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Ein organischer Intellektueller

Abschied von Javier Diez Canseco (1948-2013)

Javiers politische Tätigkeit begann während seiner Studienzeit Ende der 60er-Jahre, als er an den beiden wichtigsten Universitäten des Landes studierte, Jura an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos und Soziologie an der Pontificia Universidad Católica del Perú (PUCP). An letzterer wurde er 1970 Präsident der Federación de Estudiantes (FEPULC), was in etwa der Funktion eines AStA-Vorsitzenden in Deutschland entspricht.

In dieser Zeit war er in der sozialistischen Vanguardia Revolucionaria aktiv. Sein hochschulpolitisches Engagement entsprach durchaus der Familientradition. Ungewöhnlich war dagegen, dass er zur gleichen Zeit zusammen mit befreiungstheologisch orientierten Priestern Sozial- und Bewusstseinsarbeit in einem Elendsviertel von Lima leistete.
Als der linksreformistische Militärpräsident Juan Velazco Alvarado 1975 durch einen Putsch gestürzt und durch den rechten General Francisco Morales Bermúdez ersetzt wurde, wurde Javier nach Argentinien ausgewiesen. Von dort floh er nach dem Militärputsch im März 1976 nach Frankreich.

Als sich der Widerstand gegen die Militärregierung von Morales Bermúdez verstärkte und diese in die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung einwilligte, konnte Javier nach Peru zurückkehren und wurde für die Izquierda Unida (Vereinigte Linke) in dieses parlamentarische Gremium gewählt. Mit Ausnahme der Jahre 1992-1995, als Alberto Fujimori das Parlament aufgelöst und eine Diktatur errichtet hatte, und der Jahre 2006-2011 war Javier seit 1978 immer Abgeordneter, zunächst in der Verfassunggebenden Versammlung, danach dann im Kongress oder im Senat.

Er gehörte Ende der 70er-Jahre zu den Mitgründern der Partido Unificado Mariateguista (PUM), die einen peruanischen Sozialismus in der Tradition José Carlos Mariáteguis (1896-1930), des bedeutendsten marxistischen Denkers Perus und Lateinamerikas im frühen 20. Jahrhundert, anstrebte. Die Partei war sicherlich eine der politisch und intellektuell originellsten Organisationen der Neuen Linken in Lateinamerika, auch wenn sie schließlich an internen Widersprüchen zerbrach. Zahlreiche ehemalige AktivistInnen waren 2005 an der Neugründung der 1928 von Mariátegui gegründeten Partido Socialista del Perú beteiligt, Javier Diez Canseco war bis zu seinem Tod deren Präsident. Dabei hatte er so gar nichts von einem politischen Bürokraten, er blieb auch als Abgeordneter und Parteichef stets der linke Intellektuelle, der die Diskussion über politische Strategien und gesellschaftliche Konzepte führte und vorantrieb.

