 und 1942 die mexicanische Regierung u.a. ca. 2000 deutschsprachigen antinationalsozialistischen EmigrantInnen Asyl, unter denen sich eine große Anzahl bekannter KommunistInnen befand, die in ihrer Mehrheit bedingungslose AnhängerInnen Stalins waren. Die politischen Grabenkämpfe unter den Hitlerflüchtlingen waren sehr tief. Mariana blieb durch ihren freundschaftlichen Umgang mit Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel, die wiederum mit Trotzki in Kontakt standen, davon nicht unberührt. „Die einzige Beziehung zwischen den Rühles und den Stalinisten war Haß, gegenseitiger Haß.“ „Wir waren aufgrund der Freundschaft mit den Rühles Trotzkisten, was insofern ein absoluter Blödsinn war, weil wir in erster Linie keine politischen Menschen waren.“
1942 lernte Mariana den kurz zuvor nach Mexico geflüchteten Kunstkritiker Paul Westheim kennen. Als Herausgeber des Berliner „Kunstblatts“ (1917-1933) galt Westheim den Nationalsozialisten als Verteidiger und Förderer der expressionistischen Kunst. Wie viele andere mußte auch er 1933 Deutschland verlassen. Im Exil wurde er zum profiliertesten Kritiker der nationalsozialistischen „Kunst“. Sofort nach seiner Ankunft in Mexico widmete er sich voller Enthusiasmus der alten und zeitgenössischen Kunst seines neuen Gastlandes. Mariana, die seine Liebe zur altmexicanischen Kultur teilte, war von seinen Arbeiten begeistert. Sie wendete sich in den nachfolgenden Jahren voller Begeisterung der Übersetzung seiner Bücher, Artikel und Vorträge zu. Dabei war sie jedoch mehr als die Übersetzerin Westheims. Westheim, der zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Mexico schon 55 Jahre zählte, sei nicht sehr sprachbegabt gewesen, sagt sie. Daher habe er nicht direkt und nur sehr schwer in Kontakt und Austausch zu KünstlerInnen und Intellektuellen in Mexico treten können.  Mariana wurde so zu seiner wichtigste Gesprächspartnerin über Kunst. Nach dem Tod von Ernst Frenk heirateten Mariana Frenk und Paul Westheim.
Im Gegensatz zu der Mehrheit der deutschen KommunistInnen hat Mariana „niemals… nie von ferne“ daran gedacht, nach Deutschland zurückzukehren. Mit Deutschland habe sie schon als Mädchen keinen großen Zusammenhang gehabt. Doch mit ihrer Geburtsstadt Hamburg habe sie Verbindung und mit der deutschen Literatur natürlich, die sie ja geprägt habe. Noch heute verspüre sie manchmal ein wenig Heimweh nach Hamburg. Mit ihren Kindern spricht Mariana Deutsch, untereinander aber sprechen diese Spanisch.

Übersetzerin und Kulturvermittlerin

„Gearbeitet habe ich eigentlich immer“, sagt Mariana rückblickend, nicht ohne dabei ihre langjährige Hausangestellte Carmen zu erwähnen, die ihr den Freiraum dazu verschafft habe. In den dreißiger Jahren unterrichtete sie die nach ihr eingetroffenen EmigrantInnen in Spanisch. Später übersetzte sie neun Jahre lang für das „Politécnico“ Fachtexte aus dem Französischen, Englischen und Deutschen ins Spanische. Seit ihrer Begegnung mit Westheim, der Zeit seines Lebens ausschließlich auf deutsch schrieb, machte sie dem mexicanischen Publikum sein umfangreiches Werk zugänglich. Das deutsche Publikum machte sie hingegen mit dem bedeutenden mexicanischen Schriftsteller Juan Rulfo bekannt, dessen Gesamtwerk sie vom Spanischen ins Deutsche übertrug. Außer den Übersetzungsarbeiten übte sie auch Lehrtätigkeiten aus, u.a. dozierte sie lange Jahre an der mexicanischen Nationaluniversität (UNAM) über deutsche Literatur. 1972, als Mariana immerhin schon 74 Jahre zählte, schloß sich eine weitere Tätigkeit an. Der Direktor des renomierten „Museo de Arte Moderno“, Fernando Gamboa, stellte sie als seine enge Mitarbeiterin ein. Erst 15 Jahre später nach dem Weggang von Gamboa gab sie diese Arbeit auf. Ihre schöpferische Arbeit setzt(e) Mariana auch im hohen Alter fort.
Ende 1992 erschien ihr erstes eigenes Buch in Mexico, welches den Titel „Y mil aventuras“ trägt und erst vor einigen Monaten in einer erweiterten Faßung neu aufgelegt wurde. Das schmale, aber vielbeachtete Buch enthält Erzählungen, kurze Texte, die ernst oder auch phantastisch sind, und Aphorismen. Insbesondere in den Aphorismen tritt die Autorin ihren LeserInnen als Person am deutlichsten gegenüber und verlangt ihnen die geistige Auseinandersetzung ab. Ihre Aphorismen zeugen von humanistischer Gesinnung, von Liebe zu den Menschen und der Weisheit eines langen Lebens. Sie behandelt tiefgehend und leicht zugleich alle Lebensbereiche und -phasen und rät ihren LeserInnen, diese neugierig und abenteuerlustig zu ergründen.
Trotz ungebrochener schöpferischer Kraft haben die Jahre ihren Tribut von Mariana gefordert. Sie leidet unter Osteoporose, was bedeutet, daß sie sich nur noch sehr vorsichtig bewegen kann. Auch hat sie in den letzten Jahren große Teile ihrer Sehkraft eingebüßt. Dennoch hat sie mit viel Spaß und Witz ein neues Büchlein mit Kinderreimen geschrieben, das hoffentlich bald in Deutschland verlegt wird.
Ihren vielen BesucherInnen widmet sie ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Mariana ist eine äußerst konzentrierte, hellwache und scharfsinnige Gesprächspartnerin. Fragen nach ihrer Identität steht sie ein wenig ablehnend gegenüber: „Das ist ja die große Mode, die Identitätssuche. Und das hat mal jemand erfunden, und ich glaube, daß es wirklich eine Modeangelegenheit ist. Jeder anständige Mensch hat Identitätskonflikte. Wenn nicht, ist er kein denkender oder kein anständiger Mensch. … Ich habe in meinem ganzen Leben keine Identitätskonflikte gehabt. Ich bin eine Frau auf der Erde und unter dem Himmel. Das ist meine Identität.“
Aber etwas anderes ist Mariana wichtig zu erwähnen, einen Leitsatz ihrer Mutter, der als guter Stern über ihren Leben gestanden und ihr oft in schwierigen Situationen geholfen habe: „Als du geboren wurdest, blühten im Vorgarten die Azaleen und die Rhododendren und im Hintergarten der Flieder und der Goldregen.“

Einen Nachruf zu Mariana Frenk-Westheim siehe ila 278.

Ein Leben in zwei Kulturen – ilawordpress