Ernesto Richter ist tot. Unser Freund, Lehrer, Arbeitskollege und politischer Mitstreiter ist am 21. November 2005 völlig unerwartet und viel zu früh in San Salvador einem Herzversagen erlegen. Es ist mit ihm einer der unseren gegangen, der in sich viele der Hoffnungen, Kämpfe, Widersprüche und Beiträge unserer Generation verkörpert hat. Zusammen mit seinem Sohn Thomas und seiner Frau Cordelia trauern wir um ihn.
Ernesto kam 1943 in El Salvador als Sohn eines deutschen Vaters und einer deutschstämmigen Mutter auf die Welt. Was nicht nur deswegen von Bedeutung ist, weil das „Anderssein“ im Elternhaus durchaus kultiviert wurde. Diese elitäre Abschottung gegenüber den Salvadorianern, den „guanacos“ – erzählte er – habe ihn auf dieses Volk „außerhalb“, das zugleich das „seine“ war, früh und gerade drum neugierig gemacht. So war es vor diesem Hintergrund z.B. selbstverständlich, dass er in Deutschland studierte. Aber studiert hat er Ethnologie, Soziologie und Urgeschichte. Promoviert hat er 1971 über die prähispanische und heute noch lebendige Kultur des Lenca-Volkes in El Salvador und Honduras.
Seine Zugehörigkeit zu zwei Welten führte aber auch dazu, dass er sich als „struktureller Ausländer“ fühlte, dem es nicht leicht fiel, in einem der Vater/Mutterländer wirklich Wurzeln zu schlagen. Andererseits war er gerade deswegen in der Lage, aus wohlwollender Distanz „Inländer“ auf ihren bornierten Blickwinkel hinzuweisen, blind gebliebene Seiten des Soseins mit Witz und Ironie zu beleuchten, unverhoffte Optionen aufzuzeigen. Seine doppelte Zugehörigkeit machte ihn auch zum Pendler: Nach dem Studium arbeitete er bis 1982 als Dozent und Forscher in Costa Rica und Mexiko. Zwischen 1983 und 1990 war er wieder in Deutschland, tätig unter anderem für die Universität Hannover, das Hamburger Institut für Sozialforschung und die Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung (heute InWEnt). In dieser Zeit entstand das mit Klaus Meschkat, Volker Wünderich und anderen herausgegebene Buch zur „Mosquitia, die andere Hälfte Nicaraguas“. Seit 1999 lebte er wieder in El Salvador.
Nach Costa Rica hatten ihn Mitte der 70er Jahre Edelberto Torres Rivas und Rafael Menjivar geholt. Dort gehörte er zum internationalen Dozententeam des Dachverbands der mittelamerikanischen Universitäten, ein Team, zu dem auch viele lateinamerikanische Intellektuelle im Exil zählten, unter ihnen – um nur einen hier bekannten Namen zu nennen – Franz Hinkelammert. Unter den StudentInnen waren fast alle mit- und gegeneinander kämpfenden Befreiungsorganisationen der geschichtsträchtigen 70er Jahre vertreten. Dort lernte ich Ernesto 1974 als sein Student kennen. Wir stritten gleich bei der ersten Begegnung, denn er wollte uns die dialektische Methode beibringen und ich behauptete stur, man könne diese nicht von ihrem Stoff, der Kritik des Kapitalismus, absondern. Eine Delegation von Mitstudierenden hat sich anschließend bei ihm, dem ebenfalls 68er, für mein aufmüpfiges Verhalten entschuldigt. So entstand eine langjährige, mich in jeder Hinsicht bereichernde Freundschaft.
Als linker Intellektueller wurde Ernesto damals von vielen der Organisationen umworben, die gegen die salvadorianische Diktatur kämpften. Etliche seiner damaligen Studenten sind im Kampf gegen oder als Opfer von Repression gefallen, andere gehören inzwischen zur intellektuellen oder politischen „Elite“ Mittelamerikas. Eine Zeit lang haben wir als „organische Intellektuelle“ bei einer nicht nur salvadorianisch, sondern mittelamerikanisch denkenden Guerrilla-Organisation mitgemacht, denn er war ein Verfechter des regionalen Zusammenwachsens. Vor einer parteipolitischen Vereinnahmung bewahrt hat ihn jedoch – vermute ich – sein gutes Gespür für die schnell in Manipulation umkippende Disziplin- und Aufopferungsrhetorik von undemokratischen Parteistrukturen.