Zum Kampf für eine solidarische und sozialistische Gesellschaft gehörte für Javier neben seiner politischen und parlamentarischen Arbeit sein bedingungsloser Einsatz für die Menschenrechte. Anfang der 80er-Jahre gründete er zusammen mit Francisco („Pancho“) Soberón APRODEH, eine bis heute führende Menschenrechtsorganisation in Peru, die für die Prozessbegleitung und Verurteilung Fujimoris Erhebliches geleistet hat und dafür heftigsten Verleumdungen und Todesdrohungen gegen ihre Mitglieder ausgesetzt war. Mit ihr und mit der Bewegung zur Verteidigung der Menschenrechte insgesamt arbeitete Javier zeitlebens eng zusammen. In den letzten Jahren rückte für ihn zunehmend die Parteinahme für die wachsende Zahl von Bergbauprojekten Betroffener in den Vordergrund, deren Widerstand von Regierungsseite in Peru kriminalisiert wird, oft auch mit Todesfolge. Zuvor, während des schmutzigen Krieges der peruanischen Armee gegen die maoistische Guerillagruppe Sendero Luminoso und während der Fujimori-Diktatur, war Javier einer, der die Massaker der Armee ebenso anklagte wie den Terror von Sendero Luminoso. Letzterer bezeichnete ihn deshalb als Agent des Imperialismus und kündigte seine Liquidierung an. Umgekehrt war er für die Armee und die Regierungen von Alan García und Alberto Fujimori ein Subversiver. Dass er die 80er- und 90er-Jahre dennoch weitgehend unbeschadet überstand, hatte sicher damit zu tun, dass er ein Diez Canseco war, an den man sich nicht „rantraute“. Dieses Privileg und seine guten internationalen Kontakte hat er stets genutzt, um sich für die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzusetzen und um bedrohte Menschen oder Gruppen zu schützen. Wie unerschrocken er dabei bisweilen vorging, berichtete der legendäre Campesinoführer Hugo Blanco in seinem 2011 erschienenen Buch „Wir Indios“. Blanco war am 9. Februar 1989 in der Amazonasstadt Pucallpa verhaftet worden, nachdem die Polizei dort das Feuer auf eine Bauerndemonstration eröffnet hatte. Dabei waren acht Campesinos getötet worden, 18 blieben bis heute verschwunden. Hugo gehörte damals zur nationalen Führung der peruanischen Bauernförderation CCP, der die Polizei die Verantwortung für das Massaker in die Schuhe schieben wollte. Man brachte ihn nach Lima, wo er wegen Terrorismus vor Gericht gestellt werden sollte. Doch der dortige Ermittlungsrichter folgte dem allzu durchsichtigen Ansinnen der Polizeiführung nicht und lehnte es ab, einen Haftbefehl zu erlassen. Anstatt ihn freizulassen, wollte die Polizei ihn daraufhin zurück in die Amazonasregion bringen, wo sie sicher einen willfährigen Haftrichter gefunden hätte oder wo es ein Leichtes gewesen wäre, ihn „auf der Flucht“ zu erschießen. Entsprechend weigerte sich Blanco, in das Flugzeug zu steigen, das ihn nach Pucallpa bringen sollte. Was dann geschah, beschrieb er so: „Es kam am Flughafen zu einer hitzigen Auseinandersetzung mit der Polizei; um mich zu überwältigen, mussten sie vier Tiras (Geheimpolizisten) schicken, die mich an Armen und Beinen packten. Der Parlamentarier Javier Diez Canseco erschien und setzte sich auf mich. Ein Dutzend Polizisten versuchten, uns beide zu überwältigen, und bugsierten mich in ein Auto, das mich in die Nähe des Flugzeugs brachte. Der Chef des Flughafens kam hinzu und fragte mich, ob ich reisen wollte, und ich antwortete, nein und dass ich bereit wäre, den Piloten anzugreifen. Als er das hörte, verbot er, mich ins Flugzeug zu setzen, denn seine Aufgabe sei es, für die Sicherheit der Passagiere zu sorgen. Dann erfuhr ich, dass sich Javier zur gleichen Zeit vor das Fahrgestell des Flugzeugs gesetzt hatte.“ Hugo Blanco wurde an diesem Tage nicht deportiert. Als man es später dann doch tat, hatte bereits eine internationale Solidaritätskampagne eingesetzt, die schließlich seine Freilassung erreichte. Hugo war einer derjenigen, dem Javier durch sein beherztes Eingreifen vielleicht das Leben rettete. Er ist, mittlerweile über 80-jährig, in Cuzco noch immer für die CCP tätig.

Bei der Aufarbeitung des schmutzigen Kriegs und der Fujimori-Diktatur war es Javier, der Grundsatzarbeit auf den Weg und auch zu Ende brachte. 2001 wurde er Vizepräsident des Parlaments und Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftsdelikte. Javier stellte ein 24-köpfiges Team zusammen, das Unterschlagungen, Begünstigungen und kriminelle Privatisierungen unter der Fujimori-Regierung in Höhe von rund sechs Milliarden US-Dollar ans Licht brachte. Das Team arbeitete schnell. Als der frischgewählte Präsident Lula Anfang Januar 2003 in Brasilia seine Amtseinführung feierte, war unter den internationalen BesucherInnen selbstverständlich auch Javier. Im Gepäck hatte er bereits fertige CDs mit der kompletten Kriminalakte dabei. Spät am Abend, die Feier war vorbei, klopfte er noch mit einer CD an unser Hotelzimmer, „für Deutschland“, denn weltweite Unterstützung sei jetzt wichtig, um juristische Verfahren durchzusetzen, sagt er. Mehrere Minister und Vertraute Fujimoris wanderten tatsächlich ins Gefängnis, bevor es gelang, den Diktator selbst hinter Gitter(wenn auch luxuriöse) zu bringen.

Die immer bestechend gut dokumentierte Demontage von Verbrechen im weißen Kragen ließ korrupte Machtcliquen nicht müde werden, nach Wegen zu suchen, ihn aus dem Weg zu räumen. Nur so ist zu erklären, dass 2012 ausgerechnet Javier Diez Canseco, der immer energisch gegen Korrup­tion kämpfte, wegen angeblichen Versuchs illegaler Vorteilsnahme für drei Monate vom Parlament suspendiert wurde. Vor wenigen Wochen machte das Oberste Gericht Limas den getürkten Coup gegen Javier rückgängig. Zu spät für ihn, aber wichtig für seine Rehabilitierung, der hoffentlich noch eine Untersuchung der Drahtzieher folgen wird.

Eines unserer letzten Treffen war Anfang 2011 in einem Café in Lima. Dabei diskutierten wir über das von ihm propagierte und dann auch realisierte Bündnis weiter Teile der peruanischen Linken mit dem Nationalisten Ollanta Humala vor den Präsidentschaftswahlen. Wir sahen diese Allianz sehr skeptisch, Javier sah darin eine strategische Perspektive. Er meinte, natürlich würde Humala die Wahlen nicht gewinnen. Aber mit etwas Glück könne er die Stichwahl gegen einen der neoliberalen Kandidaten erreichen. Dann gäbe es endlich eine politische Debatte darüber, was für ein Peru die Leute wollten, eines, das sich weiter auf den Extraktivismus, also vor allem den von multinationalen Unternehmen betriebenen Bergbau, setze oder eines, in dem die Befriedigung der Grundbedürfnisse und ein gutes Leben für alle PeruanerInnen angestrebt würden. Er akzeptierte unsere Einwände gegen das Bündnis mit Humala, sah aber vor allem die politischen Möglichkeiten und Räume, die dieses eröffnen könne. Dass alles ganz anders kam, dass Humala plötzlich in der Stichwahl gegen die ultrarechte Keiko Fujimori stand und in einer Allianz mit Teilen der neoliberalen Eliten die Wahlen gewann, konnte sich damals niemand vorstellen.

Als Humala dann die neoliberale und extraktivistische Politik seiner Vorgänger mehr oder weniger bruchlos fortsetzte, war es für Javier völlig klar, dass er da nicht mitmachte und das Bündnis aufkündigte. Das führte bei Javier aber keineswegs zu seiner politischen Resignation, er und seine GenossInnen konzentrierten sich umgehend darauf, eine linke Allianz für die anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen aufzubauen.

Den Aufbau müssen nun andere weiterführen. Anfang Februar kam die Nachricht: Javier hat Krebs, der ihn sehr schnell ins Krankenbett zwang. Für den 6. März luden FreundInnen zu einem Encuentro por la Vida zu Ehren von Javier Diez Canseco in einen Hörsaal des Colegio Médico von Miraflores ein, um Javier moralisch zu unterstützen. Unverhofft kamen 2000 Menschen! Javier konnte bei dieser unvergleichlichen Solidaritätsbekundung selbst nicht mehr anwesend sein. Er bedankte sich in einer Zeitungskolumne.

Wenn man Javiers Arbeit auf einen Nenner bringen will, dann ist es der Kampf gegen jede Art von Diskriminierung. Nicht nur argumentativ oder agitatorisch. Als Parlamentarier hat er auch auf rechtlicher Ebene Beträchtliches geleistet. Von Anfang an. Als frischgewählter Abgeordneter der Verfassunggebenden Versammlung und Führer der Linken setzte er 1979 das Wahlrecht für AnalphabetInnen in der neuen Verfassung durch. Damit verschaffte er Menschen Zugang zu Bürgerrechten, die für die Eliten eine zu vernachlässigende Randgruppe waren, nicht aber zahlenmäßig. Im Laufe seines Parlamentarierlebens hat er immer wieder Antidiskriminierungsgesetze – im weitesten Sinne – auf den Weg gebracht. Gegen starken Widerstand ist ihm ein Gesetz zur Integration Behinderter in den Arbeitsmarkt und ein Gesetz für behindertengerechte Zugänge zu Gebäuden gelungen. Dass er selbst behindert war – er zog infolge einer Poliokrankheit in der Kindheit ein Bein nach – haben viele nie bemerkt, weil er so agil war. Gescheitert ist er mit allen Versuchen, die Diskriminierung wegen sexueller Orientierung unter Strafe zu stellen. Das ließ die erzkatholische Rechte Perus nie durchgehen. Noch die letzte seiner regelmäßigen Kolumnen in der Tageszeitung República unter dem bezeichnenden Titel Contracorriente (Gegenströmung) widmete Javier einer Diskriminierung: „Lasst uns für ein Ende der Diskriminierung in der Arbeitswelt kämpfen“, überschrieb er den Text, der seine Abschiedskolumne werden sollte, eine knappe Woche vor seinem Tod. Nancy Cano, eine immer solidarische peruanische Freundin in Brüssel, leitete sie an alle engen Bekannten weiter. „Ich spürte, es würde Javiers letzte Kolumne sein“, schrieb sie später. Javiers Vermächtnis darin ist, „gegen die schwerwiegende Schutzlosigkeit anzugehen, in der sich die Mehrheit der arbeitenden PeruanerInnen befindet: Zwei von drei arbeiten informell, ohne Vertrag, Rechte, Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz, ohne Sozialversicherung, Rente und zu einem Hungerlohn“. All das sei durch Sonderarbeitsgesetze in der Agro- und anderen Exportindustrien legalisiert. Dazu kämen die Sonderarbeitsregime aus Fujimorizeiten, die Arbeitslosenlisten verschlankten, Haushaltshilfen diskriminierten, öffentliche Angestellte von kollektiven Lohnverhandlungen ausnähmen usw. Javier ruft zur Mobilisierung auf, am 29. April. Er hat bis zum Schluss nicht aufgegeben. Nur wenige Tage später, am 4. Mai, starb er in Lima.

Antonio Gramsci bezeichnete Intellektuelle, die an der Seite der Kämpfe der verarmten Volksmassen stünden, und deren Gefühle und Erfahrungen artikulierten, als „organische Intellektuelle“. Ein solcher organischer Intellektueller war Javier, vielleicht der wichtigste in Peru. Seine Entschlossenheit, seine Diskussionsbeiträge und seine Zuversicht werden all denen, die für ein besseres und solidarischeres Peru kämpfen, schmerzlich fehlen. (Siehe auch ein ila-Interview mit Javier in ila 343)

Ein organischer Intellektueller – ilawordpress