Ernesto war ein Mensch, der, wie viele Nachrufe und Reaktionen in Mittelamerika und Deutschland bezeugen, sehr viele Freunde hatte. Feinde machte er sich nur unfreiwillig. Vor allem unter jenen, die seine Fähigkeit fürchteten, jede Form von Dogmatismus lächerlich zu machen. Überhaupt war er für seinen Humor bekannt und geschätzt. Für seine Wortspiele, für seine Sinn ver- und entzerrenden Wortkreationen, für seine Situationskomik. Unvergessen bleibt einigen von uns jener Abend, als er das Licht ausknipste, ein Feuerzeug anzündete und ihm entweichende Gase zum Erstaunen – nicht nur der Minderjährigen – in eine verblüffende gelb-grün-blaue Feuerzunge mutieren ließ. Überhaupt ist Feuer ein ihn charakterisierender Begriff. Mit „Feuer und Flamme“, voll Leidenschaft und Tatendrang, ging er jedes neue Projekt an. An Ideen mangelte es ihm nie.
Zu seinen unerledigten Projekten gehörte – wieder als Verbindung beider Welten – ein in Zentralamerika angesiedeltes Zentrum für Europaforschung, für Geschichte der europäischen sozialen Bewegungen, das er vor 16 Jahren, also mitten im Getöse des Mauerfalls, mit deutschen und lateinamerikanischen Freunden konzipierte. Ein hervorragender Moderator wäre er in einem solchen Forschungszentrum gewesen, mit der ihm eigenen Art, Gedanken aufzunehmen, weiter zu entwickeln, zu widerlegen, Anekdotisches einzubauen, Querverbindungen herzustellen.
Querverbindungen. Denn auch intellektuell hat er sich zwischen vielen Welten bewegt. So verwandelte er sich vom Ethnologen und Soziologen innerhalb kürzester Zeit zu einem Pionier und führenden EDV-Spezialisten El Salvadors. Als eine parteilose ehemalige Soziologiestudentin Erziehungsministerin unter der Arena-Regierung wurde und ihn bat, über die Einführung von Computern die Modernisierung des Schulsystems voranzutreiben, nahm er das Angebot an. Eine mutige Entscheidung, denn er musste nicht nur mit Verratsunterstellungen fertig werden, sondern auch mit einer Bürokratie und Unternehmenstradition, die das eigene Land immer noch als Beute behandelt. So zum Beispiel, als er daran gehindert wurde, eine beachtliche Zahl von Computern mit einem saftigen Rabatt direkt beim Hersteller in den USA zu bestellen, und zusehen musste, wie sie stattdessen zu überhöhten Preisen bei einem einheimischen Importeur gekauft wurden. Nach diesem und ähnlichen Rückschlägen hatte er kurz vor seinem Tod beschlossen, sich wieder eine Auszeit für Reflexion in Deutschland oder in Spanien zu gönnen.
Aber auch die „Entwicklung“ der Linken erfüllte ihn oft und recht früh mit Unbehagen. Als 1984 die salvadorianische Opposition einen Vorschlag über die Bildung einer Übergangsregierung unterbreitete, schrieb er in der Zeitschrift Istmo: „Auf der Suche nach einer wirklichen Lösung des salvadorianischen Konfliktes sollten sich alle daran interessierten Kräfte den Unterschied zwischen Frieden und Befriedung stets vor Augen halten; sie werden sich sonst vorwerfen lassen müssen, das eigene Gewissen auf Kosten der Menschenwürde der großen Mehrheiten in El Salvador beruhigt zu haben.“ Heute muten diese Worte angesichts so mancher Entwicklung in El Salvador und Nicaragua durchaus als traurige Bestätigung eines zu ihm nicht so recht passenden Pessimismus an.
Mit Ernesto Richter haben wir einen Freund und politischen Weggefährten verloren. Er bleibt uns mit seinen Schriften, seinem konsequenten Engagement für die Unterdrückten, mit seinem Witz, seiner Integrität und Unbestechlichkeit in lebendiger Erinnerung.